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Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
^ Tunnnnntnirnir
Blätter für s 1947
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube
Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band
i Erstes und Zweites Heft
April — Juli 1941
HEIDEL BERG 1941
Verlag Carl Winters Universitätsb''uchhandlung
I. V. w. g.
CARL WINTERS UNTVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Verzeichnis der erschienenen Sonderhefte
Band:
Heft
47
S
Schwandner- v. Jagemann-Klein, Vor¬
schläge zu einem Reichsgesetze über den Vollzug
der Freiheitsstrafen und sichernder Maßnahmen,
85 Seiten, 1913 .
1,50 m
59
S
Weber, Die Strafentlassenenpflege, 76 Seiten, 1928
2.40
»f
60
s
S c h u n c k , Das Gefängniswesen des ehemaligen
Herzogtums Zweibrücken. 60 Seiten, 1929 .
2,-
ff
62
S I
Hauptvogel, Aufzeichnungen über das Gefäng¬
niswesen Englands, 219 Seiten, 1931 .
5,60
ft
62
SII
Rahne, Die Gefangenenarbeit im Rahmen des
Erziehungsstrafvollzugs, 98 Seiten, 1931 .
2,80
ff
63
s
Heß, Die Kirche im Strafvollzug, 88 Seiten, 1932
2,40
ff
64
1
Stumpf, Abgrenzung der Vollstreckung und des
Vollzugs der Strafen und der mit Freiheitsent¬
ziehung verbundenen Maßregeln der Besserung und
Sicherung, 110 Seiten, 1933 .
2,80
ff
64
s
Röhr be in, Übersetzung der italienischen Dienst¬
ordnung für Sicherungs- und Strafanstalten vom
18. Juni 1931, 139 Seiten, .1933 .
3,80
ff
65
SI
Weissenrieder, Reichsrechtliche Vollzugs¬
grundsätze (Text der Grundsätze von 1923), 69 Sei-
ten, 1934 .
2,-
ff
65
SII
Pfeiffer, Neuzeitliche Gefängnisbauten und ihre
Geschichte, 182 Seiten, 1934 .
6,-
ff
65
S N
B I 0 e m , Die Situation der Straferwartung in der
Untersuchungshaft, 86 Seiten, 1934 .
2,40
•
66
1
Hauptvogel, Gefängniswesen in England,
Berichte über einen Studienaufenthalt, 114 Seiten,
1935 .
3,-
ff
67
4 B
Amtlicher Text der AV. des RJM. über den Jugend¬
strafvollzug vom 22. Januar 1937, 23 Seiten, 1936
0,60
ff
68
3
Quentin-Sieverts, Die Behandlung der
jugendlichen Rechtsbrecher im Alter von 17 bis
23 Jahren in England unter besonderer Berück¬
sichtigung des Borstal-Systems, 74 Seiten, 1937 ...
2.-
ff
68
6
Hildebrandt - Weber - Schiefer-
Fratzscher-Eberhard, über die Siche¬
rungsverwahrung, 56 Seiten, 1938 .
2,—
ft
69
2
K 0 s i n s k i , Strafgerichtsbarkeit und Strafvoll¬
streckung im alten Berlin, 41 Seiten, 1938 .
2,—
tf
70
2
W i 11 i g , Das Werden der deutschen Gefängnis¬
schule, 59 Seiten, 1939 .
2,40
ff
71
3
Meißner, Die Besserungsanstalt zu Tapiau
(1787—1806) als erstes preußisches Arbeitshaus
moderner Richtung .
2,—
tf
Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
für
Gefängniskunde
$
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube, Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band / Erstes und Zweites Heft / April—Juli 1941
Heidelberg 1941 / Verlag Carl Winters Universitätsbuchhandlung
Inhalt
des 1. und 2. Heftes des 72. Bandes:
Seite
Abhandlungen
Ing. Schürer von Waldheim, Jugendkriminalität
und Beruf. 3—42
Dr. G ü n d n e r , Der Schmuggel unter den Gefangenen und
seine Bekämpfung.. 42—53
O 11 m a n n , Der Einsatz der Gefangenen beim Bau der
Ostmarkstraße . 53—61
Dr. W ü 11 n e r , Einiges vom Aufbau des Strafvollzugs im
Wartheland . 62—67
Aus der Gefängnisverwaltung
Knickenberg, Der Leuchtturm, die Reichs-Gefangenen¬
zeitung . 67—75
Pflüger, Die Lichtbildstelle in den Justizvollzugsan¬
stalten . 76—82
Allgemeine Verfügungen des RJM. 82—86
Personalnachrichten . 87—88
Schrifttum
Bücher — Inland . 89—95
Zeitschriften — Ausland . 95—96
Die Schriftleituns: der „Blätter für GefänsrnUkunde" befindet »ich Berlin W 9. Leipziger
Platz 15 — Fernsprecher: 12 70 76 — Der Zahlungsverkehr läuft unter der Anschrift:
„Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde ln der Akademie für Deutsches Recht" —
Bankkonto: 3676S bei der Bank der Deutschen Arbeit in Berlin C2 — Postscheck¬
konto: 1764 92 Berlin — Die persönliche Anschrift des Herausgebers lautet:
Oberregierungsrat Dr. Strube, Berlin NW40, Alt-Moabit 12a — Die ..Blätter für Gefängnis¬
kunde" erscheinen alle zwei Monate — Jeder Band umfaßt sechs Hefte — Wissenschaftliche
Abhandlungen größeren Umfangs erscheinen in Sonderheften.
4
die gerichtlichen Erhebungen und Beweisführungen, sowie Gespräche mit
den Rechtsbrechern und anderen Auskunftspersonen. Besonderes Gewicht
habe ich auf die Feststellung gelegt, ob bei den Straftaten im Beruf er¬
worbene Kenntnisse und Fertigkeiten mißbräuchlich verwertet wurden.
Es war auch zu prüfen, ob die Verübung krimineller Handlungen durch
ein für Jugendliche — und besonders für moralisch ungefestigte Jugend¬
liche — nachteiliges Berufsmilieu, mangelnde Beaufsichtigung oder ähnliche
Umstände begünstigt wurde.
Von den jugendlichen Rechtsbrechern wurde erhoben, wie weit ihre
Verwahrlosung und Kriminalität zurückreichten. Abstammung,
Lebenslauf, Familien- und E r z i e h u n g s v e r h ä 11 n i s s e ,
soziale Lage und Herkunft, der Beruf und das Berufsbild
in der Familie, Arbeite - und Berufswechsel und sonstige
Merkmale, die kriminalbiologisch von Interesse sind, wurden aufgezeichnet.
Die Beurteilung, besonders in bezug auf die Berufsneig^ung, gründete sich
ferner auf ärztliche, psychiatrische und psychotech-
nische Untersuchungen, die an den Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige fortlaufend vorgenommen werden und auf zeitlich ausgedehnte
Beobachtungen. Die Zöglinge halten sich durchschnittlich 1^,4 Jahre in
den Anstalten auf; auch nach ihrer Entlassung bleiben sie bis zum
20. Lebensjahr in der Erziehungsaufsicht der Anstalt. Im Rahmen der
psychiatrischen Untersuchungen wird die Konstitution nach Kretsch¬
mer und der Grad der körperlichen Entwicklung festgestellt. Dadurch
ergaben sich Unterlagen für Untersuchungen der Beziehung zwischen
Körperbau und Beruf und Körperbau und Krimina¬
lität der Jugendlichen. Durch die ärztlichen und psychiatrischen Dia¬
gnosen wird auch das moralisch-ethische Moment, dem bei der Berufseig-
nungs/eststellung und Berufsberatung der verv’ahrlosten und straffällig ge¬
wordenen Jugendlichen besondere Bedeutung zukommt, von der biologischen,
speziell von der erb- und rassenbiologischen Seite beleuchtet.
Die Feststellung psychopathischer Reaktionen und leichterer Schwachsinns¬
formen — die schweren scheiden aus den Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige aus — war für die Beurteilung der speziellen Berufseignung
und der bei kriminellen Jugendlichen oft stärker her\’ortretenden Unfalls¬
disposition wichtig. Die psychotechnischen Untersuchungen gaben über die
Berufs wünsche, die Motive der Berufswahl, die geistige
Begabung, die praktischen Fähigkeiten und den A r b e i t s -
Charakter der Jugendlichen die für die Berufsberatung erforderlichen
Aufschlüsse. Die auf die ärztlichen und psychiatrischen Diagnosen und
die psychotechnischen Untersuchungen begründeten Berufseignüngsfest-
stellungen ermöglichten es in vielen Fällen, die Ursachen beruflicher Fehl¬
schläge zu ermitteln und ein Urteil über die Bedeutung der ver¬
fehlten Berufswahl als Quelle der Jugendkrimina¬
lität zu gewinnen.
Aus den Aufstellungen über das Berufsbild in den Familien von
2 000 Zöglingen der Anstalt für männliche Erziehungsbedürftige ging
hervor, daß 52 v. H. der Väter Tagelöhner, Hilfsarbeiter, Knechte,
5 V. H. Bergarbeiter, 13 v. H. Kleinhäusler und Bauern, 24 v. H. Hand¬
werker, Gewerbetreibende und Werkmeister und nur 6 v. H. Beamte und
Angestellte, Lehrer, Offiziere, Akademiker usw. waren. In enger An¬
lehnung an dieses Berufsbild ergibt auch die Statistik über die vor der
Anstaltseinweisung getroffene Berufswahl der Zöglinge eine von der
5
allgemeinen B e ru f s v e r t e i 1 u n g der Jugend abwei¬
chende Berufszugehörigkeit. In einigen Berufen, welche nach
allgemeinen und örtlichen Berufszählungen und sonstigen über die Berufs¬
verteilung Aufschluß gebenden Aufstellungen der Arbeits- und Berufs¬
ämter besonders verbreitet und aufnahmefähig sind, trifft man verhältnis¬
mäßig wenig straffällig gewordene Jugendliche an, während sie umgekehrt
in anderen, sonst nicht so oft ausgeübten Berufen ein weit größeres Kon¬
tingent stellen, als es ihrer Zahl nach entsprechen würde. Man begegnet
unter den kriminellen Jugendlichen einer verhältnismäßig sehr großen An¬
zahl ungelernter und angelernter Hilfsarbeiter. Die Anzahl der Hand¬
werker und der landwirtschaftlichen Arbeiter, besonders der qualifizierten
Landarbeiter, ist dementsprechend geringer. Nur vereinzelt stößt man
unter den kriminellen Jugendlichen auf Ober- und Fachschüler. Unter
den Handwerkern findet man relativ selten: Tischler, Schuhmacher,
Schneider, Galanteristen, Gärtner, Buchbinder, Glaser, Steinmetze, Gießer,
u. a. Hingegen werden relativ oft Schlosser, Bäcker, Kellner, Fleischer,
Friseure und Praktikanten in die Anstalt für Erziehungsbedürftige ein¬
gewiesen. Es zeigt sich, daß die jugendlichen Rechtsbrecher relativ oft
aus Berufen kommen, die die Gelegenheit zu kriminellen Handlungen geben
oder durch das Berufsmilieu Gefahren mit sich bringen, während sie in
anderen Berufen, die in dieser Beziehung keine Gefahren bergen oder in¬
different sind, ungleich seltener angetroffen werden.
Die spezifische Art der G e s e t z e s v e r 1 e t z u n g e n
.weist in den einzelnen E r w e r b s z w e i g e n wesentliche
Verschiedenheiten auf. Veruntreuungsdelikte häufen
sich in Berufen, in welchen die Lehrlinge beauftragt werden, Waren an
Kunden auszutragen und Geld einzukassieren. Besonders Bäckerlehrlinge,
Fleischerlehrlinge und Laufburschen werden oft straffällig, weil sie die
Waren nicht ordnungsgemäß abliefern oder das einkassierte Geld für sich
behalten. Betrug ist das typische Delikt jugendlicher Hochstapler, die
sich kaufmännischen Berufen zugewendet haben; zu raffinierten Verbrechen
dieser Art, auch zu Fälschungen befähigt sie ihre oft gut entwickelte
Intelligenz. Verkäufer, Praktikanten und Laufburschen werden aber auch
wegen Diebstahls von Geld und Waren oft straffällig. Diebstähle,
bei welchen wegen des Wertes des gestohlenen Gutes höhere Strafsätze in
Anwendung kommen, werden von Verkäufern und Praktikanten, Uhr¬
macherlehrlingen, Gold- und Silberarbeitem sowie Kürschnerlehrlingen,
verhältnismäßig häufiger verübt als von den Angehörigen anderer Berufe.
In den metallverarbeitenden Gewerben treten auf Grund der Statistik jene
Diebstähle in den Vordergrund, die nach den Bestimmungen des Straf¬
gesetzes als Einbruchsdiebstähle eine strengere Beurteilung
finden, weil sie mit der Überwindung von Hindernissen verknüpft sind.
Schlosser, Mechaniker, Spengler werden zumeist durch mißbräuchliche
Verwertung ihrer im Beruf erlangten Kenntnisse und Fertigkeiten straf¬
fällig. Sie weisen u. a. auch die größte Anzahl von K.r aftfahrzeug-
diebstählen auf. Der auf Einbruch entfallende Verbrechensanteil
ist auch bei den Berufen des Baugewerbes, so bei Maurern und Dachdeckern,
ziemlich bedeutend. Bei Jugendlichen, die Berufe gewählt haben, die an
die Körperkraft erhöhte Anforderungen stellen, kommt es auffallend oft
zu Aggressionsdelikten, besonders dann, wenn die Arbeit bei
großer Hitze ausgeübt wird, wie bei Bäckern und Gießern. Eine gestei¬
gerte Kriminalität besonders in bezug auf sittliche Vergehen
weisen die Kellner auf. Wenn auch dadurch der Einfluß eines ungpinstigen
6
Berufsmilieus zum Ausdruck kommt, darf doch nicht übersehen werden,
daß die Umweltseinflüsse, die sich im Gastgewerbe geltend machen, großen
Verschiedenheiten unterworfen sind. Homosexuelle Verirrungen sind bei
Friseurlehrlingen und auch bei Schneidern und kaufmännischen Prakti¬
kanten häufiger anzutreffen als in anderen Berufen. Verbrechen nach
§ 175 b des deutschen Strafgesetzes (Sodomie) sind fast ausschließlich auf
debile Stallknechte und Viehhüter beschränkt. Auch bei der Brand¬
stiftung sind lediglich Relationen zu ländlichen Berufen festzustellen.
Wegen Vagabundage kommen zumeist arbeitsscheue, zur Berufs-
losigkeit neigende Jugendliche ländlicher Herkunft mit dem Gesetz in
Konflikt. Mit ungewollter und unverschuldeter Arbeitslosigkeit hängt diese
Gesetzesverletzung, wie nähere Untersuchungen zeigten, weniger zusammen.
Von den Vätern der Hirtenberger Mädchen waren 61 v. H.
städtische oder ländliche Hilfsarbeiter, 4 v. H. Bergarbeiter, 10 v. H.
Kleinhäusler und Bauern, 18 v, H. Handwerker und Gewerbetreibende,
6 v. H. Angestellte und Beamte tieferer Kategorie und 1 v. H. Lehrer,
Offiziere, Akademiker. Von den Müttern der Zöglinge besorgten nur
27 V. H. den eigenen Haushalt, 35 v. H. waren landwirtschaftliche Hilfs¬
arbeiterinnen, 13 V. H. Bedienerinnen und Hausgehilfinnen, 9 v. H. Fabrik¬
arbeiterinnen, 7 V. H. Händlerinnen, 4 v. H. Heimarbeiterinnen, 3 v. H.
Schneiderinnen, 2 v. H. Angestellte. Auch bei den straffällig gewordenen
Mädchen weicht die Berufszugehörigkeit von der normalen Berufsverteilung
erheblich ab. Wir treffen sie in der Mehrzahl als ungelernte und angelernte
Kräfte in Haushalten, im Gastgewerbe, in Fabriken und als landwirtschaft¬
liche Hilfsarbeiterinnen an. Verhältnismäßig gering ist die Anzahl der
Lehrmädchen und nur ganz vereinzelt handelt es sich um Schülerinnen.
In den bevorzugten Berufen ergibt sich eine erhöhte Kriminalitätsziffer;
ebenso zeigt die Art der Kriminalität in den verschiedenen Berufen spezi¬
fische Verschiedenheiten.
Diebstähle, meist von Kleidungsstücken, Lebensmitteln und Geld,
kommen in erhöhter Anzahl bei Hausgehilfinnen und Lehrmädchen vor,
bedingt durch die Gelegenheit zu Gesetzesverletzungen, die sich in diesen
Berufen bietet. Warenhausdiebstähle werden von Mädchen ver¬
schiedenster Berufe verübt. Bei Betrug und Veruntreuung sind
die Relationen zu bestimmten kaufmännischen Berufen nicht so deutlich
wie bei den straffällig gewordenen männlichen Jugendlichen, deren Neigung
zu Gesetzesverletzungen dieser Art erheblich stärker entwickelt ist. Die
sittlichen Verfehlungen, die im Gegensatz hierzu bei den Mädchen
mehr hervortreten, stehen teilweise mit der Gefährdung durch das Berufs¬
milieu in Verbindung, wie z. B. bei den im Gastgewerbe beschäftigten
Hilfskräften, teils werden sie durch Putzsucht, die durch die Berufstätigkeit
gesteigert wird, begünstigt. Bei der Anfertigung von Luxuswäsche und
Kleidern wird bei weiblichen Jugendlichen manchmal der Wunsch geweckt,
„auch so ausge.stattet zu sein“. Nach Vorbildern, an welchen es in großen
Modenhäusern nicht mangelt, trachten sie in verschiedenen Fällen, sich
durch Änderung ihrer Lebensweise in den Besitz der begehrten Gegenstände
zu bringen. Die verbreitete Auffassung, daß in Berufszweigen, in welchen
die Mädchen nur Umgang mit Personen des gleichen Geschlechts haben,
keine besonderen Gefahren bestünden, wird durch die Erfahi-ung widerlegt,
daß in Badeanstalten, Friseur- und Schönheitssalons durch Frauen, die
sich in Haltung und Gespräch keinerlei Zwang auferlegen, auf die Jugend¬
lichen in sittlicher Beziehung der verderblichste Einfluß ausgeübt wird.
Daß für charakterlich noch nicht gefestigte und sittlich gefährdete Mädchen
7
der Landdienst wenig geeignet ist, hat eine Reihe von Fällen sittlicher
Verwahrlosung erwiesen. Fälle von Brandstiftung, hauptsächlich
durch Debile und Imbezille verübt, finden wir auch bei den straffällig
gewordenen weiblichen Jugendlichen im Zusammenhang mit den in länd¬
lichen Berufen und Umweltsverhältnissen vorhandenen Verbrechens¬
gelegenheiten.
Die Zahl der arbeits- und berufslosen jugendlichen Rechtsbrecher war
in den Systemjahren außerordentlich groß. In Kaiserebersdorf fanden
ganze Banden jugendlicher Arbeitsloser Aufnahme, die durch Diebstähle,
Einbrüche und Überfälle mit dem Gericht zu tun bekamen. Auch Betteln
und Vagabundage war bei der arbeitslosen Jugend verbreitet. Arbeits¬
lose Mädchen sind in großer Zahl sittlich abwegig geworden, manchmal
auch der Prostitution verfallen. Aus den im Jahre 1937 aufgestellten
Berufsanamnesen ging hervor, daß es kaum einem Drittel der Zöglinge
gelungen war, gleich nach erlangter Schulmündigkeit in das Berufsleben
einzutreten; 15 v. H. waren auch zwei Jahre nach der Schulentlassung
noch ohne Arbeit. Manche Zöglinge hatten sogar das 18. Lebensjahr
erreicht, ohne eine geregelte Beschäftigung gefunden zu haben.
• Die Arbeitslosigkeit wirkte in mehrfacher Beziehung krimi-
nalitätsfördemd. Sie lenkte den Tätigkeitsdrang der Jugendlichen vom
natürlichen Wirkungsfeld des Berufes ab und begünstigte dadurch eine
zu Gesetzesverletzungen führende Aktivität. Die Berufslosigkeit
beeinträchtigte das Selbstvertrauen und die Selbstachtung der Jugend¬
lichen, sie rief Minderwertigkeitsgefühle und Mutlosigkeit hervor.
Gegenüber den Berufstätigen fühlten sich die Arbeitslosen zurückgesetzt.
Die Gefahr der Verwahrlosung war durch ungeordnete Lebensweise der
Arbeitslosen, aufsichtsloses Herumtreiben und die Neigung, sich mit
anderen unbeschäftigten Personen zusammenzuschließen, gegeben. Da¬
durch kam es zur Bildung von Banden, auch zur Berührung mit Verbrecher¬
kreisen. Die Verarmung und Verelendung, die die Arbeitslosigkeit im
Gefolge hatte, schwächte die Widerstandskraft der Jugendlichen gegen
Verlockungen und schlechte Einflüsse aller Art.
Welche Haltungsänderungen die Arbeitslosigkeit bei den
Jugendlichen hervorrief, hing bei ihnen von der Veranlagung, dem
Alter, bzw. dem Grad der Entwicklung, der Erziehung
und anderen persönlichkeitsbildenden Faktoren ab. Es
steht fest, daß auch gut veranlagte Jugendliche, bei welchen eine kriminelle
Entwicklung nicht zu erwarten gewesen wäre, mit dem Gesetz in Konflikt
kamen, wenn sie längere Zeit arbeitslos w’aren und sich aller Zukunfts¬
hoffnungen beraubt sahen. Bei 14- und 15jährigen Jungen waren die
Folgen der Arbeitslosigkeit allgemein noch nicht so tiefgreifend, wenn sie
irgend einer Ausgleichsbeschäftigung nachgingen, wie sie z. B. in den für
jugendliche Arbeitslose geschaffenen Tagesheimen geboten wurde. Anders
verhielt es sich bei den Jungen, die das 16. Lebensjahr erreicht und über¬
schritten hatten. Wie durch entwicklungspsychologische Untersuchungen
nachgewiesen wurde, tritt bei den Jungen dieser Altersstufe an Stelle des
kindlichen Betätigungsdranges der gereifte Leistungswille. Es macht sich
bei ihnen allgemein ein stärkeres Verlangen nach einem positiven Einsatz
im Leben geltend, sie wollen einer Arbeit nachgehen, die ihr Können klar
abschätzen läßt und ihren Geltungstrieb befriedigt. Die Arbeits- und
Berufslosigkeit wurde daher von den Jugendlichen, die die volle Berufs¬
reife erlangt hatten, besonders drückend empfunden, die Einwirkung auf
8
ihre Psyche war eine wesentlich stärkere. Bemerkenswert war die Zu¬
nahme der Phantasietätigkeit und Abenteuerlust bei
vielen arbeitslosen Jugendlichen. Sie gaben oft reale, zuvor für sie fest¬
stehende Berufsziele auf und hingen phantastischen und abenteuerlichen
Zukunftsplänen nach. Daß der Drang nach Tätigkeit und Geltung, wenn
er sich nicht im Beruf auswirken kann, auch zu unberechenbaren Hand¬
lungen führt, durch die die Straffälligkeit eintritt, hat eine größere
Anzahl kriminologisch verwandter Fälle erwiesen.
Eine schon bestehende Dissozialität nahm durch die Arbeitslosigkeit
verschärfte Formen an. Bei Jugendlichen, welchen es von vornherein um das
Erlernen einer Arbeit und eines Berufes weniger zu tun war, trat bald eine
GewöhnungandieArbeitslosigkeit ein, schließlich gingen sie
einer geregelten Arbeit sogar aus dem Wege. Viele arbeitslose Jugendliche,
die in den Systemjahren in den Anstalten für Erziehungsbedürftige unter¬
gebracht wurden, wollten die Gelegenheit, hier einen Beruf zu ergreifen,
zunächst gar nicht wahmehmen. Neben der Verkümmerung des
Arbeitsantriebes traten bei den von Arbeitslosigkeit betroffenen
Verw’ahrlosungsfällen auch andere Charaktermängel und -defekte, für deren
Entwicklung schlechte Veranlagung breitesten Spielraum bot, immer mehr
in den Vordergrund. Besonders auffällig war die zunehmende Verro¬
hung und Entsittlichung, wobei in vielen Fällen auch Erbanlagen,
die früher verdeckt geblieben waren, zu Tage traten. Die schlechtesten
ererbten Eigenschaften gewannen bei den Arbeitslosen die Oberhand, aso¬
ziale Neigungen brachen ungehemmt durch und führten zur Verübung
zahlreicher Vergehen, "Übertretungen und Verbrechen.
Es hat sich gezeigt, daß auch Fehlgriffe bei der Berufs¬
wahl eine verbreitete Ursache der Jugendkriminalität bilden. Die Berufs¬
wahl der 14jährigen erweist sich in vielen Fällen als verfehlt, weil die
Jugendlichen in diesem Alter die für die Berufswahl erforderliche Reife
noch nicht besitzen. Ihre Berufswünsche sind noch stark vom Spieltrieb
beherrscht, sie treten mit unklaren Vorstellungen über ihre eigenen Fähig¬
keiten und die Anforderungen der Berufe in das Berufsleben ein. Daher
hat auch die im 14. Lebensjahr getroffene Berufswahl
dengeringstenBestand. 72 v. H. der dissozialen und kriminellen
städtischen Jugendlichen geben den Beruf, den sie in diesem Alter gewählt
haben, später wieder auf. Der im 15. Lebensjahr gewählte Beruf wird in
61 v. H. Fällen gewechselt. Erst im 16. und 17. Lebensjahr, also mehrere
Jahre nach dem üblichen Eintritt in das Berufsleben, erlangt die Jugend
die Reife, die für die richtige Berufswahl erforderlich ist. Die in diesem
Alter getroffene Berufswahl erweist sich am stabilsten, obwohl es noch
immer bei einem Drittel der Fälle zu nachträglichem Berufswechsel kommt.
In den Bevölkerungsschichten, aus welchen sich die dissoziale und
kriminelle Jugend hauptsächlich rekrutiert, .sind 85 v. H. der Jugendlichen
bereits im 14. Lebensjahr vor die Frage der Berufswahl gestellt. Auch
andere Momente beeinflußten in früheren Jahren ungünstig die Berufswahl.
Durch die Berufsnot der Systemjahre waren die Jugfendlichen und
besonders die sozial schlechter gestellten Jugendlichen oft gezwungen, ihre
Berufswünsche zurückzustellen und die erste beste Arbeit anzunehmen,
die sich ihnen bot. Dadurch gerieten viele von ihnen in Berufe, die sie von
vornherein ablehnten. Die wenigen noch aufnahmefähigen „Modeberufe“,
die starken Zustrom erhielten, waren von Ungeeigneten überfüllt. Auch
befähigte Jugendliche nahmen Hilfsarbeiten an, um zu möglichst raschem
Verdienst zu kommen.
9
Der Zwang zu einem Beruf, für welchen die Eignung oder
das Interesse fehlt, ruft bei den jungen Menschen seelische Störungen
hervor, die sich in Erziehungsschwierigkeiten äußern. Schon
vor dem Berufseintritt vorhandene Erziehungsschwierigkeiten werden
durch eine verfehlte Berufswahl erheblich gesteigert. Die fortgesetzten
Mißerfolge bei der Arbeit und die damit verknüpften Zurücksetzungen
und Demütigungen führen zu einer Erschütterung des Selbstvertrauens,
die auch den Boden für kriminelle Handlungen bildet. Wir sehen, daß
Jugendliche, die in ihrem Beruf zu keinem Erfolg kommen, ihre Haltung
verlieren, sich zu anderen gescheiterten Existenzen hingezogen fühlen und
dadurch leicht in schlechte Gesellschaft geraten. Verlockungen und
schlechten Einflüssen setzen sie verminderten Widerstand entgegen. Für
eine bestimmte Art der Straffälligkeit, die mit der Berufswahl engstens
zusammenhängt, ist die Bezeichnung „B e r u f s r a c h e“ zutreffend. Man
kann beobachten, daß Jugendliche, deren sehnlichste, in ihrer Veranlagung
begründete Berufswünsche nicht in Erfüllung gehen, sich für die Ent¬
täuschung, die ihnen ein aufgezwungener Beruf bereitet, an ihren Eltern
oder Arbeitgebern rächen, in dem sie Diebstähle, Veruntreuungen, boshafte
Sachbeschädigungen und andere strafbare Handlungen begehen. Auch
Fahrraddiebstähle lassen sich die in falsche Berufsbahnen ge¬
drängten Jugendlichen oft zuschulden kommen. Dabei sind sie nicht von
Gewirmsucht geleitet; es ist ihnen vielmehr darum zu tun, möglichst rasch
von der verhaßten Arbeitsstätte wegzukommen. Gerade sehr be¬
gabte und leistungsfähige Jugendliche lassen sich
leicht zu kriminellen Handlungen hinreißen, wenn
ihr Beruf nicht ihrer stark ausgeprägten Berufs¬
neigung entspricht.
Der Einfluß eines gesteigerten, aber fehlgeleiteten Leistungswillens
macht sich auch bei den Jugendlichen, die einem Schulstudium nach¬
gehen, stark geltend. Wir sehen, daß Schüler der 6. und 7. Klasse, die
zuvor fleißig lernten, ihre Aufgaben vernachlässigen, sich von ihrem Lem-
ziel abwenden und einer Beschäftigung nachgehen, die ihr Leistungsver¬
mögen klarer als ihre Schularbeit abschätzen läßt. Die Krisen, die mit
dem Durchbruch des auf objektive, nützliche Arbeit gerichteten Leistungs¬
willens verbunden sind, führen auch bei den Mittelschülern zu sozialen
Entgleisungen, die häufig kriminelle Formen annehmen.
Die Neigung, eine verfehlte Berufs- oder Schullaufbahn aufzugeben,
tritt im 14. und 15. Lebensjahr noch nicht stark hervor, sie nimmt aber
immer mehr zu und ist am Ende des 16. Lebensjahres und Anfang des
17. Lebensjahres besonders groß. Von den 16- und 17jährigen Jugend¬
lichen wird alles, was ihre Leistungsfähigkeit zu beschränken oder zu
unterbinden vermag, besonders unangenehm empfunden. Lau hat durch
Befragung von 3 500 Lehrlingen einen Zufriedenheitskoeffi¬
zienten errechnet, der das Verhältnis der Licht- und Schattenseiten im
Beruf angibt. Im dritten Lehrjahr ergab der Koeffizient den geringsten
Wert, wodurch die verstärkte Unzufriedenlieit der 16- und 17jährigen zum
Ausdruck kommt. Aber nicht nur der Großteil der beruflichen Krisen,
die im häufigen Berufs- und Stellenwechsel der Jugendlichen zum Aus¬
bruch kommen, fällt bei männlichen Jugendlichen in das 16. und 17. Lebens¬
jahr, auch die Kriminalität erfährt in diesen Jahren eine bedeutende
Steigerung. Die Zöglinge der Anstalt für männliche Erziehungsbedürf¬
tige, die als 16- und 17jährige erstmalig straffällig wurden, machten 71 v. H.
10
des Gesamtstandes aus. Obwohl der Kriminalität der Jugendlichen gerade
in diesen Jahren auch noch andere Ursachen zugrunde liegen, weist doch
das zeitliche Zusammentreffen der Berufskrisen und der gesteigerten
Kriminalität auf die angeführten engen Zusammenhänge hin.
Jugendliche, die ihre Berufswahl richtig getroffen haben, Freude im
Beruf empfinden und sozial wertvolle Arbeit leisten, beschäftigen selten
die Jugendgerichte. Berufliche Unzulänglichkeit und Untauglichkeit ist
hingegen bei den jugendlichen Rechtsbrechern sehr verbreitet. In den
über sie erstatteten Berichten der NSV.-Jugendgerichtshilfe und der Für¬
sorgestellen finden sich zahlreiche Hinweise auf schlechte Berufsleistungen,
Faulheit und andere im Berufsleben hervortretende Mängel.
Die UrsachendesberuflichenVersagens sind im Einzel¬
fall sehr verschieden. Aus den in den Anstalten für Erziehungsbedürftige
vorgenommenen ärztlichen Untersuchungen geht hervor, daß die zahlreichen
körperlichen und organischen. Mängel, die die in die Obhut
der Anstalten gelangenden Jugendlichen auf weisen, die Eignung für die
Berufe, die sie vor der Anstaltsunterbringung ausübten, oft sehr herab¬
setzen oder ausschließen. Im Zusammenhang mit der beruflichen Un¬
zulänglichkeit wird von vielen Zöglingen beim Eintritt in die Anstalten
der Wunsch geäußert, hier einen anderen, dem Leistungsvermögen mehr
entsprechenden Beruf erlernen zu können. In manchen Fällen zeigt sich
doch auch das hartnäckige Bestreben, die körperlichen und organischen
Mängel im Beruf zu überwinden. Beispiele bilden: Sehschwache, die un¬
bedingt Schneider oder Uhrmacher werden wollen, ein Stotterer, der da¬
nach strebt, Verkäufer oder Kellner zu werden oder ein Junge mit Fu߬
prothese, der sich gerade als Laufbursche beruflich weiterbringen möchte.
Die infantilen Konstitutionen — die durch eine dem
Lebensalter nicht entsprechende Körperentwicklung gekennzeichnet sind,
oft auch kränkeln und Herzfehler aufweisen — zeigen sich untauglich als
Maschinensschlosser, Metalldreher, Schnitt- und Stanzenmacher, Tischler,
Bäcker, Fleischer und zu anderen Berufen, die an die Körperkraft hohe
Anforderungen stellen. Beobachtungen über die Entwicklung und Domi¬
nanzänderungen der Konstitutionen unter Einwirkung des zunehmenden
Alters und des Berufes zeigen, daß die infantilen Typen später zum Teil
in leptosom-asthenische (schmalwüchsige) Formen übergehen, daß aber
bei ihnen fast nie ein Dominanzwechsel der Körperbaumerkmale in
mu.skulär-athletischer Richtung erfolgt. Berufe, welche die Gesamt¬
muskulatur stark beanspruchen („R e i z b e r u f e“ nach Schmidt-
Kehl) fordern aber von vornherein muskulär-athletischen Habitus oder
eine Anlage, die einen Dominanzwech.sel in muskulär-athletischer Richtung
eintreten läßt. Auch die ihrem Alter entsprechend entwickelten lepto¬
som-asthenischen Konstitutionen, die großes Längenwachs¬
tum und zierlicher Körperbau kennzeichnet, sind in vielen Fällen den An¬
forderungen körperlich anstrengender Berufe nicht gewachsen, meist zeigen
sie für diese Berufe auch kein Interesse.
Berufliche Nichteignung und Interesselosigkeit hängt auch in zahl¬
reichen anderen Fällen mit mangelnder Übereinstimmung zwischen Kon¬
stitutionsform und Bemf zusammen. Die muskulär-athletischen
Konstitutionen, die durch derben Knochenbau und kräftige Mus¬
kulatur gekennzeichnet sind, und ein Großteil der pyknisch-athletischen
Mischformen bewähren sich nicht als Schneider, Friseure, Kellner, Leder-
11
galanteristen und in anderen Berufen, die wegen der geringen Beanspru¬
chung der Gesamtmuskulatur als ausgesprochene „Reizmangelberufe“
anzusprechen sind. Nur bei einem geringen Teil der muskulär-athletischen
Konstitutionen tritt unter der spezifischen Einwirkung des Berufes ein
Dominanzwechsel in leptosom-asthenischer Richtung ein. Eine zu große
Diskrepanz zwischen Konstitution und Beruf zieht bei ihnen in der Regel
raschen Berufsaustritt nach sich.
Meine Untersuchungen über den Berufswechsel krimineller
Jugendlicher haben ergeben, daß der durch mangelnde Übereinstimmung
zwischen Konstitution und Beruf ausgelöste Berufswechsel bestimmte
Richtungen und Gesetzmäßigkeiten aufweist. Das konstitutionelle Moment
tritt besonders im Berufswechsel der Psychopathen, die jeden Beruf auf¬
geben, der nicht ihrer Wesensart entspricht, deutlich hervor. Richtung¬
gebend für den Berufswechsel ist die für die Konsti¬
tutionsform spezifische Berufsneigung. Daß die ver¬
schiedenen Konstitutionstypen bestimmte Berufe oder Berufsgruppen be¬
vorzugen, kommt schon in den Berufswünschen zum Ausdruck, wie jeder
Berufsberater aus seiner Erfahrung weiß. Die Zusammenhänge wurden
durch verschiedene Autoren auch statistisch belegt. Ebenso ist die Be¬
währung der Konstitutionstypen in den für sie spezifischen Berufen am
besten.
Manchmal wechseln die Jugendlichen solange
ihren Beruf, bis sie eine Berufswahl treffen, die
ihrem Konstitutionstypus entspricht. Einige Beispiele
aus der Praxis: Ein schmächtiger, aufgeschossener Junge vom leptosomen
Typus will Schneider werden, gelangt aber zufolge des in der Systemzeit
herrschenden Lehrstellenmangels in eine Lehrstelle als Maschinenbauer.
Er bewährt sich in diesem Beruf ebenso wenig wie später als Maurer. Erst
die Ausbildung als Schneider, die der Berufsneigung entspricht, führt zu
guten beruflichen Leistungen und zur Unterbindung weiteren Berufs¬
wechsels. Ein anderer Junge, vom gleichen schmal wüchsigen Typus, mit
zierlichen Händen, intelligent, will Friseur werden, erhält aber vom Arbeits¬
amt eine Lehrstelle als Tischler zugewiesen. Er versagt als Tischler voll¬
kommen; ebenso wird er bald darauf als Bäckerlehrling als faul und ganz
unbrauchbar bezeichnet. Erst die Ausbildung als Friseur, die in der
Erziehungsanstalt erfolg;te, führte zu stabiler beruflicher Entwicklung und
zu guter Bewährung. Nach der Entlassung legte der Junge die Gesellen¬
prüfung mit sehr gutem Erfolg ab.
Die eben angeführten Beispiele zeigen einen Berufswechsel auf, bei
dem sich die leptosome Konstitution, die die Reizmangelberufe bevorzugt,
durchsetzte. Gerade diese Berufe geben die muskulär-athletischen Kon¬
stitutionen oft schon nach kurzer Lehrzeit auf, um sich einem „Reizberuf“
zuzuwenden. So beobachtet man bei ihnen zum Beispiel einen Berufswechsel
vom Friseur, Schneider, Buchbinder oder Kellner zum Bäcker, Maurer,
Schlosser oder Gärtner. Im Be rufswechsel der pyknischen
Konstitutionen, die schon im Jugendalter durch kleine gedrungene
Gestalt, rundliche Gliedmaßen und mittelstarke, jedoch weiche Muskulatur
gekennzeichnet sind, kommt sowohl die Ablehnung der ausgesprochenen
Reizberufe, wie auch der extremen Reizmangelberufe zum Ausdruck. Sie
ziehen Berufe vor, welche die Bearbeitung eines mittelharten Materials
fordern (Schuhmacher, Ledergalanterist, Fleischer, Zuckerbäcker u. a.).
12
Konstitutionell bedingte Züge zeigt auch der Berufswechsel der zu¬
sammenfassend als dysplastisch bezeichneten Übergangsformen ins
Krankhafte und der ausgesprochenen Pathokonstitutionen. Bei
den durch kindliche, unterentwickelte Körpermerkmale gekennzeichneten
hypoplastisch-infantilen Typen lehnt sich der Berufswechsel an
jenen der leptosom-asthenischen Konstitutionen an. Sie harren in Berufen,
die die Muskulatur des ganzen Körpers beanspruchen, in der Regel nicht
lange aus. Die Richtung ihres Berufswechsels läßt die Bevorzugung
der Reizmangelberufe und indifferenter Berufe deutlich
erkennen. Beispiele: Berufswechsel vom Schlosser— Gärtner — zum Glaser,
vom Bäcker zum Feinmechaniker, Fleischer zum Praktikanten, Tischler zum
Anstreicher. Die dgrch das Zusammentreffen körperlicher und geistiger
Defekte gekennzeichneten Typen sind ohne besondere Vorschulung und
Anlernung den Anforderungen qualifizierter Berufe nicht gewachsen und
geben Lehrstellen im Handwerk und Gewerbe oft.schon nach ganz kurzer
Zeit auf, um sich als Hilfsarbeiter fortzubringen, wobei sie manchmal
Vorliebe und Eignung für monotone Arbeiten zeigen.
Bezeichnend für sie ist die verminderte Übungsfähigkeit,
durch welche auch der Anlernung bestimmte Grenzen gezogen sind.
Auch bei den straffällig gewordenen weiblichen Jugendlichen hängt
der Berufswechsel in vielen Fällen mit einer in konstitutioneller Bezie¬
hung verfehlten Berufswahl zusammen. Die Mädchen sind im allgemeinen
sehr geneigt, einen Beruf, der ihrer Wesensart nicht entspricht, wieder
aufzugeben. Die Gesetzmäßigkeiten des Berufswechsels, bei welchem der
konstitutionelle Faktor richtunggebend wirkt, sind im wesentlichen die
gleichen wie bei den männlichen Jugendlichen. Wir finden bei ausge¬
sprochen muskulären, robusten Naturen beispieLsweise einen Berufs¬
wechsel von der Modistin, Strickerin, Friseuse zur Hausgehilfin, Wäscherin,
Gärtnerin. Bei zarten, schwächlichen Naturen vollzieht sich der Berufs¬
wechsel in den angeführten Berufen in umgekehrter Richtung oder z. B.
von der Gärtnerin zur Konfektionsnäherin, Hausgehilfin zur Putzmacherin
usw. Auch die Vorliebe pyknischer Naturen für den Beruf der Köchin,
Zuckerbäckerin u. a. kommt im Berufswechsel zum Ausdruck. Sehr lebhaft
veranlagte Mädchen wenden sich vom Beruf der Schneiderin oder Steno¬
typistin ab, um nicht „fortwährend sitzen zu müssen“. Sie streben Berufen
zu, die ihrem Bewegungsdrang entgegenkommen. Umgekehrt zeigt der
Berufswechsel der ruhigen, phlegmatischen Temperamente, daß ihnen
Berufe widerstreben, die fortwährende Bewegung erfordern.
Um weiteren Berufswechsel der kriminellen Jugendlichen nach ihrem
Eintritt in die Anstalten für Erziehungsbedürftige zu unterbinden, erwies
es sich als notwendig, sie in Berufe zu bringen, die ihrem Konstitutionstypus
möglichst entsprechen. Die Berufseinteilung nach konstitu-
tionshygienischenGesichtspunkten wird dadurch erschwert,
daß fast ein Drittel der im Pubeszenzalter befindlichen Jugendlichen
mangels entsprechender Differenzierung keinem der Haupttypen zugeteilt
werden kann. Neben den Mischformen finden wir bei den kriminellen
Jugendlichen zahlreiche Sonderformen. Auch sind Fälle, bei denen
die körperliche Struktur in der Pubertätszeit sich grundlegend ändert,
nicht allzu selten. Die Frage, in welchen Berufen bei den einzelnen Konsti¬
tutionstypen, Misch- oder Sonderformen die körperlichen und seelischen Vor¬
aussetzungen für optimaleLeistungen gegeben sind, konnte ich auf
Grund der Typisierung der Kaiserebersdorfer Zöglinge und der Unter-
13
suchungen über ihr Verhalten an früheren Lehrplätzen und ihren Berufs¬
wechsel weitgehend klären. Sehr aufschlußreich in dieser Beziehung
waren auch Bewährungskontrollen, die ich in den Lehrwerk¬
stätten der Anstalt regelmäßig durchführte, um die getroffene Berufsein¬
teilung zu überprüfen. Es hat sich gezeigt, daß die Konstitutions¬
formen, die in den Werkstätten überwiegen und
gewissermaßen den Berufstypus repräsentieren,
durchweg die tüchtigsten und fleißigsten Lehrlinge
stellen. Für die Beurteilung der Bewährung im Beruf wurde nicht nur
die praktische Eignung, sondern auch das Ergebnis des Unterrichtes in der
gewerblichen Fortbildungsschule herangezogen. Nach Ausschluß der Un¬
geeigneten, sowohl bei der Berufsberatung wie im Laufe der Ausbildung,
ergab sich in den einzelnen Arbeitsbetrieben eine vom Ausgangsmaterial
abhängige, aber in großen Zügen gleichbleibende Verteilung der Konsti¬
tutionstypen. Das beim Abschluß mehrerer Lehrgänge der beruflichen Fort¬
bildungsschule sich ergebende Bild ist in Tabelle 1 festgehalten. Die Auf¬
stellung umfaßt Zöglinge verschiedenen Alters und verschiedener Entwick¬
lungsstufen.
Tabelle 1: Verteilung der Kon^titutionstypen auf die Berufe
Beruf
Muskulär
Athletisch
Misch¬
form
Leptosom
Asthe¬
nisch
Pyknisch
Infantil
Dyspla¬
stisch
Summe
a
N
%
» 1
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1
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N
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J=
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N
' 0/
1 '0
1
Schlosser.
60
61,9
17
1
)17,5
4
1
j 4,1
14
1
'14,4
—
1
1 _
_
_
97
Klempner.
21
40,4
4
; 7,7
3
1 5,8
13
25,0
5
9,6
—
2
3,8
52
Tischler.
63
57,2
8
i 7,3
9
1 8,2
22
20,0
8
7,3
—
—
—
—
—
—
110
Bäcker .
64
58,2
11
iebI
9
i 8,2
12
10,9
3
; 2.7
5
4,6
3
2,7
3
2,7
110
Gärtner.
28
50,0
4
1
6
1 8,9
9
16,1
—
3
6,4
4
i 7,1
3
5,4
56
Korbflechter...
14
29,8
1
2,1
4
8,5
14
29,8
3 !
6,4
—
, -
7
[14,9
4
8,5
47
Schuhmacher ..
7
6,6
1
1
—
2
1 ^>9
56
162,3
15
14,0
21
19,6
3
2,8
3
2,8
107
Buchbinder ....
5
7,8
—
i
3 1
4,7
39
60,9
13
20,4
2
3,1
2
3,1
- 1
1 -
64
Schüler.
6
9,2
1
1,6
3
4,6
29
44,6
17
26,1
3
4,6
4
6,2
2
3,1
65
Schneider.
6
6,4
—
—
2.6
44
39,3
67
50,9
— '
—
1
0,9
1
0,9
112
Friseur .
4
6,2
—
—
3 1
4,6
25
38,4
30 ^
46,2
—
—
3
4,6
—
—
65
Summe.
278
1
31,4
1 1
46
5,2
48
5,4
•277
31,2
i5i;
17,1
40
4,5
27
3,1
18
2,1
885
Bei den Schlossern überwiegen die muskulär-athletischen Typen
mit zusammen 79,4 v. H. Das Vorhandensein von 14,4 v. H. leptosomen
Formen geht z. T. darauf zurück, daß in die Werkstätte der Anstalt auch
Mechaniker und Elektriker eingestellt sind, die in ihrer Konstitution von
den Schlossern nicht unerheblich abweichen. Unter dem Einfluß des
Berufes erfolgt eine Zunahme der muskulär-athletischen Körperbaumerk¬
male. Wenn asthenische Züge hervortreten, deutet das darauf hin, daß
der Beruf nicht ertragen wird. Infantile Typen fehlen.
Bei den Klempnern ergibt sich ein von den Schlossern abwei¬
chendes Bild, da die muskulär-athletischen Formen nicht so stark in den
V ordergrund' treten.
14
Im Tischler beruf überwiegen die muskulär-athletischen Typen.
Die für einen Reizberuf relativ große Beteiligung der leptosomen und asthe¬
nischen Formen geht hauptsächlich darauf zurück, daß die Verteilung der
Typenformen beim Lehreintritt unspezifisch ist.
Im Bäcker beruf überwiegen die muskulär-athletischen Typen, es
macht sich auch ziemlich starker pyknischer Einschlag geltend. Die Ein¬
wirkung des Berufes auf die Konstitutionen weist je nach der Arbeit, zu
der die Lehrlinge vorwiegend herangezogen werden, Unterschiede aus.
Zumeist Einwirkung in muskulär-athletischer Richtung.
Der Beruf des Gärtners wird von den muskulär-athletischen
Konstitutionen bevorzugt. Unter den Zöglingen der Anstalt, die Vorlehr¬
zeiten als Gärtner aufweisen, befinden sich in größerer Zahl auch leptosom¬
asthenische Konstitutionen. Daraus ist zu ersehen, daß die Anforderungen
des Berufes von den Jugendlichen oft unterschätzt werden.
Die Korbflechter zeigen eine ziemlich gleichmäßige Konstitu¬
tionsverteilung. Es handelt sich um einen Beruf, den die Zöglinge nur
sehr selten erlernen wollen. Da sich für bestimmte Korbflechterarbeiten
auch Debile gut eignen, sind die den Debilen typischen Sonderformen in
dieser Werkstätte relativ zahlreich -vertreten.
Bei den Schuhmachern ist die große Zahl der Pykniker auf¬
fallend. Die Mischformen und infantilen Typen, die beim Lehreintritt
relativ zahlreich sind, gehen größtenteils in leptosom-asthenische Formen
über.
Im Buchbinder beruf überwiegen die leptosom-asthenischen
Typen mit 81,3 v. H. Bei der Berufsausübung treten fast ausschließlich
Veränderungen in leptosom-asthenischer Richtung ein.
Bei den Schülern der Kaufmännischen Fortbil¬
dungsschule sind alle Konstitutionstypen vertreten, doch überwiegen
die leptosom-asthenischen Typen.
Bei den Schneidern finden sich 90,2 v. H. leptosom-a.sthenische
Typen. Athletische Konstitutionen fehlen vollkommen. Die Mischtypen
gehen in leptosom-asthenische Typen über. Der Beruf wird von körperlich
„Schwächeren“ bevorzugt.
Die Friseure gehören zu 84,6 v. H. der leptosom-asthenischen
Gruppe an. Auch in diesem Beruf scheiden die athletischen Typen ganz
aus. Der Beruf wird größtenteils von schwächer Entwickelten ausgeübt.
Bei den in den Arbeitsbetrieben der Anstalt Hirtenberg sich bewäh¬
renden Mädchen finden sich gleichfalls übereinstimmende körperlich konsti¬
tutionelle Züge, doch tritt die Zugehörigkeit zu den Kretschmer 'sehen
Konstitutionstypen nicht mit gleicher Deutlichkeit hervor, wie bei den
männlichen Jugendlichen. Wäscherinnen, Gärtnerinnen,
Landarbeiterinnen verfügen meist über eine derbe und kräftige
Konstitution. Bei den Weißnäherinnen und Kleidermache¬
rinnen ist der Körperbau allgemein zarter und schwächer. Zum Unter¬
schied von den männlichen Jugendlichen erstrecken sich die typischen
leptosom-asthenischen Züge der Mädchen nicht allgemein auf den gesamten
Körper, sondern oft nur auf Teile desselben, z. B. auf die Hände. Die
Geschmeidigkeit und Zierlichkeit der Hände, die bestimmten Berufsan¬
forderungen entspricht, steht in vielen Fällen mit der übrigeh Körperform
15
wenig in Einklang. Umgekehrt gibt es Fälle, in welchen Mädchen in ihrem
Äußeren zart wirken, jedoch zufolge des derben Baues der Hände sich für
feinere Arbeiten nicht eignen. Bei den Köchinnen machen sich pyk-
nische Einschläge geltend. Durch entsprechende Berücksichtigung der
Konstitution und Berufsneigung bei der Arbeitseinteilung treten bei Zög¬
lingen, welche vor der Anstaltsunterbringung auf beruflichem Gebiet voll¬
kommen versagt hatten, grundlegende Änderungen des beruflichen Ver¬
haltens ein.
Bei der psychotechnischen Untersuchung der Zöglinge der Anstalten
für Erziehungsbedürftige hat sich in zahlreichen Fällen der Mangel be¬
stimmter Begabungen als der Grund beruflicher Mißerfolge herausgestellt.
Vor allem entspricht die Intelligenz der Zöglinge nicht immer den
im Beruf an sie gestellten Anforderungen. Die Anwendung von Test¬
reihen, die bei der Berufsberatung von Hauptschülem in! Wien und Nieder¬
donau erprobt und geeicht wurden, hat es ermöglicht, bei den psychotech¬
nischen Prüfungen der Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige
exakte Vergleiche mit den Leistungen der Normal¬
fälle anzustellen. Bei etwa 10 v. H. der männlichen und 15 v. H. der
weiblichen Anstaltsjugendlichen ergaben sich leichtere Schwachsinnsformen
(Debilität, Imbezillität), bei weiteren 40 bzw. 60 v. H. erreicht die Intelli¬
genz nicht den normalen Durchschnitt. Neben ausgesprochenen Intelli¬
genzdefekten trifft man bei den kriminellen Jugendlichen auch
leichtere Störungen der intellektuellen Funktionen
oft an, wie Störungen des Gedankenablaufes, Mängel des logisch-kritischen
Denkens, eine Verflachung oder abnorme Steigerung der Phantasie und
eine sehr geringe Konzentrationsfähigkeit. Die elementaren Schul¬
kenntnisse sind allgemein sehr gering, z. B. können mehr als 60 v. H.
der Zöglinge nicht dividieren. Unter den im Burgenland und abgelegenen
Teilen des Alpenlandes aufgewachsenen ländlichen Verwahrlosten trifft
man sogar vereinzelt Analphabeten an. Die vernachlässigte Intelli¬
genzschulung wirkt sich im Berufsleben allgemein sehr ungünstig aus, vor
allem, wenn die Jugendlichen vor die Anforderungen eines Handwerks
gestellt sind.
Unzulängliche Leistungen der Handwerker hängen oft mit dem
Mangel einer berufswichtigen Sonderbegabung zu¬
sammen. So bildet ungenügende technische Begabung ein schweres Berufs¬
hemmnis für Schlosser, Klempner, Elektriker und Installateure. Schlechte
Berufsleistungen der Klempner, besonders im Galanteriefach, gehen manch¬
mal auf nicht entsprechenden Formensinn zurück. Buchbinder und Litho¬
graphen bleiben in ihrem Beruf erfolglos, wenn sie nicht kunstgewerblich
begabt sind und den erforderlichen Farbensinn und Geschmack besitzen.
Ungenügende räumliche Vorstellungsgabe, schlechtes Augenmaß und ge¬
ringe manuelle Geschicklichkeit behindern den Lehrling bei jeder Hand¬
werkstätigkeit. Berufsuntüchtigen Verkäufern, Geschäftspraktikanten u.a.
fehlt es manchmal an der berufswichtigen kaufmännischen Begabung.
Berufliche Schwierigkeiten ergeben sich auch aus dem Unvermögen,
sich einem bestimmten Tempo der Wahrnehmung oder Bewegung an¬
zupassen. Beispielsweise entsprechen Bäcker- oder Buchdruckerlehrlinge
nicht den Berufsanforderungen, wenn ihr Arbeitstempo ein zu langsames ist.
Die Ablehnung des Berufes und damit die Nichteignung kann auch
emotional bedingt sein. Es liegt in verschiedenen Fällen Gegen-
einstellung zu dem Material vor, das im Beruf zu bearbeiten
16
ist, und manche Jugendlichen eignen sich überhaupt nur für Berufe, die
keine Materialbeherrschung erfordern. Nach meinen Beobachtungen hängt
das „Materialgefühl“ mit dem Alter und dem Grad der körperlichen Ent¬
wicklung eng zusammen. Jugendliche, bei welchen infantile und puerile Züge
vorherrschen, sind sich im allgemeinen nicht im Klaren darüber, welches
Material sie bearbeiten wollen und ob sie nicht einen Beruf vorziehen
würden, der nicht die Beherrschung eines Materials fordert. Erst wenn
ihre körperliche Entwicklung entsprechend vorgeschritten ist, können sie
zu dieser Frage — wie zur Frage der Berufswahl überhaupt — in ent¬
schiedener Weise Stellung nehmen.
Je weniger Veranlagung und Beruf übereinstimmen, um so rascher
tritt der Berufswechsel allgemein ein; doch gelangten auch Lehrlinge in
die Anstalten für Erziehungsbedürftige, die eine mehr als einjährige Lehr¬
zeit aufwiesen, obwohl sie für ihren Beruf gänzlich ungeeignet waren. Die
Bereitschaft, einen verfehlten Beruf aufzugeben, ist bei männlichen Jugend¬
lichen im 16. und 17. Lebensjahr, also in dem Alter, in welchem der gereifte
LeistungswWlle zum Durchbruch gelangt, besonders groß. Der Berufs¬
wechsel läßt erkennen, daß ein Beruf, der zu hohe Anforderungen in bezug
auf Intelligenz und Begabung stellt, ebenso aufgegeben wird, wie ein
anderer, der weit unter dem Begabungs- und Leistungsniveau liegt.
Stärker ausgeprägte Begabungen suchen sich durch¬
zusetzen, vor allem technische, kaufmännische, kunstgewerbliche Be¬
gabung. Zur richtigen Berufswahl kommt es manchmal erst nach mehr¬
maligem Berufswechsel. Bei stark ausgeprägter technischer Begabung
fand z. B. ein Berufswechsel von einem Beruf des Nahrungsmittelgewerbes
zur Konfektion, dann zu einem Beruf der Metallverarbeitung (Werkzeug¬
macher) statt. Der Berufswechsel Baugewerbe — Gerber — Büroprak¬
tikant wurde durch kaufmännische Begabung herbeigeführt. Kunstgewerb¬
liche Begabung setzte sich in einem Fall nach dreimaligem Berufswechsel
bei der Wahl des Buchbinderberufes durch.
Die in den gleichen Berufen befindlichen Anstaltszöglinge — vor allem
die beruflich Tüchtigen — wiesen nicht nur in ihrem körperlichen Habitus,
sondern auch in ihrer geistigen Struktur viel Ähnlichkeit und Gemeinsames
auf. Zufolge der von mir wesentlich nach Konstitu¬
tion, Intelligenz und Charakter d u r c h g e f ü h r t e n
B e r u f s a u s 1 e s e kamen bei der Arbeit gleichartige
Menschen zusammen. Daß man in den verschiedenen Arbeits¬
betrieben der Anstalt Kaiserebersdorf auch verschiedene Typen
körperlicher und geistiger Prägung begegnete — daß
gewissermaßen jede Werkstätte ein anderes Gesicht hatte — fiel sogar
Besuchern der Anstalt auf, die auf dem Gebiet der Konstitutionsforschung
und Berufspsychologie keine Fachkenntnisse besaßen. Besonders auf¬
fallend war der Unterschied im Längenwachstum der Schuh¬
macher einerseits, der Schneider und Friseure anderseits und das Her¬
vortreten der athletischen Typen, bei den Schlossern und
Bäckern. Der Unterschied der Intelligenz der Lehrlinge zu¬
folge der verschiedenartigen Anforderungen der Berufe und der dadurch
bedingten Auslese ist auch physiognomisch deutlich zum Ausdruck
gekommen. Die Tabelle 2 gibt Aufschluß über dib allgemeine Intelligenz
der Zöglinge in verschiedenen Berufsgruppen. In Tabelle 3 sind die gleichen
Lehrlinge und Schüler aufgenommen, deren konstitutionelle Zugehörigkeit
aus Tabelle 1 hervorgeht.
17
»
Tabelle 2: Allgemeine Intelligenz der Lehrlinge, Schüler der kauf¬
männischen Fortbildungsschule und der Land- und Hilfsarbeiter
Beruf
gut
mittel
untermittel
schwach
Q>
s
g
Zahl
lO
Zahl 1
0/
10
Zahl i
0/
Io
Zahl
%
9
m
Kaufmännische
Fortbildungsschüler ..
36
30
46,2
65
Handwerker.
156
393
48,0
238
29,0
33
820
Landarbeiter .
20
48
12,1
241
60,9
87
21,9
396
Hilfsarbeiter.
16
12,6
81
68,1
23
19,3
119
Summe.
211
15,1
486
34,7
560
40,0
143
10,2
1400
Tabelle 3: Allgemeine Intelligenz der Handwerkslehrlinge
Beruf
gut
mittel
untermittel
schwach
Summe
Zahl 1
0/
/o
Zahl
“/o
Zahl
0/
Io
Zahl
0/
10
Schlosser.
36
37,1
61
62,9
_
_
_
97
Klempner.
8
16,4
44 1
84,6
—
1
—
—
62
Tischler.
21
19,1
35
31,8
54
49,1
—
—
110
Bäcker.
12
10,9
58
62,7
40
36,4
—
—
110
Gärtner.
4
7.2
13
23,2
34
60,7
5
8.9
56
Korbflechter.
—
—
5
10,6
21
44,7
21
44,7
47
Schuhmacher.
7
6,5
46
43,0
47
43,9
7
6,6
107
Buchbinder.
16
25,0
28
43,7
20
31,3
_ !
—
64
Schneider.
24
21,4
66
68,9
22
19,7
—
—
112
Friseure.
28
43,1
37
66,9
—
—
—
—
66
Summe .
166
19,0
393
48,0
238
29,0
33
4,0
820
Als Schüler der kaufmännischen Fortbildungsschule, Schlosser,
Klempner und Friseure bewährten sich nur Zöglinge, die mindestens durch¬
schnittliche Allgemeinintelligenz aufwiesen. Bei anderer Handwerksarbeit
schloß unterdurchschnittliche allgemeine Intelligenz es nicht aus, daß die
Lehrlinge den Anforderungen entsprachen, wenn sie körperlich besonders
leistungsfähig waren oder Sonderbegabungen aufwiesen. Bei Land- und
Hilfsarbeitern bewährten sich zum Teil auch die leichteren Schwachsinns¬
formen.
In Hirtenberg zeigte es sich, daß es bei den Berufen, die die Mädchen
in der Anstalt erlernen, mehr auf Geschicklichkeit und entsprechendes
Berufsinteresse, als auf eine bestimmte Allgemeinbegabung ankommt.
Doch zeigten sich auch bei den Lehrmädchen, Köchinnen, Hausgehilfinnen,
Gärtnerinnen und Landarbeiterinnen graduelleUnterschiededer
Intelligenz. Die Anzahl der Zöglinge, die gute Allgemeinintelligenz
aufwiesen und der unterdurchschnittlich und schwach Begabten war in
den einzelnen Berufen dementsprechend differenziert. Das Ergebnis der
psychotechnischen Untersuchung wurde bei der Berufsberatung weitgehend
t
18
berücksichtigt, wenn die Mädchen in eine Berufslehre eintreten oder nach
der Entlassung kaufmännische Berufe ergreifen sollten. Minderbegabte
wurden dadurch von Berufen abgehalten, für welche sie sich nicht geeignet
hätten.
Charakterliche und moralische Mängel bilden das
wesentlichste Erschwernis der Berufseinordnung verwahrloster und krimi¬
neller Jugendlicher. Wir stoßen bei diesen Jugendlichen auf alle Formen
und Grade der Arbeitsunlust. Die auch im Bereich des Normalen zu
begegnende partielle Arbeitsunlust, die sich nur bei bestimmten
Arbeiten geltend macht, steht mit den zahlreichen Fehlgriffen bei der
Berufswahl im Zusammenhang. Sie wird oft als allgemeine Arbeitsun¬
willigkeit ausgelegt. Die Arbeitsunlust und -unwilligkeit bei bestimmten
Arbeiten schließt aber keineswegs anderwärtige Berufstüchtigkeit aus.
Auch Konzentrationsschwäche, Nervosität, selbst der Schwachsinn werden
mit allgemeiner Faulheit verwechselt.
Im Zusammenhang sowohl mit vernachlässigter und ver¬
fehlter Erziehung, wie mit schlechter Veranlagung findet man
den Arbeitsantrieb jugendlicher Rechtsbrecher oft stark verringert. Die
in ungünstigen familiären und sozialen Verhältnissen aufgewachsenen
Kinder, vor allem die ausgesprochenen Verwahrlosungs- und Verelendungs¬
fälle, werden nicht allein in wichtigen Lebensbedürfnissen gekürzt, es
unterbleibt bei ihnen zum Nachteil ihrer Entwicklung auch eine allmähliche
Gewöhnung an eine Beschäftigung. Die genaue Erforschung ihres Klein¬
kindalters ergibt in vielen Fällen, daß sich ihr natürlicher Spieltrieb zwar
äußerte, aber überhaupt nicht oder nicht kindgemäß befriedigt wurde.
Das Spiel ist aber für das Kind zur Übung seiner seelischen und geistigen
Kräfte genau so lebensnotwendig wie der stete Gebrauch seiner körper¬
lichen Kräfte. Außerdem gibt das Milieu, in dem die vernachlässigten
Kinder aufwachsen, keine oder nur geringe geistige Anregung.
Den Anforderungen der Schule stehen die ver¬
wahrlosten Kinder mangelhaft vorbereitet gegen¬
über. Es fehlt ihnen der Vorstellungsschatz, den schon die Schule voraus¬
setzt; ihre Phantasie ist früh verflacht, ihr Gedächtnis ungeübt; sie fassen
viel schwerer auf als Kinder, deren Anlagen schon früher geweckt wurden.
Hinzu kommt, daß sie nicht, wie die in geordneten Verhältnissen auf¬
wachsenden Kinder, zum Lernen entsprechend angehalten werden, so daß
sie manchmal in ihrer gesamten geistigen Entwicklung Zurückbleiben. Aus
Aufstellungen über die Vorbildung schulmündiger Zöglinge der Anstalten
für Erziehungsbedürftige geht hervor, daß die Verwahrlosungsfälle zu¬
meist über die erste, zweite Hauptschulklasse nicht hinausgekommen sind.
Sie besuchen häufiger Hilfsschulen, als es der Verbreitung anlage¬
mäßig bedingter Intelligenzdefekte entsprechen würde. Schulstürzen
ist bei den schlecht beaufsichtigten Kindern sehr verbreitet, doch spielen
bei diesem Merkmal der Dissozialität auch Anlagemängel eine bedeutende
Rolle. Es kommt beim Schulstürzen manchmal eine Labilität, die zu
beruflicher Unbeständigkeit führt oder auch ein ausgesprochener Hang
zur Vagabundage zum Ausdruck. Inden Schulberichten der Verwahrlosungs¬
fälle finden wir neben Klagen über Faulheit und schlechten Fortgang auch
zahlreiche Hinweise auf verübte Diebstähle, Unsittlichkeiten, Roheiten usw.
Durch die früh ausgeprägte Arbeitsunwilligkeit und die Neigung zu
kriminellen Handlungen scheitern viele vernachlässigte Jugendliche, sobald
sie in das Berufsleben eintreten. Die Unzulänglichkeit ihrer
lö
Erziehung und beruflichen Vorbereitung tritt besonders
zutage, wenn sie den Anforderungen von Berufen gegenüberstehen, die
eine geschulte Intelligenz, erweckte Anlagen, gleichmäßige Arbeitslei¬
stungen, ausgeprägten Gemeinschaftssinn und unbedingte Verläßlichkeit
erfordern.
Eine starke Verkümmerung des Arbeitsantriebes tritt vor allem auch
als Folge von Verwöhnung und Verzärtelung ein. Es handelt sich
hier um einen in weiten Bevölkerungskreisen noch immer
verbreiteten Erziehungsfehler, der die gesamte cha¬
rakterliche und moralische Entwicklung der Jugend¬
lichen auf das ungünstigste beeinflußt. Die schweren
Formen der Verwöhnung, die auch zu besonderen Graden der Faulheit
führen, ergeben sich zumeist aus bestimmten familiären Konstellationen.
So ist bekannt, daß die einzigen, ältesten und jüngsten Kinder, sowie
Großmutterkinder, häufig verzärtelt werden. Elterlicher Zwist führt zu
schweren Verwöhnungsformen, wenn beide Teile um die Gunst der Kinder
werben. Stiefmütter und Stiefväter verwöhnen manchmal ihre Kinder
aus Furcht, daß sich diese lieblos behandelt fühlen könnten. Kränkliche
Kinder werden aus Mitleid verwöhnt. Selbst bei Waisenkindern, die in
Heimen und Anstalten aufwachsen, zeigen sich manchmal Symptome der
Überbefürsorgung.
Die verwöhnten Kinder sind darauf eingestellt, alles zu erreichen,
ohne sich selbst anstrengen zu müssen. Da man ihnen alle Schwierigkeiten
aus dem Wege räumt und jeden eigenen Einsatz erspart, werden sie
faul, mutlos und lebensuntüchtig. Besonders arg sind die
Folgen der Verwöhnung, wenn die Eltern, vor allem die Mütter, selbst hin¬
sichtlich Arbeit und Pflichterfüllung ein schlechtes Beispiel geben. Neben
ausgesprochener Faulheit kennzeichnet die verwöhnten Jugendlichen auch
rücksichtsloser Egoismus. Seit frühester Kindheit gewohnt, daß man
ihnen jeden Wunsch erfüllt, schrecken sie später vor nichts zurück, um
die Erfüllung ihrer Wünsche zu erzwingen. Sie zeigen sich überaus brutal,
wenn endlich der Versuch unternommen wird, ihnen energisch entgegen¬
zutreten. Es kommt bei ihnen häufig zu Gewalttätigkeiten, die sich haupt¬
sächlich gegen die Mütter richten, aber auch zum Schuldenmachen, zu
Familiendiebstählen und anderen allmählich schwererwiegenden kriminellen
Handlungen. Wenn nicht rechtzeitig die erforderlichen Erziehungsma߬
nahmen getroffen werden, entwickeln sie sich zu regelrechten Betrügern
und Hochstaplern, die die Gerichte wiederholt beschäftigen.
In der Schule zeigen sich die verwöhnten Kinder interesselos, un¬
aufmerksam und undiszipliniert. Die Lernerfolge entsprechen in vielen
Fällen nicht der Begabung. In den Schulberichten verwöhnter Kinder
findet sich oft der Vermerk, daß sie besser abschneiden könnten „wenn
sie nur wollten“. Die Verwöhnten gelangen aber auch zu keiner richtigen
Einstellung in der Berufsfrage. Es tritt dabei der gleiche Unemst
zutage, der sich bei ihnen in der Schule zeigt. Sie denken nur daran,
sich alles möglichst bequem zu machen, sich momentane Vorteile zu
verschaffen; Gedanken über ihre Zukunft machen sie sich aber nicht. S o
kommt es bei ihnen oft gar nicht zur Bildung eines
Berufswunsches. Selbst im 16. und 17. Lebensjahr, also in einem
Alter, in welchem die Jugend allgemein die für die Berufswahl erforderliche
Reife erlangt hat, sind sie zumeist noch ganz unschlüssig, was sie eigent¬
lich werden sollen. Die Unentschlossenheit in beruflichen Fragen geht
2 ’
20
auch mit neurotisch gesteigerter Berufsangst einher. In
anderen Fällen werden zwar Berufswünsche vorgebracht, doch sind
sie oberflächlich, phantastisch und nicht zu verwirklichen. Unter dem
Einfluß des regen Kinobesuches entsteht bei ihnen verhältnismäßig oft der
Berufswunsch, Filmschauspieler zu werden, auch wenn sie keinerlei Talent
für diesen Beruf haben. Berufswünsche wie: Bankdirektor, Jockei,
Forschungsreisender usw. zeigen ebenfalls, wie wenig der Wirklichkeits¬
sinn der verwöhnten Jugendlichen entwickelt ist. Für eine geregelte
Handwerkstätigkeit liegt vor allem bei den ausgesprochenen Hochstapler¬
typen, die sich in großer Zahl aus den verwöhnten Jugendlichen rekrutieren,
nur wenig Interesse vor. Eher bevorzugen sie noch kaufmännische Berufe,
für die ihnen die moralische Berufseignung vollkommen mangelt.
Im B e r u f s leben zeigen sich die verwöhnten Jugendlichen entmutigt,
sobald sie auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen und nicht alles nach
ihrem Willen geht. Sie geben ihre Arbeit oft schon nach wenigen Tagen
und in rascher Aufeinanderfolge auf. Trotzdem geben sie aber fast regel¬
mäßig den Arbeitgebern die Schuld für ihr Versagen, eine Auffassung,
in der sie von ihren unvernünftigen Eltern nur zu oft bestärkt werden.
Die geringe Arbeitslei s-tung und Ausdauer bildet häufig
den Entlassungsgrund. Sie werden aber auch wegen frechen, unbotmäßigen
Benehmens und disziplinären Anständen aller Art und nicht zuletzt wegen
krimineller Verfehlungen oft gekündigt. Aus den in den Anstalten für
Erziehungsbedürftige aufgestellten Berufsanamnesen geht hervor, daß e.s
bei nahezu allen Verwöhnungsfällen vor dem Eintritt in die Anstalt zu
mehrmaligem Lehrstellenwechsel, vereinzelt sogar bis zu sechs¬
maligem Lehrstellenwechsel gekommen ist. Es hat sich gezeigt, daß
jugendliche Hochstapler durch ihr vorteilhaftes Aussehen, sicheres Auf¬
treten und ihre gewinnenden Umgangsformen es selbst in Zeiten größter
Arbeitslosigkeit leicht zuwege brachten, sich immer wieder einen Posten
zu verschaffen.
Ebenso nimmt der Berufswechsel der verwöhnten
Jugendlichen sehr großen Umfang an. Während nach der Auf¬
stellung der österreichischen Berufsämter aus den Jahren 1936 und 1937
ein Berufswechsel, der 10—15 v. H. der Jugendlichen umfaßte, als normal
und zum Teil durch die damals ungünstigen Wirtschaftsverhältnisse be¬
dingt anzusehen war, ging aus meiner in Kaiserebersdorf aufgestellten
Statistik hervor, daß zur gleichen Zeit 65 v. H. der Zöglinge, deren Abwegig¬
keit auf Verwöhnung zurückzuführen war, vor dem Eintritt in die Anstalt
einen Berufswechsel vollzogen hatten. Bei etwa der Hälfte dieser Zöglinge
handelt es sich um mehrfachen Berufswechsel, in manchen Fällen schien
es sogar vor lauter Anfängen zu keiner geregelten Berufseinordnung
kommen zu können. Auch heute bereiten die im Elternhaus venvöhnten
Jugendlichen trotz verschiedener gesetzlicher Maßnahmen zur Unter¬
bindung des Arbeits- und Berufswechsels den Arbeitsämtern erhebliche
Schwierigkeiten. Sie sind auch im Pflichtjahr, im Land- und Arbeits¬
dienst wenig ausdauernd und unstet. Der Berufswechsel der
verwöhnten Jugendlichen ist durch absolute Will-
kürlichkeit und Regellosigkeit gekennzeichnet. Die
durch Verwöhnung und Verweichlichung hervorgerufenen Charakter¬
mängel- und defekte wirken sich bei jeder Berufstätigkeit ung^ünstig aus,
selbst wenn die jungen Menschen für den gewählten Beruf — wie ärztliche
und psychotechnische Überprüfungen zeigen — körperlich und geistig
gut geeignet sind.
21
Bei einer genauen Untersuchung des Gesundheitszustandes und der
früheren Lebensweise der Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige
hat es sich gezeigt, daß ihre Faulheit in vielen Fällen mit Unter¬
ernährung, falscher Ernährung, anhaltend unge-
nügendemSchlaf und ihrer unregelmäßigen und lasterhaften Lebens¬
weise vor der Anstaltsunterbrin|rung zusammenhing. Sittliche De-
pravation bildet insbesondere bei weiblichen Jugendlichen eine Ursache
der Faulheit. Auch der von Hanselmann als „Wachsturasfaul-
h e i t“ bezeichneten mehr vorübergehenden Form der allgemeinen Arbeits¬
unlust, die mit Stockungen und Beschleunigungen des Wachstums im
Pubertätsalter und der damit verknüpften Umsetzung und Neubildung
von Stoffen im Körper zusammenhängt, begegnen wir bei kriminellen
Jugendlichen relativ oft. Die allgemeine chronische Arbeitsunlust wird
zum Teil durch organische Erkrankungen, wie Affektionen der
Lungendrüsen, verurs^lcht. Wir treffen sie bei Zöglingen der An¬
stalten für Erziehungsbedürftige an, deren Organismus durch schwere
Erkrankungen der Eltern, wie Tuberkulose und Lues, schon in der Anlage
geschädigt, zumindest geschwächt ist. Sie steht auch mit endokrinen
Störungen im Zusammenhang, die einen früh auftretenden, verstärkten
Fettansatz verursachen. Stark ausgeprägte chronische Faulheit wurde
auch bei Postenzephalitikem und nach anderen Gehirnerkran¬
kungen beobachtet.
Die schweren Formen der Arbeitsscheu sind sowohl endogen
als exogen bedingt. Die kriminalbiologischen Untersuchungen der arbeits¬
scheuen ländlichen Vaganten und Bettler ergeben übereinstimmend,
daß es sich zum größten Teil um leichtere und schwerere pathologische
Fälle, um Abkömmlinge von Trinkern, Luetikern, Geisteskranken usw.
handelt. Auf die rassische Minderwertigkeit dieser asozialen
Primitiven (Kulturarmen) und die Unbeeinflußbarkeit ihrer Erbanlagen
und Rasseneigenschaften hat Ritter hingewiesen. Sie führen nach Art
der Zigeuner, mit welchen sie zum Teil versippt sind, auf Kosten der
bodenständigen Bevölkerung ein unstetes, ungebundenes Leben. Ihre
Arbeitsscheu läßt sich ebenso wie die Kriminalität durch ganze Genera¬
tionen zurückverfolgen, sie liegt ihnen im Blut. Bei den Vagabunden liegt
aber auch ausnahmslos eine bis in die früheste Kindheit zurückreichende
körperliche, geistige und moralische Verwahrlosung und erziehliche Ver¬
nachlässigung vor. Ihre starke Abneigung gegen die Landarbeit hängt
mit den besonderen Anforderungen zusammen, die gerade diese Arbeit
hinsichtlich Fleiß, Ausdauer, Pflichtbewußtsein und Gemeinschaftssinn
stellt.
Zu schweren Formen der Arbeitsscheu kommt es auch, wenn sich auf
dem Boden einer neuropathischen Konstitution Verwöhnung und der Ein¬
fluß eines verweichlichenden Milieus auswirken oder eine auf Anlage und
Erziehungsmängel zurückführende Arbeitsunwilligkeit noch durch Fehl¬
griffe bei der Wahl des Berufes verstärkt wird.
Auf die Ursache beruflicher Einordnungsschwierigkeiten wird auch
durch die Ergebnisse psychiatrischer Untersuchungen Licht geworfen.
Es zeigt sich, daß die jugendlichen Psychopathen auf eine verfehlte Berufs¬
wahl viel vitaler und heftiger reagieren, als dies normale Jugendliche
tun. Eine Berufswahl, die nicht den Stimmungsanomalien
jugendlicher Psychopathen entspricht, führt bei ihnen regelmäßig zu
Berufswechsel und sozialen Entgleisungen. Die verschlossenen depres¬
siven Naturen, die die Geselligkeit meiden, lehnen Berufe ab, die viel
22
Abwechslung und Umgang mit Menschen bringen. Sie eignen sich z. B.
nicht für den Friseurberuf, oder als Verkäufer, da sie wortkarg und oft
unfreundlich sind. Umgekehrt sagen den heiteren, lebensfrohen Hyper-
thymikern Berufe nicht zu, bei deren Ausübung sie sich selbst über¬
lassen sind. Die Berufseinordnung jugendlicher Hysteriker wird vor
allem durch ihre Launenhaftigkeit und Unverträglichkeit erschwert. Auch
nervöse, ängstliche Naturen, die sich für keinen Beruf entscheiden können,
ohne Zwang bei keiner Arbeit ausharren, sind unter den jugendlichen Psy¬
chopathen anzutreffen.
Bemerkenswert ist die Unfallsdisposition vieler jugendlicher
Rechtsbrecher, vor allem der Psychopathen. Sie erleiden bei der Arbeit
leicht selbst verschuldete Unfälle. Aus einer Statistik, die ich über die
Unfälle auf stellte, welche die Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürf¬
tige vor ihrer Anstaltsunterbringung erlitten hatten, ging hervor, daß die
Unfallshäufigkeit bei Epileptikern, geistig defekten und willens¬
schwachen Psychopathen und bei Lues congenita am größten ist. Die Unfalls¬
neigung tritt auch bei Trinkerkindern stärker hervor. Nervöse, zerstreute
und leicht ermüdbare Jugendliche weisen allgemein eine erhöhte Unfalls¬
ziffer auf. Linkshändigkeit habe ich bei 12 % der Zöglinge der
Anstalt Kaiserebersdorf und 8 % der Zöglinge der Anstalt Hirtenberg
festgestellt, wobei es sich bei den Linkshändigen in beiden Anstalten relativ
oft um Psychopathen handelte. Einige linkshändige Jungen hatten vor
ihrer Anstaltsanhaltung Unfälle erlitten und Materialschäden verursacht,
weil sie bei Maschinen verwendet wurden, die die Bedienung mit der rechten
Hand erforderten.
Die Nichteignung für bestimmte Berufe ist bei einem Teil der krimi¬
nellen Jugendlichen auf moralischem Gebiet gelegen. Es zeigt sich, daß
bestimmte, zunächst verborgen gebliebene kriminelle Anlagen
manchmal erst bei der Berufstätigkeit zum Durchbruch kommen. In
anderen Fällen ergibt sich der Nachweis, daß die bei der Berufstätigkeit
zutage tretende kriminelle Veranlagung schon lange vor dem Berufsein¬
tritt zur Verübung krimineller Handlungen führte.
Wie sich aus meinen Untersuchungen der Berufswünsche verwahr¬
loster und straffällig gewordener Jugendlicher und der Motive ihrer
Berufswahl ergibt, bringen sie Berufen, bei welchen sich kriminelle
Triebhaftigkeit leicht auswirken kann oder eine Gefährdung durch das
Berufsmilieu eintritt, manchmal auffallendes Interesse entgegen. Gerade
bei jenen Jugendlichen, bei welchen ungünstige Merkmale wie sehr früh
beginnende Neigung zu Gesetzesverletzungen in Verbindung mit Hyper-
thymie und Gefühlsstumpfheit zu beobachten sind, zeigt sich das Bestreben,
eine Berufswahl zu treffen, bei welcher sich ihre schädlichen Neigungen
leicht auswirken können. Die Entstehung der Berufswünsche
fällt bei kriminell veranlagten Jugendlichen relativ oft in ein Lebensalter,
in welchem es sonst allgemein noch nicht zur Bildung feststehender und
stärker betonter Berufswünsche kommt. So hat sich z. B. bei zahlreichen
^ Betrügern, Schwindlern und Fälschern herausgestellt, daß ihr besonderes
Interesse für kaufmännische und andere Berufe, bei welchen sich ihre
Betrugsneigungen leicht entfalten konnten, schon lange vor der erlangten
Schulmündigkeit bestand. Ein Schüler in Kaiserebersdorf, der auf Grund
der gerichtlichen Feststellungen bereits seit dem sechsten I^bensjahr Dieb¬
stähle und Einbrüche verübt und zuletzt auch einen Opferstock erbrochen
hatte, wobei er selbstverfertigte Einbrecherwerkzeuge verwendete, erklärte
23
schon als lljähriger, unbedingt Schlosser werden zu wollen. Ein Junge,
der sowohl seine Geschwister, wie mit besonderer Grausamkeit auch Tiere
gequält hatte, trug sich als lOjähriger mit dem Wunsch, Fleischer zu
werden. In Verbindung mit Hyperthymie tritt insbesondere auch bei
Mädchen sehr früh die Neigung hervor, Berufe zu ergreifen, die für charak¬
terlich ungefestigte und kriminell veranlagte Jugendliche mannigfache
Gefahren bergen.
Als Begründung des Berufswunsches wird in diesen Fällen überein¬
stimmend angegeben: Freude an der Arbeit, Interesse; manchmal erfolgte
der Hinweis, daß diese oder jene Person des Bekanntenkreises den gleichen
Beruf ausübe. Dadurch wird klar, daß es sich wesentlich um eine von
innen her bestimmte, instinktive Berufsneigung handelt. Die
den Berufswunsch beeinflussende oder beherrschende Verbrechensneig^ung
zeigt sich in einem primären Hang zu bestimmten Verfehlungen und
Gesetzesverletzungen, während die Neigung zu vielgestaltiger Kriminalität
relativ selten anzutreffen ist.
Prof. S z o n d i, der Leiter des Heilpädagogischen Instituts in
Budapest, vertritt die Auffassung, daß auch die rezessiven Genen, mit
deren Effekt sich die Erbbiologie nur wenig beschäftigt, im latenten Zu¬
stand nicht wirkungslos sind, sondern die Erscheinung der dominanten
Genen zu beeinflussen streben. Die Instinkttendenzen, die an die
latenten rezessiven Genen gebunden sind, wollen in irgend einer Form an
die Oberfläche kommen und dem Individuum bei der instinktiven Berufs¬
wahl die Richtung geben. Szondi bedient sich zum Zwecke der Feststellung
der Instinktkonstitution des „G e n o t e s t s“, bei dem die Probanden vor
die Aufgabe gestellt sind, aus mehreren Serien von Photographien schwerer
pathologischer Fälle — bei welchen es sich um Geisteskrankheiten und
Instinktanomalien handelt — sympathische und unsympathische Physio¬
gnomien auszusuchen. Auf Grund der Beantwortung wird ein Instinkt¬
profil aufgestellt. Die instinktdiagnostische Methode führte hinsichtlich
der instinktiven Berufswahl, Freundeswahl usw. experimentell zu Ergeb¬
nissen, die sich mit der Beobachtung decken, daß jugendliche Rechtsbrecher,
die nach ihrer Anlage die gleichen Gesetzesverletzungen begangen haben,
sich zueinander hingezogen fühlen und auf Grund ihrer Ähnlichkeit zu
gleichen Berufen und zu einem gleichartigen Verhalten bei der Arbeit
neigen.
Bei Jugendlichen tritt die Bedeutung des Anlagefaktors sowohl in
bezug auf die Kriminalität wie auf die Berufswahl allgemein deutlicher
hervor als bei älteren Personen, deren Phänotypus durch eine weitaus
größere, manchmal verwirrende Zahl von Spuren des Lebens gezeichnet ist.
Eine Häufung bestimmter konstitutioneller Merk¬
male der jugendlichen Rechtsbrecher, je nachdem ob sie uns als Ein¬
brecher, Betrüger, Sittlichkeitsverbrecher usw. begegnen, ist besonders
dann festzustellen, wenn wir jene Merkmalträger ins Auge fassen, die
immer wieder die gleichen Gesetzesverletzungen begehen. In diesen Fällen
liegt auch eine weitgehende Übereinstimmung in bezug auf
die B e r u f s n e i g u n g, die Berufswahl und das beruf¬
liche Verhalten vor. Bei den einmalig Straffälligen,
deren Zahl größer ist, treten die spezifischen konstitutionellen Züge zu¬
rück oder überhaupt nicht in Erscheinung. Am Zustandekommen ihrer
Straftaten sind oft äußere Faktoren, wie Gelegenheit, Verführung, Not¬
lage und Irritation durch Familienkonflikte ausschlaggebend beteiligt. Es
24
kommt dadurch manchmal bei den Jugendlichen zu kriminellen Verfeh¬
lungen, die ihrer Natur ganz widersprechen. Die einmalig Straffälligen
unterscheiden sich nicht nur in konstitutioneller Beziehung, sondern damit
im Zusammenhang auch in ihrem beruflichen Verhalten von den wiederholt
Straffälligen der gleichen Deliktgruppe. Man findet sie manchmal in
Berufen, die die typischen Merkmalträger der gleichen Deliktgruppe zu
meiden pflegen.
In Aufstellungen über die Häufigkeit bestimmter konstitutioneller
Merkmale und Merkmalsbeziehungen fallen in den einzelnen Deliktgruppen
auch jene jugendlichen Rechtsbrecher aus dem Rahmen, die zu viel¬
gestaltiger Kriminalität neigen. Mehr als durch äußere Merk¬
male weichen sie in rassischer Hinsicht von der Mehrzahl der übrigen
jugendlichen Rechtsbrecher ab.
Nach dem Ausscheiden der Fälle einmaliger und vielseitiger Krimi¬
nalität ergibt sich in den verschiedenen Deliktgruppen in bezug auf die
konstitutionelle Zugehörigkeit und das berufliche Verhalten eine weit¬
gehende Übereinstimmung. Bei den als Einbrecher und Kassen-
schränker wiederholt straffällig gewordenen Jugendlichen treten die
Merkmale des Körperbaues her\'or, die nach den Statistiken die Voraus¬
setzung für die Neigung zu „R e i z b e r u f e n“ bilden. Es handelt sich
hier um vorwiegend muskulär-athletische Konstitutionen,
die zu einer die gesamte Körpermuskulatur beanspruchenden Tätigkeit hin¬
neigen. Es werden von ihnen Berufe bevorzugt, die die Bearbeitung eines
harten Materials — wie Eisen, Stein oder Holz — erfordern, eine emotionelle
Einstellung, die sich auch bei den zu Gewalttätigkeiten neigenden rohen
und gefühlsstumpfen Psychopathen findet. Wegen Ein¬
bruchs straffällig gewordene, manchmal auch mehrfach vorbestrafte
Schlosser, Mechaniker, Klempner und Installateurlehrlinge werden von
ihren früheren Arbeitgebern als besonders fleißige und tüchtige Arbeiter
geschildert. Psychotechnische Nachuntersuchungen lassen diese Angaben
zufolge Feststellung besonders guter technischer Begabung und guter
Geschicklichkeit in vielen Fällen durchaus glaubhaft erscheinen, jedoch
zugleich auch erkennen, daß es sich in diesen Fällen um jugendliche Rechts¬
brecher handelt, die der Gemeinschaft besonders gefährlich werden können.
Unter den wegen Gewalttätigkeiten, Körperver¬
letzungen und Widersetzlichkeiten straffällig gewordenen
Jugendlichen trifft man Typen sehr verschiedenartiger Prägung an. Bei
gefährlichen Gewalttätern, die in den Anstalten für Erziehungsbedürftige
angehalten wurden, handelte es sich fast durchweg um Vagabunden, die
vor allem durch ihre Zugehörigkeit zu weitverzweigten, unseßhaften
Gaunersippen gekennzeichnet sind. Körperliche Kraft, die den
Jugendlichen besonders zu eigen ist, die den „R e i z b e r u f e n“ zustreben
oder angehören, begünstigt diese Form der Kriminalität, wenn sie mit
charakterlicher und moralischer Hemmungsschwäche einhergeht. Die
Gewalttäter begegnen uns relativ oft als Maurer, Schlosser, Schmiede und
Bäcker. Nervöse Reizbarkeit wird durch Hitze bei der Ausübung
der Berufstätigkeit gesteigert. Zum Teil handelt es sich bei den Gewalt¬
tätern um derbere, primitive Naturen, die der Handwerkstätigkeit körper¬
lich anstrengende Gelegenheitsarbeiten vorziehen. Gelangen sie in Berufe,
die ihrer Wesensart widersprechen, tritt die Neigung zu aggressiven Hand¬
lungen noch stärker hervor. Durch eine verfehlte Berufswahl und un¬
günstige Erziehungs- und Umweltbedingungen wird die Neigung zu ge¬
waltsamer Auflehnung auch primär hervorgerufen. Bei den Verwöhnungs-
25
fällen richtet sie sich in der Kindheit geradezu instinktiv gegen jene
Personen, die sie durch fortgesetzte Verwöhnung zu brutalen und rück¬
sichtslosen Egoisten erziehen.
Die konstitutionelle Zugehörigkeit der einmalig straffälligen jugend¬
lichen Gewalttäter weicht von jener der fortgesetzt rückfälligen Rohlinge
und Gewalttäter erheblich ab, sodaß man bei ihnen alle Konstitutionsformen
in der gewohnten Verteilung vertreten findet. Manchen von ihnen möchte
man nach ihrem Äußeren die Befähigung zur Verübung von Gewalttätig¬
keiten nicht zumuten. Die einmalig Straffälligen üben die verschiedensten
Berufe aus, auch jene, welche von den körperlich Schwächsten bevorzugt
werden.
Die erbliche Konstitution der hauptsächlich in städtischem Milieu
anzutreffenden jugendlichen Hochstapler, der raffinierten
Betrüger und Fälscher und die damit verknüpfte Berufsneigung
unterscheidet sich grundlegend von jener der Einbrecher und rückfälligen
Gewalttäter. Man hat es hier im wesentlichen mit leptosom-asthe¬
nischen Konstitutionen zu tun, die Berufe entschieden ablehnen,
die zu einer Beanspruchung der gesamten Muskulatur führen. Sie bevor¬
zugen die Berufe der Reizmangelgruppe, besonders kaufmännische
Berufe. Starke Leptosomie und die damit verknüpfte Berufsneigung ist
manchmal schon auf kindlicher Entwicklungsstufe deutlich ausgeprägt.
Wir finden bei dieser Gruppe jugendlicher Rechtsbrecher neben den
erwähnten konstitutionellen Merkmalen allgemein gute bis durch¬
schnittliche Intelligenz, normale Kritikfähigkeit und lebhafte
Phantasietätigkeit, die bis zur pseudologischen Erinnerungstäuschung
hcranreicht. Die Stimmungslage ist optimistisch und in vielen Fällen
hyperthymisch, woraus sich zum Teil Interesse für Berufe ergibt, die viel
Abwechslung und Umgang mit Menschen bringen. Es liegt allgemein
erhöhte Vortäuschungsfähigkeit und mit Hypomanie venv’andte Redselig¬
keit vor. Die Überzeugungskraft jugendlicher Hochstapler und Betrüger
steht mit hypomanischer Motorik und Körperhaltung, ihre Agilität mit
willkürlicher Affektsteigerung im Zusammenhang. Die schon früh zutage
tretende Unterentwicklung der ethischen und sozialen Gefühle und die
allgemeine Hemmungsschwäche führt bei ihnen immer zu kriminellen Ver¬
fehlungen, wenn sie sich in Berufen befinden, die die Gelegenheit zu
Betrugshandlungen geben.
Bei den zu primitiveren Gesetzesverletzungen
neigenden Betrügern und Schwindlern ist das konstitutio¬
nelle Bild gegenüber jenem der Hochstapler verändert, vor allem tritt der
reine leptosome Typus seltener in Erscheinung. Die Intelligenz, vor allem
die Phantasie ist geringer, manchmal unterdurchschrdttlich und sogar
.schwach entwickelt, doch täuschen Schlauheit und Verschlagen¬
heit Intelligenz vor. Bei den vom Lande kommenden jugendlichen Be¬
trügern macht sich nicht selten eine primitive Veranlagung zum Schau¬
spielen, Täuschen und Übervorteilen bemerkbar. Ihre Beobachtungsgabe
ist ungemein gut entwickelt, auch findet sich bei ihnen ein hoch entwickelter
Spürsinn für menschliche Schwächen, der bei nicht seßhaften Sippen hoch¬
gezüchtet ist.
Unter den jugendlichen D i e b e n ist nur bei den Taschendieben
eine Häufung spezifischer konstitutioneller Merkmale festzustellen. Die
gebräuchliche Bezeichnung „Langfinger“ ist für sie durchaus zutreffend.
Auf Grund ihrer teils konstitutionell bedingten Befähigung zu gewissen
Tricks tritt bei den Taschendieben eine erhöhte Rückfälligkeit ein.
26
Die wegen einfachen Diebstahls straffällig gewordenen Jugendlichen
trifft man in überaus großer Anzahl als Hilfsarbeiter an. Die hohe
Kriminalitätsziffer der Hilfsarbeiter hängt wesentlich
damit zusammen, daß sie in mehrfacher Beziehung eine Minusauslese dar¬
stellen. Ihre schlechte Veranlagung geht daraus hervor, daß zirka 20 v. H.
von ihnen Schwachsinnsformen verschiedener Grade und weitere 70 v. H.
unterdurchschnittliche Allgemeinintelligenz aufweisen. Zumeist handelt
es sich um Jugendliche, die Handwerksarbeiten oder andere qualifizierte
Arbeiten wegen unzulänglicher Begabung und Schulbildung nicht erlernen
können und auch gamicht erlernen wollen. Außerdem ist die soziale
Struktur der ungelernten Arbeiter besonders ungünstig. Bei keiner Gruppe
von Berufsausübenden ist außereheliche Geburt, Verwaisung, familiäre
Zerrüttung und Verarmung so oft anzutreffen wie bei den jugendlichen
Hilfsarbeitern, so daß ihre Kriminalität zum Teil durch schlechte
Erziehung und Notlage bedingt ist.
Bei den leichteren Sittlichkeitsdelikten vor allem der
männlichen Jugendlichen zeigt es sich, daß es sich um Verirrungen handelt,
die nicht als Symptome einer dauernden Neigung zu Entgleisungen der
gleichen Art angesehen werden können. Aus Rückfallstatistiken geht her¬
vor, daß nach dem 18. und 19. Lebensjahr relativ selten eine neuerliche
Verurteilung wegen eines Sittlichkeitsverbrechens eintritt.
Wiederholte und schwerere Sittlichkeitsdelikte der Jugendlichen
hängen mit gesteigerter Triebhaftigkeit, diese zum Teil mit dem körperlich¬
konstitutionellen Moment der Frühentwicklung zusammen. Jungen,
deren Denken und Fühlen zu früh auf das Sexuelle gelenkt Avurde, zeigen
beruflichen Dingen gegenüber die gleiche Interesselosigkeit, die bei vielen
sittlich verdorbenen und depravierten Mädchen zu beobachten ist. Auch
bei stärker hervortretenden homosexuellen Neigungen dürfte zum
Teil konstitutionelle Gebundenheit bestehen, in dem sich die Körperform der¬
jenigen nähert, welcher die abnorme Geschlechtsempfindung entspricht. In
gleicher Weise entspricht der Charakter der Anomalie dieses Empfindens. In
der Berufsneigung homosexuell veranlagter Jugend¬
licher kommt oft der Wunsch zum Ausdruck, möglichst viel mit Personen
des gleichen Geschlechts in Kontakt zu kommen, sie zu bedienen, zu be¬
treuen, zu belehren usw. Besonders bevorzugte Berufe sind: Friseur,
Schneider, kaufmännischer Lehrling, Kellner, Koch, Tänzer, Musiker und
andere. Die körperlich anstrengende Arbeit der „Reizberufe“ wird von den
homosexuellen Jugendlichen meist gemieden. Sexuell konträr empfindende
Mädchen streben unter anderem Berufen zu, in welchen ihnen im Umgang
mit weiblichen Personen eine männliche Rolle zukommt. Die jugendlichen
Homosexuellen sind in den Berufen, welchen sie zustreben, sehr guter
Leistungen fähig, jedoch werden sie zufolge der Durchschlagskraft ihrer
abwegigen Neigungen oft straffällig. Ebenso würden sich sadistisch
veranlagte Jugendliche in den von ihnen bevorzugten Berufen sehr be¬
währen, wenn nicht immer ihre kriminellen Neigungen durchschlagen
würden.
Jugendliche, bei welchen sexuelle Triebhaftigkeit in
Verbindung mit Schwachsinn auftritt, weisen auffallend viel
degenerative Merkmale auf. Wir treffen sie in Berufen an, die
den Schwachsinnigen offen bleiben, meist als Hilfsarbeiter. Ihr Anteil am
Landstreichertum und an der Prostitution ist beträchtlich.
Die verbreitetste Basis für die sittlichen Verfehlungen der Jugendlichen
bilden nach einschlägigen kriminalbiologischen Unter.suchungen charakte-
27
rologische Hemmungsschwächen, bei welchen es sich teils um erblich be¬
dingte Züge, teils um erworbene Mängel und Defekte des Charakter¬
gefüges handelt. Mit den Berufsvorstellungen leichtsinniger, haltloser
Jugendlicher vor allem der Großstädte, assoziieren sich manchmal schon
früh Vorstellungen von mühelosem und raschem Gewinn, Vergnügungen
und Genuß. Sie fühlen sich triebhaft zu Berufen hingezogen, in deren
ungünstigem Milieu sie von Stufe zu Stufe sinken.
Neben der Häufigkeit äußerer Entartungsmerkmale kennzeichnet die
zu unseßhafter Lebensweise und besonders früher Kriminalität neigenden
jugendlichen Rechtsbrecher die Zugehörigkeit zu den verzweigten Wander-
und Verbrechersippen. Rassische Fremdart, Zersetzung
und Minderwertigkeit ist bei ihnen verbreitet.
Die Zusammenhänge, die sich zwischen der Kriminalität und der
Berufswahl ergeben, sind für die Berufsberatung verwahrloster und straf¬
fällig gewordener Jugendlicher von größter Bedeutung und erfordern be¬
sonders vom Gesichtspunkt der Verbrechensverhütung Beach¬
tung. Durch Ausschaltung einer verfehlten Berufswahl als konflikt¬
bildendem und kriminalitätsfördemdem Faktor kann auf die soziale Ent¬
wicklung der Jugendlichen ein günstiger Einfluß genommen werden. Um
der Straffälligkeit bzw. Rückfälligkeit vorzubeugen, muß nach meinen an
den Anstalten für Erziehungsbedürftige gesammelten Erfahrungen bei der
Feststellung der Berufseignung und der Entscheidung über die Berufs¬
ausbildung das Moment der moralischen Eignung in den Vordergrund ge¬
stellt werden. Die kriminalbiologische Untersuchung ist
berufen, die unerziehbaren und unverbesserlichen jugendlichen Rechts¬
brecher von jenen zu trennen, die wieder zu nützlichen Gliedern der Gemein¬
schaft erzogen werden können.
Bei jenen jugendlichen Rechtsbrechern, deren
soziale Prognose auf Grund wissenschaftlicher Er¬
kenntnisse und praktischer Erfahrungen ungünstig
zu stellen ist, ist berufliche Höherführung nicht im
Interesse der Gemeinschaft gelegen. In diesen Fällen ist
die Herabdrückung auf ein tieferes berufliches und
soziales Niveau, wie sie sich die frühere Besserungsanstalt zum
Ziel setzte, mehr am Platz. Es hätte keinen Sinn, beispielsweise erblich
minderwertige und belastete jugendliche Schwerverbrecher im Zuge
ihrer Unterbringung in Justizanstalten handwerklichen Berufen zuzuführen,
wenn sie zuvor Hilfsarbeiter waren; wohl aber erscheint es geboten, un¬
verbesserliche und zu fortgesetztem Rückfall neigende Individuen aus
handwerklichen Berufen auszuschalten und sie zu zwingen, körperlich
anstrengende und auch unangenehme Arbeiten, gegebenenfalls Lager¬
arbeiten zu verrichten. Selbst bei jenen jugendlichen Rechtsbrechern, bei
denen ein künftiger Verfall in das Gewohnheitsverbrechen nach ihrer
gesamten Persönlichkeitsausrichtung nicht zu erwarten ist, erweist sich die
Herbeiführung eines Berufswechsels aus kriminal¬
prophylaktischen Gründen zweckentsprechend, wenn sie im
Zusammenhang mit einer verfehlten, ihnen zum Verderben gereichenden
Berufswahl bereits straffällig geworden sind.
Als Berufsberater der Anstalt Kaiserebersdorf habe ich Zöglinge,
die aus den metallverarbeitenden Gewerben kamen, nicht der Anstalts¬
schlosserei oder -spenglerei zugeteilt, wenn sie wegen Einbruchs straf¬
fällig geworden sind. Zöglinge, die vor der Einweisung in die Anstalt
Veruntreuungen und Diebstähle begangen hatten, wurden von Berufen
28
ferngehalten, die zu dieser Art von Gesetzesverletzungen mehr als andere
Gelegenheit bieten. Zu Gewalttätigkeiten neigende Zöglinge hielt ich
vom Bäckerberuf ab, da die Hitze bei der Ofenarbeit die nervöse Reiz¬
barkeit steigert. Betrügern und Hochstaplern verwehrte ich an der Anstalt
die Aufnahme in die Kaufmännische Fortbildungsschule. Vom Friseurberuf
wurden wegen homosexueller. Verfehlungen vorbestrafte Zöglinge ausge¬
schlossen. Tierquäler zog ich nicht für den Beruf des Fleischers in Betracht.
Von landwirtschaftlicher Ausbildung wurden Brandstifter abgehalten.
Vaganten wurden auf dem Landgut erst nach längerem Anstaltsaufenthalt
und vorheriger Gewöhnung an anstrengende Arbeit ausgebildet, um ihre
Entweichung von der Feldarbeit zu verhüten.
Wenn die moralische Eignung für eine bestimmte Berufsausübung
mangelt, war ich bei der Berufsberatung stets bemüht, das Interesse der
Jugendlichen auf andere Berufe zu lenken. Es ist manchmal sehr schwer,
die kriminellen Jugendlichen von Berufen abzulenken, zu welchen sie sich
triebhaft hingezogen fühlen, doch fordert sowohl das Interesse der zu
schützenden Gemeinschaft, wie das der zu beratenden Jugendlichen selbst,
daß sie nicht in Berufen Aufnahme finden oder verbleiben, bei deren Aus¬
übung verbrecherische Neigungen sich leicht ausleben können. Durch die
Maßnahmen, welche der Vorbeugung des Verbrechens dienen, erlangt die
Frage des Ersatzberufes große Bedeutung. Da es möglichst
verhütet werden muß, daß die Jugendlichen in Berufe gelangen, die sie
nur unter Zwang und inneren Widerständen ausüben, müssen bei der Wahl
des Ersatzberufes die verschiedenen Momente, die die Berufsneigung und
-eignung bestimmen — vor allem Konstitution und Begabung —
nach Möglichkeit berücksichtigt werden.
Untersuchungen, die ich über die Alternativberufswünsche
der Jugendlichen vorgenommen habe, bestätigten den bedeutenden Einfluß
der körperlichen Konstitution auf die Berufswünsche und die Berufswahl.
Wenn es sich bei den Altemativberufswünschen auch um anscheinend sehr
verschiedenartige Berufe handelt, werden doch meistens verwandte Berufe
gewünscht, die vom Gesichtspunkt der Konstitution in ein und dieselbe
Gruppe gehören. Durch Berücksichtigung der körper¬
lichen Konstitution des Berufsanwärters ist der Be¬
rufsberater in die Lage versetzt, die vom Gesichts¬
punkt der Verbrech'ensvorbeugung notwendige Ent¬
scheidung zu treffen und zugleich die Berufslenkung
in einer Richtung vorzunehmen, die die Gewähr
bietet, daß der zugewiesene Beruf der Wesensart des
Berufsanwärters weitgehend entspricht. Die Bewäh¬
rungskontrollen in den Betrieben der Anstalten für Erziehungsbedürftige
haben ergeben, daß die Zöglinge auch in Berufen, die dem ursprünglichen
Berufswunsch oder einer Vorlehrzeit nicht entsprachen, Arbeitsfreude
empfanden und sich bewährten, wenn bei der Wahl des Ersatzberufes das
konstitutionelle Moment und die Begabung entsprechend berücksichtigt
wurde.
Schlossern und Mechanikern sagt manchmal unter den
„Reizberufen“ auch der Tischlerberuf sehr zu, da auch die Holzbearbeitung
kräftige Menschen fordert, die technisch begabt und geschickt sind. Bei
landwirtschaftlicher Umschulung kommt ihre technische
Begabung zur Geltung, wenn sie zur Bedienung landwirtschaftlicher Ma¬
schinen herangezogen werden. Nach meinen Erfahrungen eignen sich die
derben und primitiveren Typen unter den Handwerkern am besten für die
29
Umschulung zur Landwirtschaft. Bäcker, die den körperlichen An¬
forderungen ihres Berufes entsprechen, sind in der Regel auch für land¬
wirtschaftliche Arbeiten geeignet, wodurch sie einer Anforderung ent¬
sprechen, die die Lehrherm auf dem Lande oft an sie stellen. Intelligente,
jedoch zum Hochstapeln neigende Jugendliche, die aus kaufmän¬
nischen Berufen kamen, wurden in Kaiserebersdorf mit guten
Ergebnissen in handwerklichen Berufen der Reizmangelgruppe, z. B. als
Buchbinder oder Schneider ausgebildet. Kellner bewähren sich in
anderen Berufen, die ihrem Drang nach Bewegung entgegenkommen, so
als Laufburschen, Mitfahrer usw. Friseure eignen sich zumeist auch
als Schneider, wobei bemerkenswert ist, daß der Alternativberufswunsch
„Friseur oder Schneider“ oft schon von vornherein geäußert wird.
Zur Vorbeugung der Kriminalität hat es sich auch bei besonders
diebischen Zöglingen der Anstalt Hirtenberg notwendig erwiesen, sie von
Berufen, die Ehrlichkeit und Verläßlichkeit in besonderem Maße fordern,
abzuhalten. Wir haben sie in der Anstalt nicht als Hausgehilfinnen
ausgebildet und auch spätere Einstellung in Haushalten vermieden. Hyste¬
rische Mädchen werden nicht als Köchinnen ausgebildet und unter¬
gebracht, da es sich gezeigt hat, daß die Hitze bei der Arbeit die psycho¬
pathischen Reaktionen, mit welchen ihre Kriminalität zusammenhängt,
steigert. Schien es schon in der Anstalt geboten, Giftmischerinnen nicht
im Küchenbetrieb zu beschäftigen, so wurden sie auch nach der Entlassung
nicht als Köchinnen untergebracht. Zöglinge, die sich Betrügereien zu¬
schulden kommen ließen, wurden von kaufmännischen Berufen in
gewerbliche Berufe gebracht. Es erwies sich auch oft als notwendig, sittlich
depravierte Mädchen von bestimmten Berufen auszuschließen, denen sie
triebhaft zusteuerten. Umschulung zur Garten- und Land¬
arbeit wird an der Anstalt in großem Umfang und mit bestem Erfolg
durchgeführt.
Um die Berufseignung verwahrloster und krimineller Jugend¬
licher in charakterologischer Beziehung beurteilen und ihre Berufs¬
ausbildung in die richtigen Bahnen lenken zu können, sind in jedem
Einzelfalle genaue Beobachtungen über die Entwicklung des
Arbeitsantriebes erforderlich. Besonders bei den Verwöhnungs¬
fällen hat es sich gezeigt, daß es nicht allein auf die körperliche Leistungs¬
fähigkeit und die geistige Begabung ankommt, sondern vor allem auch
darauf, welcher Gebrauch davon gemacht wird. Es hat sich bei der Berufs¬
beratung in den Anstalten für Erziehungsbedürftige bewährt, die Ent¬
scheidung über die zu treffende Berufsausbildung erst nach erfolgter Ein¬
gewöhnung und Vorbeschäftigung der Zöglinge zu treffen.
In der Anstalt für männliche Erziehungsbedürftige wurde von mir
ein Bastelbetrieb eingeführt, in welchem Zöglinge, die sich hand¬
werklichen Berufen zuwenden wollten, ihre Beschäftigung frei wählen
konnten. Beim Laubsägen, Metallfeilen, Kartonieren und anderen Arbeiten
ergaben sich mannigfache Beobachtungen, welche die prüfungsmäßigen
psychotechnischen Feststellungen wertvoll ergänzten. Aus der Beobachtung,
welches Material die Zöglinge bei der Arbeit bevorzugten, konnten Schlüsse
auf ihr Materialgefühl gezogen werden* das nach meinen Erfahrungen mit
dem Alter, beziehungsweise mit dem Grad der Entwicklung und der persön¬
lichen Eigenart der Jugendlichen engstens zusammenhängt und bei der
Berufsneigung der Handwerker eine wesentliche Rolle spielt. Ferner er¬
gaben sich Beobachtungen hinsichtlich der Anstelligkeit, Geschicklichkeit,
des Augenmaßes, des Formensinns, der räumlichen Vorstellungsgabe und
30
anderer Fähigkeiten, die bei handwerklicher Arbeit von Bedeutung sind;
auch wurden in charakterologischer Hinsicht, so bezüglich Fleiß, Aus¬
dauer, Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit Aufschlüsse erlangt. Zöglinge,
welche für landwirtschaftliche Ausbildung in Betracht kamen, ließ ich vor
ihrer Abgabe an das Landgut mit verschiedenen Hilfsarbeiten beschäftigen.
Auch in der Anstalt Hirtenberg setzt die Berufsausbildung der Zög¬
linge nicht gleich ein. Man beschäftigt die Mädchen zunächst mit Näh-,
sowie leichteren Haus- und Gartenarbeiten. Die Vorbeschäftigung
ist lücht nur für die Beurteilung der Berufseignung wichtig, sie hat auch
die Bedeutung einer erzieherischen Maßnahme, durch die bei verwahrlosten
Jugendlichen die vernachlässigten Anlagen geübt und die Arbeitsenergien
wachgerufen werden, so daß sich in Verbindung mit intensiver Nach¬
schulung bessere Voraussetzungen für die künftige Berufsausbildung
ergeben.
Bei den Verwöhnungsfällen, deren Faulheit zu ihrem guten Gesund¬
heitszustand in krassem Widerspruch zu stehen pflegt, ist die Arbeits¬
therapie bei konsequenter und sachgemäßer Durchführung überaus
wirksam. Die verwöhnten Jugendlichen müssen wenigstens einige Monate
hindurch mit körperlich anstrengenden Arbeiten im Freien beschäftigt
werden, wenn man ihre Faulheit beheben und sie berufstauglich machen
will. Die Anforderungen, die man hierbei an sie stellt, sind dem Leistungs¬
vermögen anzupassen und allmählich zu steigern. Arbeiten wie Holzsägen,
Kohlenschaufeln, Garten- und Landarbeit lehnen die verwöhnten Jugend¬
lichen zumeist ab; aber gerade an den Widerständen, die sie überwinden
müssen, bildet sich ihr Charakter. Die Arbeitstherapie stärkt
die Willenskraft und hierauf, wie auch auf Abhärtung kommt
es bei der Erziehung der Verwöhnungsfälle vor allem an. Wenn sie an¬
gehalten werden, auch unangenehme Arbeiten auszuführen, wenden sie
sich später mit viel größerem Eifer und Emst den Berufen zu, für die sie
auf Grund ihrer Begabung und Vorbildung in Betracht kommen. Eine
Vorbeschäftigung mit körperlich anstrengenden Arbeiten hat sich nach
meinen Beobachtungen auch bei Jugendlichen, die längere Zeit arbeitslos
waren und dadurch jede Arbeitslust verloren hatten, sehr gfünstig aus¬
gewirkt und ihre Berufseinordnung erleichtert.
Ebenso ist die Behandlung der körperlich bedingten
Faulheit der Jugendlichen unter den durch längere Anstaltsunter¬
bringung gegebenen Voraussetzungen im allgemeinen nicht so schwierig
und aussichtslos, wie dies sonst der Fall ist. Auf Grund der regelmäßigen
ärztlichen Untersuchungen können verschiedene, die Gesundheit fördernde
Anordnungen getroffen werden, durch welche die Leistungsfähigkeit er¬
höht und die Ermüdbarkeit herabgesetzt wird. Medikamentöse
Behandlung gewinnt besondere Bedeutung, wenn die Faulheit mit
Wachstumsstörungen im Zusammenhang steht. Durch die mit der
Anstaltsanhaltung verknüpfte Gewöhnung an ein geordnetes
Leben, eine geregelte Tageseinteilung, gesunde Lebensführung
und damit einhergehende körperliche Ertüchtigung, auch durch die
Unterbindung weiterer Einbeziehung in Konflikte
der Eltern, die die Voraussetzung konzentrierter Arbeit bildet, tritt
bei zahlreichen Zöglingen eine rasche Belebung des Arbeitsantriebes ein.
Die Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige werden auch durch
eine zweckentsprechende Abstufung ihrer Arbeitsvergü¬
tung, Teilnahme an Berufswettkämpfen, Erteilung von
Begünstigungen bei guter Werkstättenführung und
31
andere Maßnahmen zur Arbeit angeeifert. Zweifellos tragen auch ver¬
schiedene arbeitshygienische Vorkehrungen dazu bei, daß
die Anstaltszöglinge ihre Arbeitsunlust leichter überwinden. In den hellen,
geräumigen Anstaltswerkstätten, die einen freundlichen Eindruck machen,
gedeiht die Arbeitsfreude weit eher als in dunklen, engen und schlecht
gelüfteten Räumen. Die Erziehung zur Arbeitsfreude er¬
fordert aber auch, daß bei den Anstaltsjugendlichen echter Gemeinschafts¬
sinn wachgerufen und ihnen eine höhere ethische Auffassung über die
Arbeit beigebracht wird. Eine höhere Einschätzung des Sinnes und der
Bedeutung der Arbeit gibt den Ansporn zu besonderer beruflicher Tüchtig¬
keit, trägt aber auch zur leichteren Überwindung von Schwierigkeiten und
Enttäuschungen des Berufslebens bei.
Um ein inneres Verhältnis zur Berufsarbeit gewinnen zu können,
müssen die Jugendlichen für sie körperlich und geistig geeignet sein. Die
Feststellung der Begabung erfordert bei kriminellen Jugend¬
lichen die Vornahme psychotechnischer Einzeluntersuchungen, die gegen¬
über den sonst üblichen Gruppenuntersuchungen ein wesentlich genaueres
Bild der Begabung ergeben. Die Prüfungen müssen in einer Weise abge¬
halten werden, die eine Verfälschung der Ergebnisse durch Nervosität und
Prüfungsangst ausschließt; andererseits ist zu vermeiden, daß der Prüfling
durch Aneiferung zu besonderen Leistungen mehr aus sich herausgeht, als
dies sonst bei ihm der Fall ist. In den Anstalten für Erziehungsbedürftige
habe ich die psychotechnischen Prüfungen erst nach erfolgter Eingewöh¬
nung der neueingetretenen Zöglinge in die Anstaltsverhältnisse vorge¬
nommen, mir zuvor auch durch Einblick in den Zöglingsakt (Erhebungen
der Jugendgerichtshilfe bzw. der Jugendämter und NSV.-Stellen, Schul-
und Arbeitszeugnisse, Urteilsabschrift u. a.) und persönliche Aussprache
ein Bild der zu beratenden Zöglinge gemacht. Wertvolle Aufschlüsse er¬
gaben sich auch an den Besuchstagen durch Fühlungnahme mit den
Zöglingsangehörigen. Das Berufsbild, das sich in der Familie ergibt,
ist für die Beurteilung des jungen Berufsanwärters sehr wichtig.
Die Berufswünsche müssen bei der Berufsberatung krimineller
Jugendlicher einer genauen Untersuchung unterzogen werden. Es ist von
erheblicher Bedeutung, zu wissen, ob sie nur an der Oberfläche haften oder
in der persönlichen Struktur tiefer verankert sind, wann sie entstanden,
welches das Motiv der angestrebten Berufswahl ist und welche verlockenden
Bilder sich mit der Berufsvorstellung assoziieren. Vor allem ist die Frage
zu prüfen, ob das Interesse für bestimmte Berufe mit frühentwickelten
kriminellen Neigungen und einem entstellten Berufsbild einhergeht. Das
Beratungsgespräch muß in selbstverständlicher und unaufdringlicher Weise
geführt werden und durch die Art, in der es gelenkt wird, in dem jungen
Berufsanwärter den Willen zur Selbsterkenntnis wecken und stärken. Bei
der Berufsberatung krimineller Jugendlicher ist von größter Wichtigkeit,
über die Entwicklung des Tätigkeitsdranges von der
kindlichen F u n k t i o n s 1 u s t bis zum gereiften Lei¬
stungswillen und die sich ergebende Eigenrichtung Klarheit zu
erlangen. Durch Ermittlung der Lieblingsbeschäftigfung des Kindes und
der späteren Berufswünsche ergeben sich Anhaltspunkte für eine Rekon¬
struktion des Entwicklungsverlaufes. Ob der bei der Berufsberatung vorge¬
brachte Berufswunsch noch infantil ist oder einem gereiften Leistungswillen
entspricht, kann durch eine Überprüfung der beruflichen
Vorstellungen ermittelt werden. Die Analyse des Berufswunsches
ermöglicht es auch, die unbewußten FaktorenderBerufsnei-
32
gung aufzudecken, unter welchen bei kriminellen Jugendlichen neben dem
Verlangen, eine minderwertige Anlage im Beruf zur Auswirkung zu bringen
auch verschiedene Kompensationstendenzen und der Einfluß eines gestei¬
gerten oder verkümmerten Geltungstriebes in Betracht kommen.
Die Intelligenz ist bei der Berufsberatung in allen wichtigen
Funktionen zu untersuchen. Bei den Zöglingen der Anstalten für Erzie¬
hungsbedürftige habe ich vor allem die logische Denkfähigkeit, die Phan¬
tasie, die gedankliche Zuordnung, den Vorstellungsablauf, das Gedächtnis
in seinen verschiedenen Abarten und die Konzentrationsfähigkeit überprüft.
Unter den der Feststellung der Intelligenz dienenden Prüfaufgaben, die
mir mit entsprechenden Auswertungsunterlagen teils vom Heilpädagogen
Prof. E. L a z a r, teils vom Leiter des Psychotechnisehen Instituts
in Wien Prof. Ing. C. H a c k 1 zur Verfügung gestellt wurden,
sind zu erwähnen: Lückenproben, Masselon-Dreiwortprobe frei und ge¬
bunden (sprachliche Begabung und Kombination) Definition, Differenzie¬
rung (logisch-kritisches Denken), Bildung gleichartiger Begriffe, Wörter¬
test (gedankliche Zuordnung), Bourdontest (Konzentration). Die
Aufsätze (Lebenslauf, Begründung des Berufswunsches u. a.), die die
Zöglinge im Zuge der psychotechnischen Untersuchung schreiben, sind
psychologisch aufschlußreich und werden dem Zöglingsakt einverleibt. Ich
habe auch diel elementare Schulbildung der Zöglinge durch Kenntnisproben
untersucht und den Grad der Nachschulungsbedürftigkeit
erhoben. Die Ergebnisse der Intelligenzprüfung bilden eine wichtige Unter¬
lage für die Intelligenzbeschreibung nach V i 11 i n g e r , die
ein umfassenderes Bild der Intelligenz ergibt als die Aufstellung einzelner
intellektueller Funktionen und ihre Darstellung in Diagrammen.
Bei der Feststellung der speziellen Berufseignung i.st besonders auf
die Feststellung des Begabungsschwerpunktes und der
Entwicklung jener Begabungen Wert zu legen, deren mangelhafte Ausbildung
— wie die psychotechnischen Untersuchungen von Lehrlingen, die im Beruf
gescheitert sind, ergeben — zwangsläufig berufliche Mißerfolge nach sich
ziehen. Bei allen Anwärtern handwerklicher Berufe habe ich die räumliche
Vorstellungsgabe, den Formensinn, das Augenmaß und die Handgeschick¬
lichkeit überprüft. Es hat sich bewährt, die bei den psychotechnischen
Prüfungen verwendeten Teste durch zahlreiche Arbeitsproben zu
ergänzen und die Prüfungen in die Berufsnähe zu rücken. Die Anforde¬
rungen, die die Gewerbe stellen, sind womöglich an Aufgaben zu prüfen,
die der Berufspraxis direkt entnommen sind. Im Rahmen der psycho¬
technischen Untersuchung ist auch die Linkshändigkeit festzu¬
stellen.
Ebenso wie auf die richtige Durchführung der
psychotechnischen Prüfung kommt es auch sehr dar¬
auf an, die Ergebnisse richtig auszuwerten. Nur in der
Hand eines Sachkundigen ist die Psychotechnik ein Werkzeug, das dem
Berufsberater wertvolle Aufschlüsse über den jungen Berufsanwärter ver¬
mittelt. Unkundig angewendet kann sie zu groben Irrtümern und Fehl¬
entscheidungen führen. Die Beurteilung der Lösungen psychotechnischer
Prüfaufgaben soll auf Grund geeigneter Vergleichswerte möglichst exakt
und rechnerisch genau, doch nie nach ganz starrer Schablone erfolgen. Es
ergeben sich nicht nur bei Jungen und Mädchen und verschiedenen Alters¬
stufen, sondern auch bei städtischer und ländlicher Herkunft der Jugend¬
lichen ganz verschiedene Maßstäbe für die Beurteilung
ihrer Leistungen. Die städtischen Jugendlichen reagieren im allgemeinen
33
rasch und ungenau, die ländlichen Jugendlichen langsam, bedächtig und
genau. Beim Zurückbleiben der allgemeinen Intelligenz entwickelt das
Leben in der Natur auf dem Land eine stärkere Beobachtungsfähigkeit,
während bei den Städtern durchschnittlich größerer Phantasiereichtum
vorhanden ist. Die Intelligenz ist nicht absolut, sondern
relativ zu werten, bei jeder Bewertung müssen auch die Umwelt¬
faktoren berücksichtigt werden. Der Psychotechniker muß sich auch vor
Augen halten, daß die Ergebnisse einer einmaligen experimentellen Unter¬
suchung keine Gewähr dafür bieten, daß die gezeigten Leistungen die
gleichen bleiben. Leistungsschwankungen sind selbst im Bereich
des Normalen oft zu beobachten. Bei jugendlichen Psychopathen kann es
zu erheblichen intraindividuellen Leistungsschwankungen kommen.
Bei der Berufsberatung krimineller Jugendlicher ist die Ermitt¬
lung der Unfallsdisposition unerläßlich. Sie geht zum Teil aus
den nicht ad hoc durchgeführten ärztlichen, psychiatrischen und psycho-
technischen Untersuchungen, auf die sich die Berufsberatung allgemein
stützt, zum Teil auch aus Beobachtungen des täglichen Lebens hervor.
Wichtig ist die Feststellung, wann und wie oft der Berufsanwärter bereits
Unfälle und auch scheinbar belanglose Unfälle durchmachte oder verur¬
sachte, ob er sich Verletzungen zuzog und welcher Art diese waren. Ich
habe bei der Berufsberatung der Zöglinge der Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige durch Aufstellung von Unfallsanamnesen sehr
brauchbare Unterlagen für die Beurteilung der Unfallsdisposition erhalten,
da es sich zeigt, daß die stärker hervortretende Unfallsneigung sich schon
sehr früh, oft schon im Kleinkindalter bemerkbar macht. Disponierte Un¬
faller (Marbe) sind von Berufen abzuhalten, bei deren Ausübung sie
zufolge ihrer Anlage leicht selbst zu Schaden kommen, andere Menschen
verletzen oder Sachschaden anrichten können.
Zu Unfällen neigende Burschen habe ich in der Anstalt für Erzie¬
hungsbedürftige u. a. vom Friseurberuf abgehalten. Ein Epileptiker, der
vor der Anstaltsunterbringung diesen Beruf schon über ein Jahr ausgeübt
hatte, wurde landwirtschaftlich umgeschult. Aber selbst bei der land¬
wirtschaftlichen Arbeit mußte er wegen seiner häufigen Anfälle von der
Bedienung der Häckselmaschine und anderer gefährlicher Maschinen und
Geräte abgehalten werden. Eine vom Gesichtspunkt der Unfallsverhütung
strenge Auslese habe ich auch bei den Tischlern vorgenommen, da bei der
Holzbearbeitung — der weit vorgeschrittenen maschinellen Rationalisierung
entsprechend — zahlreiche unfallsgefährliche Maschinen Verwendung
finden. Zur Entlassung gelangende unfallsdisponierte Zöglinge wurden nicht
im Baugewerbe untergebracht, da es für sie schwere Gefahren birgt.
Die Berufszuteilung der psychopathisch veranlagten jugendlichen
Rechtsbrecher erfordert weitgehende Berücksichtigung der psychischen
Besonderheiten, die Beratung muß nach pädagogischen
Gesichtspunkten durchgeführt werden und von dem
Gedanken geleitet sein, daß der Beruf, wenn möglich,
Heilung bringen soll. In zahlreichen Fällen hat es sich gezeigt,
daß die richtige Berufswahl ein Abklingen der psychopathischen Reaktionen
nach sich ziehen kann, die soziale Wiedereingliederung erleichtert und
Rückfälligkeit verhindert. So tritt erfahrungsgemäß die Neigung der
verschlossenen, depressiven Psychopathen, sich aus
ihrer Verstimmung durch Anstaltsflucht und Eröffnung von Lustquellen
wie Alkohol, Sexualität u. a. ungestüm zu befreien, erheblich weniger her-
3
34
vor, wenn es gelingt, bei ihnen echte Berufsfreudigkeit zu wecken und
wachzuhalten. Sie eignen sich nur für Berufe, die ihrer autistischen Ein¬
stellung entsprechen. Auch bei den Hyperthymikern kann die
richtige Berufswahl sich heilpädagogisch auswirken. Ihre stets heitere,
optimistische Stimmungslage bildet in verschiedenen Berufen die Grundlage
beruflicher Bewährung; besonders bei Mädchen ist aber die Unterbringung
auf Arbeitsstellen, die Gefährdung durch das Milieu bringen, zu ver¬
meiden. Bei epileptischen Reaktionen und hysterischen
Dämmerzuständen ist in erster Linie die Unfallsneigung zu be¬
rücksichtigen, auch sind hier Berufe, deren Ausübung das Ertragen der
Hitze fordert, aus heilerzieherischen Erwägungen nicht in Betracht zu
ziehen. Bei den zu Gewalttätigkeiten neigenden aggressiven Psy¬
chopathen wirkt sich die Wahl einer anstrengenden Berufstätigkeit
günstig aus, bei welcher sie ihren Überschuß an Kräften abreagieren
können. Bei manchen tritt ein heilerzieherischer Erfolg ein, wenn sie
einer Arbeit nachgehen, bei der deutlich sichtbare Gebilde unter ihren
Händen entstehen. Daß Land- und Gartenarbeit sich bei vielen Psycho¬
pathen gut auswirken, hat sich auch bei den Zöglingen der Anstalten für
Erziehungsbedürftige erwiesen.
Die Berufstauglichkeit der straffällig gewor¬
denen Debilen, auch zahlreicher Übergangsformen zum Schwachsinn,
ist nicht allein durch geistige, sondern zumeist auch durch körperliche
Mängel und genuine moralische Defekte erheblich herabgesetzt. Die
Berufsberatung muß sowohl die verminderte Leistungsfähigkeit wie die
durch verschiedene Hemmungsschwächen bedingte Neigung zur Rück¬
fälligkeit berücksichtigen. Bei Debilen, die auf Grund leichterer Straf¬
fälligkeit oder Hervortretens manueller Fertigkeiten in den Anstalten für.
Erziehungsbedürftige probeweise zu handwerklichen Arbeiten herangezogen
wurden, hat es sich gezeigt, daß sie durch Übung ihre primären Ausfalls¬
erscheinungen zum Teil kompensieren können, daß aber ihrer Übungsfähig¬
keit bestimmte Grenzen gesetzt sind. Als Schuhmacher und Schneider
kommen sie über das Erlernen von Flickarbeiten kaum hinaus. Als Korb¬
flechter gelingt ihnen die Nachbildung einfacher gleichbleibender Formen,
es mangelt ihnen aber an Umstellungsfähigkeit. Sie versagen, sobald sie
Aufgaben gegenüberstehen, die Denk- und Urteilsfähigkeit, raschen Ent¬
schluß und Selbständigkeit erfordern. Zu Arbeiten, die mit Unfallsgefahren
verknüpft sind, vor allem zur Bedienung ungesicherter Maschinen, sind sie
nicht heranzuziehen. Erweiterte Verwendungsmöglichkeiten finden sich
für beschränkte und debile Jugendliche im Bereich der Hilfsarbeiten, wobei
sie monotone Arbeiten, die von Vollsinnigen in der Regel abgelehnt werden,
oft bevorzugen. In den An.stalten leisten sie manchmal als Hausarbeiter
und Wäscher nützliche Arbeit, doch ist es selten möglich, sie auch nach
der Entlassung aus der Anstalt einer gleichen Arbeit zuzuführen.
Die schwierige Aufgabe der Berufseingliederungkörper¬
lich und geistig nicht vollwertiger Jugendlicher kann
nur durch weitgehende Berücksichtigung der landwirt¬
schaftlichen Arbeitsmöglichkeiten einer befriedigenden
Lösung zugeführt werden. Zu anstrengenden Arbeiten, wie Pflügen,
Dreschen u. a., können beschränkt leistungsfähige Jugendliche natürlich
nicht herangezogen werden, dagegen eignen sie sich in vielen Fällen für
leichtere Arbeiten, die es auf dem Lande in großer Zahl gibt; gegebenen¬
falls können für körperlich mindertaugliche Jugendliche auch landwirt¬
schaftliche Hilfsdienste, die nach der auf dem Lande üblichen Arbeitsteilung
86
meist Frauen verrichten, in Betracht gezogen werden. Den verschiedenen
Formen von Debilität und Imbezillität kommt bei der Landarbeit zugute,
daß ihre Empfindlichkeit gegen Hitze und Kälte, Nässe, Schmutz und
andere Reize herabgesetzt ist. Schwachsinnige — sofern sie nicht dem
erethischen Typus angehören — eignen sich auch als Stallknechte und
Viehhüter, da sie zumeist tierfreundlich sind.
Die Berufsberatung der kriminellen Jugend muß wesentlich nach
prophylaktischen und therapeutischen Gesichtspunkten erfolgen, doch
müssen auch wirtschaftliche Momente, wie die Lage des
Arbeitsmarktes und die Ayfnahmefähigkeit in den ein¬
zelnen Berufen, entsprechende Berücksichtigung finden. Es sind
für kriminelle Jugendliche weder „Modeberufe“, noch solche Berufe ge¬
eignet, die zufolge vorgeschrittener Rationalisierung weniger aufnahme¬
fähig geworden sind. Die Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige
werden in Berufe gelenkt, die ihnen auch in der Zeit, als die Arbeitslosigkeit
• einen Großteil der Jugend erfaßt hatte, relativ günstige Aussichten auf
ein Unterkommen boten und heute einen bedeutenden Bedarf an Nachwuchs
aufweisen. Bei der Berufsbahnung der Zöglinge der An¬
stalten für Erziehungsbedürftige erwies es sich
zweckmäßig, den Zustrom zu handwerklichen Be¬
rufen und zu kaufmännischer Ausbildung durch ent¬
sprechende Auslese einzudämmen, die Zahl der un¬
qualifizierten und angelernten Hilfsarbeiter äu¬
ßerst zu beschränken und landwirtschaftliche Aus-
bildungund Umschulungnach Möglichkeit zu fördern.
Die Vorteile, die die landwirtschaftliche Ausbildung gewährt — die er¬
leichterte Eingliederung in das Erwerbsleben durch differenzierte Arbeits¬
möglichkeiten und großen Bedarf an Arbeitskräften, auch die sonst in
wenigen Berufen gebotene Unterbringung mit Kost und Quartier, die
günstige Milieuveränderungen ermöglicht — sind gerade für die verwahr¬
loste und straffällig gewordene Jugend von erheblicher Bedeutung, so daß
sie bei ihrer Berufswahl stark ins Gewicht fallen.
Den Zöglingen der Anstalten für Erziehungsbedürftige wird in 1 a n d -
wirtschaftlichen Lehrabteilungen Gelegenheit geboten,
alle Arbeiten zu erlernen, die auf dem Lande gefordert werden. Man
zieht sie hier zu den gewöhnlichen Feld- und Stallarbeiten heran, ferner
erlernen sie qualifizierte Arbeiten, wie Melken und die Bedienung land¬
wirtschaftlicher Geräte und Maschinen. Die praktische Ausbil¬
dung wird in den Wintermonaten durch theoretischen Unterricht
ergänzt, der sich auf alle wichtigen landwirtschaftlichen Fachgebiete er¬
streckt. In städtischem Milieu heran ge wachsene Zög¬
linge, die bei der Berufsberatung für landwirtschaft¬
liche Ausbildung bestimmt werden, werden in den
landwirtschaftlichen Abteilungen allmählich an das
Leben auf dem Lande und die Anforderung der Land¬
arbeit gewöhnt. Die Anstalten machen sich dabei die Erfahrung
zunutze, daß sich verwahrloste und kriminelle Jugendliche, die früher von
der Jugendgericht.shilfe, den Berufsämtem und anderen behördlichen Stellen
direkt von der Stadt auf das Land gebracht wurden, nur schwer in die
plötzlich veränderten Umweltbedingungen einfanden, bei der Arbeit den
an sie gestellten Anforderungen zumeist nicht entsprachen und im Zu¬
sammenhang damit früher oder später wieder in die Stadt zurückkehrten,
wo sich die Fürsorge ihrer aufs neue annehmen mußte.
S'
S6
Wir wissen heute, daß auch die in ländlichen Verhältnissen aufge¬
wachsenen Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige erst nach
gründlicher landwirtschaftlicher Ausbildung wieder als Landarbeiter unter¬
gebracht werden können. Bei der Ausbildung wurde beobachtet, daß die
in die Obhut der Anstalten gelangenden jugendlichen Landarbeiter ver¬
hältnismäßig sehr geringe praktische Kenntnisse mitbringen. Zöglinge,
die bei Beginn der Ausbildung nur bei wenig Arbeiten verwendet werden
können, obwohl sie schon jahrelang in der Landwirtschaft gearbeitet haben,
erweisen sich aber oft als strebsame und bildungsfähige Kräfte, die sich
unter entsprechender Anleitung die verschiedensten Fertigkeiten als Land¬
arbeiter aneignen können. Es steht außer Zweifel, daß von einem Teil
der bäuerlichen Bevölkerung auf eine gute Ausbildung der jungen Land¬
arbeiter noch zu wenig Wert gelegt wird. Die Vernachlässigung
der Ausbildung, welcher man im nationalsozialistischen Staat durch
Errichtung landwirtschaftlicher Lehrstellen und andere einschneidende
Maßnahmen entgegentritt, bildet einen Teil der Schwierigkeiten, unter •
welchen die dissozialen und kriminellen Jugendlichen auf dem Lande heran¬
wachsen. Untersuchungen, die ich über die Motive der Landflucht
anstellte, haben ergeben, daß die schlechten Erfahrungen, die die Jugend¬
lichen manchmal bei der Landarbeit hinsichtlich Lohn, Unterkunft und
Behandlung machen, ihre Abwanderung in die Städte sehr begünstigen.
Viele Landburschen wollen in der Erziehungsanstalt die Gelegenheit
wahmehmen, einen Berufswechsel zu vollziehen. Sie bevorzugen
dabei den Beruf des Bäckers und Schuhmachers; manche wollen aber auch
Berufe ergreifen, die sie nur vom Hörensagen kennen. Landarbeiterinnen
wollen in der Anstalt Hirtenberg hauswirtschaftliche und gewerbliche
Berufe ergreifen, um von der Landwirtschaft loszukommen. Die in ihrer
landwirtschaftlichen Ausbildung vernachlässigten Landjugendlichen, die
weniger erlernt haben als ihrer Befähigung entspricht, streben besonders
hartnäckig danach, in gewerblichen Berufen unterzukommen, durch die sie
später leicht in die Stadt abwandern können. Bei der Berufsberatung
habe ich den Wünschen der Zöglinge, die sich von der Landarbeit abwenden
wollten, nur in sehr berücksichtigungswerten Fällen — z. B. auf Grund
einer Sonderbegabung, die sich bei der psychotechnischen Untersuchung
ergab — nachgegeben. Die Anstalten für Erziehungsbedürftige sind durch
die sorgfältige und planmäßige Ausbildung, die den Zöglingen unter Be¬
rücksichtigung ihrer individuellen Verschiedenheiten erteilt »wird, in der
Lage, sowohl die Unterbringung städtischer Jugendlicher auf dem Lande
entsprechend vorzubereiten und zu fördern, wie auch der Landflucht wirk¬
sam entgegenzutreten.
Irrigen Vorstellungen über die Bedeutung der landwirtschaftlichen
Ausbildung begegnete ich bei der Berufsberatung der Zöglinge der An¬
stalten für Erziehungsbedürftige durch berufliche Aufklärung.
Es ist auch oft notwendig, den gegen die Landwirtschaft gerichteten Vor¬
urteilen der Angehörigen der Zöglinge entgegenzutreten, z. B. der Auf¬
fassung, daß die Arbeiten auf dem Lande, ähnlich wie die städtischen
Hilfsarbeiten „keinen Beruf“ darstellten. Die Angehörigen fordern, daß
die Zöglinge, selbst wenn sie ganz unbegabt sind, ein Handwerk erlernen,
genau so wie man in anderen Schichten der Bevölkerung in der Annahme,
daß nur ein Studium standesgemäß sei, junge Menschen zum Studieren
zwingt, die sich besser für ein Handwerk eignen würden. Die Gegen¬
einstellung zur landwirtschaftlichen Ausbildung hängt vielfach auch mit
der damit verknüpften Trennung der Kinder vom Elternhaus zusammen.
37
die man vermeiden will. Die familiären Bindungen führen be¬
sonders bei verwöhnten Jugendlichen oft dazu, daß sie die Arbeit auf dem
Lande später wieder aufgeben. Städtische Jugendliche sollen
möglichst früh auf das Land gebracht werden. Bei den
16- und 17jährigen finden sich gewöhnlich schon stärkere Bindungen an
das Stadtleben, das durch seine Abwechslung und Vergnügungen einen
ständigen Anreiz zur Rückkehr bildet.
Jugendliche, die in einem oder mehreren Berufen bereits versagten,
sind der Umschulung zur Landwirtschaft manchmal sehr zugänglich. Sie
finden hier ein Arbeitsgebiet, in dem sie nach ihren früheren Mißerfolgen,
die sie entmutigten, sich bewähren können. Auch für entgleiste Mittel¬
schüler kommt der Besuch landwirtschaftlicher Fach¬
schulen in Betracht.
Um die Benifseinordnung jugendlicher Rechtsbrecher, besonders aber
der Psychopathen herbeizuführen und zu sichern, ist nicht nur die Wahl
des richtigen Berufes, sondern auch eine Einflußnahme auf die
Berufserziehung notwendig. In den Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige sind günstige Voraussetzungen für ein enges Zusammenwirken
der Berufsberatung und Arbeiljserziehung vorhanden. Auf Grund der
genauen Kenntrüs der Berufsneulinge ist der Berufsberater in der Lage,
den Werkmeistern Aufschluß zu geben, welche Behandlungsweise im Einzel¬
fall den besten Erfolg verspricht. Viele jugendliche Rechtsbrecher, manch¬
mal auch gut begabte, bedürfen der Ermutigung, da sie sich nichts Zu¬
trauen. Andere wieder sind allzu selbstsicher und müssen unter Hinweis
auf ihre tatsächlichen Leistungen zu einer weniger überheblichen Selbst¬
einschätzung gebracht werden. Der Neigung der verwöhnten Jugendlichen
und labiler Psychopathen, ihren Beruf auch ohne stichhaltigen Grund zu
wechseln, muß im Rahmen einer Erziehungsanstalt energisch entgegen¬
getreten werden. Sie sind später oft dankbar, daß man ihnen nicht nach¬
gegeben hat. Die Berufseinordnung kann gerade in schwierigen Fällen
durch Ausgleichsturnen und entsprechende Freizeitgestal¬
tung gefördert werden. Turnerisch-sportliche Betätigung wird an den
Anstalten für Erziehungsbedürftige organisch in die Ausbildung einbe¬
zogen. Sie stärkt den Willen der Zöglinge und macht sie energischer,
zäher und gewandter, so daß sie den Anforderungen des Berufes und
Existenzkampfes gegenüber widerstandsfähiger werden. Neben der Berufs¬
ausbildung wird den Zöglingen der Erziehungsanstalten auch Gelegenheit
geboten, Musikinstrumente, fremde Sprachen, Maschinenschreiben, Steno¬
graphie, wie allerhand Handfertigkeiten und Techniken zu erlernen- Es
werden dadurch Begabungen gepflegt, die nicht immer im Beruf zu ver¬
werten sind. Eine selbsttätige, anregende Ausgleichsbeschäftigung in der
Freizeit ist besonders für Zöglinge wichtig, die in ihrem Beruf nicht volle
Befriedigung finden. Der negative Rückschlag auf die Selbstachtung, der
das Absinken aus einem höheren Beruf oder den Abbruch eines Studiums
manchmal begleitet, kann dadurch ausgeglichen werden.
Bei einem Teil der jugendlichen Rechtsbrecher, vor allem bei den
Vagabunden, erweist sich die Anwendung fortgesetzten
Arbeitszwanges notwendig, um sie an eine Arbeit zu gewöhnen.
Nach meinen Beobachtungen waren 67% der jugendlichen Vagabunden voll
arbeitsfähig, bei 24% lag leichtere und bei 9% .schwerere Arbeitsbehin¬
derung vor. Sie ließen sich an Hilfsarbeiten, auch an Landarbeit, aber
nicht — wie ihr Verhalten nach der Anstaltsanhaltung zeigte — an Se߬
haftigkeit gewöhnen,
38
Vor Einführung der Berufsberatung an den Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige ergaben sich bei der Arbeitseinteilung und Arbeitserziehung
der Zöglinge zahlreiche Schwierigkeiten. Der Werkstätten- und Schul¬
betrieb wurde vor allem durch regen Arbeitswechsel der Zöglinge,
der in der Anstalt seine Fortsetzung fand, behindert. Da es an ent¬
sprechenden Unterlagen für die Beurteilung der Berufseignung fehlte, kam
es zu Fehleinteilungen, die bald richtig gestellt werden mußten.
Den Bitten der Zöglinge nach einer Arbeitsversetzung wurde gewöhnlich
entsprochen; andererseits drangen auch die Meister oft auf eine Versetzung
von Lehrlingen, mit deren Arbeitsleistungen sie nicht zufrieden waren. Im
Zusammenhang mit dem Arbeitswechsel der Zöglinge ergaben sich auch
bedeutende disziplinäre Schwierigkeiten, die auch durch den
Gebrauch der verschiedenen Strafmittel nicht behoben werden konnten.
Nach Einführung der fachgemäßen Berufsberatung ist es mir gelungen,
den Arbeits- und Berufswechsel der Zöglinge nahezu vollkommen zu unter¬
binden. Durch die Einteilung der Zöglinge nach Maßgabe ihrer Eignung
und Leistungsfähigkeit wurde den Werkmeistern und Lehrern der Gewerb¬
lichen Fortbildungsschule viel vergebliche Mühe erspart, so daß sie sich mit
den ihnen zugeteilten beruflich bildungsfähigen Lehrlingen und Schülern
umso mehr und mit größerer Aussicht auf Erfolg befassen konnten.
Die Nutzleistung in den Arbeitsbetrieben ist durch
die rationelle Ausnutzung der Arbeitskraft der Zöglinge erheblich gestiegen.
Auf Grund der Sichtung des Lehrlingsnachwuchses ist in den Werkstätten
trotz teilweiser Einschränkung der Lehrlingsanzahl wesentlich mehr er¬
zeugt worden als zuvor; auch ergab sich eine bessere Ausführung der
Arbeiten. Die rationelle Arbeitseinteilung und die damit verknüpfte Er¬
höhung der Produktion hat sich auf den Haushalt der Anstalten günstig
ausgewirkt. So stellt z. B. die Anstalt Hirtenberg den Bedarf an
Kleidern und Wäsche für den Gesamtstand der Zöglinge .selbst her; darüber
hinaus wird für die Angestellten, in der Freizeit auch für die NS.-Volks-
wohlfahrt gearbeitet. Die gleiche Anstalt hat sich durch ihre Gartenwirt¬
schaft vom Einkauf von Gemüse das ganze Jahr hindurch unabhängig ge¬
macht; außerdem werden die Gartenprodukte an andere Anstalten abge¬
geben. Eine günstige Auswirkung auf den Haushalt der Anstalten für
Erziehungsbedürftige ergibt sich ferner aus der Herstellung landwirtschaft¬
licher Erzeugnisse, obwohl die landwirtschaftlichen Abteilungen nicht nach
rein kaufmännischen, sondern weitgehend nach pädagogischen Gesichts¬
punkten geführt werden. Durch Berücksichtigung der Unfallsneigung bei
der Berufsauslese ist es mir auch gelungen, die Zahl der Unfälle, deren
Ursache im Menschen selbst gelegen ist, außerordentlich zu beschränken,
so daß die Unfallsziffer an den Anstalten zeitweise sogar geringer war als
jene gleichartiger Lehrwerkstätten, in denen nicht schwererziehbare
Jugendliche beschäftigt ^^’urden.
Durch die nach Gesichtspunkten der Berufsberatung erfolgte Arbeits¬
einteilung und gründliche Berufsausbildung der Zöglinge wird auch die
Unterbringung auf geeigneten Arbeitsplätzen, die eine
Vorbedingung für die Entlassung bildet, wesentlich erleichtert. Wenn die
Unterbringung der gebesserten Zöglinge nicht durch ihre Angehörigen
erfolgt, wird sie von den Fürsorgern der Anstalten für Erziehungsbe¬
dürftige in Verbindung mit der NS.-Volkswohlfahrt, sowie den zuständigen
Jugend- und Arbeitsämtern herbeigeführt. Vor Arbeitsantritt wird jeder
Posten überprüft. Die Unterbringung auf Lehrstellen findet noch vor der
Freisprechung statt; die Ausbildung in der Anstalt wird als Lehrzeit voll
39
angerechnet. Die Arbeitsvermittlung der Landarbeiter ging selbst bei
ungünstiger Lage auf dem Arbeitsmarkt ziemlich leicht vor sich, da in der
Ostmark stets ein großer Bedarf an qualifizierten Kräften wie Melkern,
Zuckerrübenarbeitem, Traktorführem u. a. bestand. Seitdem in der ins
Reich heimgekehrten Ostmark die Arbeitslosigkeit der Jugend vollkommen
überwunden ist, begegnet auch die Unterbringung der in den Anstalten aus¬
gebildeten Handwerker keinen Schwierigkeiten. Die Bewährung der
entlassenen Zöglinge auf ihren späteren Arbeitsplätzen ist —
wie aus regelmäßig einlaufenden Führungsberichten hervorgeht — all¬
gemein zufriedenstellend. Die berufliche Tüchtigkeit ehemaliger Zöglinge
der Anstalten für Erziehungsbedürftige wurde von zahlreichen Arbeit¬
gebern verschiedener Berufszweige, auch Lagerleitern des Arbeitsdienstes,
anerkannt. Einige Arbeitsämter sind — trotz der Vorurteile, die in weiten
Bevölkerungskreisen gegen straffällig gewordene Jugendliche herrschen —
dazu übergegangen, Zöglinge der Anstalt Hirtenberg, vor allem Gärtne¬
rinnen und Landarbeiterinnen, fortlaufend anzufordem und zu vermitteln.
Es muß hervorgehoben werden, daß zahlreiche Zöglinge der Anstalt
Kaiserebersdorf sich nicht nur als Arbeiter und Professionisten, sondern *
später auch als Soldaten und Kriegsteilnehmer bewährt haben.
Nicht zuletzt hat die Regelung der Berufsfrage, die die weitere
Lebensgestaltung entscheidend beeinflußt, dazu beigetragen, daß hinsicht¬
lich der Rückfälligkeit günstige Ergebnisse erzielt werden konnten,
obwohl die soziale Wiedereinordnung der entlassenen Zöglinge in den
zurückliegenden Systemjahren durch ungünstige Wirtschaftslage und die
nicht immer zu vermeidende Rückkehr in ungünstige Umweltverhältnisse
sehr erschwert wurde. Selbst wenn die Rückfallstatistik der fünf Jahre
zuvor entlassenen Zöglinge der Anstalt für männliche Erziehungsbedürftige
in manchen Jahren ein relativ ungünstiges Bild ergab, ist bei ungefähr
60 V. H. kein Rückfall und bei einer weiteren bedeutenden Anzahl nur
leichte Rückfälligkeit eingetreten. Bei den weiblichen Jugendlichen, deren
Neigung zum kriminellen Rezidiv allgemein geringer ist, ergab die Rückfall¬
statistik der im Jahre 1934 entlassenen Zöglinge, daß 71 v. H. in keiner
Weise rückfällig geworden waren, bei 13 v. H. trat leichte, bei 16 v. H.
schwere Rückfälligkeit ein. Die Rückfälligkeit blieb wesentlich auf jene
erzieherischer Einwirkung wenig zugänglichen Fälle beschränkt, bei
welchen die Neigung zu Gesetzesverletzungen durch genuine Defekte
bedingt ist.
Auf Grund der bei der Berufsberatung und Arbeitserziehung er¬
folgten Auslese ist die Rückfälligkeit bei den Zöglingen, die in handwerk¬
lichen und gewerblichen Berufen ausgebildet wurden, am geringsten. Dies
hat dazu beigetragen, daß die verschiedenen Berufsvertretungen ihre
frühere ablehnende Haltung den Anstalten für Erziehungsbedürftige gegen¬
über schon lange aufgegeben haben und dem Erziehungswerk der Anstalten
Verständnis entgegenbringen. Die Rückfallszilfer der Landarbeiter wäre
geringer, wenn es möglich gewesen wäre, einen Teil der Entlassenen, vor
allem Fälle geistiger Unterwertigkeit, in entsprechenden Arbeitslagern
unterzubringen. Das Fehlen einer kriminalbiologischen Vorbegutachtung und
Auslese und die dadurch bedingte Verschiedenartigkeit der in den Anstalten
für Erziehungsbedürftige untergebrachten jugendlichen Rechtsbrecher hat
die Erziehungsarbeit an den Anstalten sehr erschwert und das Ergebnis
der Rückfallstatistik entsprechend belastet.
Die Erfahrungen, die ich bei der Berufsberatung und Berufserziehung
der Zöglinge der Anstalten für Erziehungsbedürftige gesammelt habe, sind
40
über den Rahmen dieser Anstalten hinaus allgemein für die Fürsorge¬
erziehung und den Jugendstrafvollzug von Interesse. Vor
allem zeigen sie, wie notwendig es ist, die Jugendlichen im Strafvollzug
nach ihrer Zugänglichkeit für Gemeinschaftserziehung zu differenzieren
und sie danach auch in bezug auf ihren Beruf verschieden zu behandeln.
In Anstalten, die schwerer kriminelle Jugendliche aufnehmen, erscheint eine
Beschränkung der beruflichen Ausbildungsmöglichkeitan zweckentsprechend,
da hier die Notwendigkeit der Umschulung zu primitiverer Arbeit in den
Vordergrund tritt. Für erzieherischer Einwirkung zugängliche und in der
Prognose günstig zu beurteilende jugendliche Rechtsbrecher werden sich
nur Anstalten eignen, die — ähnlich wie die Anstalten für Erziehungs¬
bedürftige — eine differenzierte berufliche Ausbildung
bieten; denn es kommt bei Jugendlichen nicht, wie bei älteren Anstalts¬
insassen, nur darauf an, daß sie arbeiten, sondern es ist für die Aussichten
eines bei ihnen zu erzielenden Erziehungserfolges auch maßgeblich, daß sie
eine Berufsarbeit erlernen, die ihrer Veranlagung und Neigung möglichst
entspricht und ihnen ihr späteres Fortkommen erleichtert. Wenn dies schon
' nicht immer in der Anstalt möglich ist, muß umso mehr bei der Entlassung
der Jugendlichen aus den Anstalten darauf geachtet werden, daß die Zu¬
weisung eines Arbeitsplatzes nach Gesichtspunkten der Berufsberatung
erfolgt, um die Wiedereingliederung der Anstaltsentlassenen in das Ge¬
meinschaftsleben, die sich der neue Jugendstrafvollzug zum Ziel setzt,
zu sichern.
Der allgemeine Arbeitseinsatz fordert heute, daß auch die
in Jugendstrafvollzugs- und Fürsorgeerziehungsanstalten befindlichen
Jugendlichen zu vollem Einsatz gebracht werden. Um durch rationelle
Ausnützung der Arbeitskräfte Leistungsverbesserungen her¬
beiführen zu können und die Gewähr zu besitzen, daß die damit verknüpfte
berufliche Ertüchtigung der jugendlichen Anstaltsinsassen dauernd der
Gemeinschaft zugute kommt, ist in allen Anstalten, die über eine größere
Anzahl von Arbeitsbetrieben verfügen, sachgemäße Berufsbe¬
ratung und eine auf weitere Sicht eingestellte Berufslenkung
erforderlich.
Meine Untersuchungen über die Zusammenhänge, die zwischen der
Kriminalität und dem Benaf der Jugendlichen bestehen, haben zu Ergeb¬
nissen geführt, die zum Teil auch für die allgemeine Berufsbe¬
ratung und Berufserziehung von Bedeutung sind. In Fällen
von Schwererziehbarkeit und negativer Persönlichkeitsausrichtung wird
man auch bei der allgemeinen Berufsberatung die Möglichkeit des Ab¬
gleitens in die Kriminalität ins Auge fassen müssen, besonders dann, wenn
sich aus der Familienanamnese ungünstige Anhaltspunkte für die Beur¬
teilung des jungen Berufsanwärters ergeben. Der von verschiedenen
Autoren vertretenen Auffassung, die Berufslenkung müsse so erfolgen,
daß die „Sozialisierung“ latenter pathogener und krimineller Neigungen
herbeigeführt werden könne, ist die Erfahrung entgegenzustellen,
daß bei Jugendlichen sehr oft asoziales und antisoziales Betragen die
Folge ist, wenn bei ihnen Berufsneigung und Berufswahl durch Instinkt¬
tendenzen bestimmt werden, die an minderwertige Anlagen gebunden sind.
Krankhafte Anlagen bleiben das, was sie sind und können ihres ursprüng¬
lichen Charakters nicht beraubt werden, wenn es auch außer Zweifel steht,
daß sie bei ihren Trägern das Interesse für bestimmte Berufe wachrufen
und dadurch die Grundlage besonderen Fleißes und überdurchschnittlicher
Leistungen bilden können. Fehlt es, wie dies bei zahlreichen verwahrlosten
41
Jugendlichen der Fall ist, an Beherrschung und Hemmungsmechanismen, so
leben sich die minderwertigen Anlagen im Beruf leicht aus und es kommt
zu Gesetzesverletzungen. Der Grundsatz der Gesundheitsfürsorge „V o r -
beugen ist besser als Heilen“ gilt auch für die Berufsberatung. f
Stellt es sich bei Jugendlichen heraus, daß sie den moralischen Anforde¬
rungen ihres Berufes nicht gewachsen sind, ist ihre möglichst frühe Aus¬
schaltung aus dem Beruf im Interesse der Gemeinschaft wie auch der
Jugendlichen selbst gelegen.
Da nachgewiesen wurde, daß die Kriminalität in manchen Fällen durch
eine verfehlte Berufswahl ausgelöst und fixiert wird, müssen wir allen
Momenten besondere Aufmerksamkeit zuwenden, die die richtige Berufs¬
eingliederung der Jugend erschweren und die Entwicklung der Arbeits¬
freude behindern. Wir dürfen uns nicht der Erkenntnis verschließen,
daß der große Bedarf auch an jugendlichen Arbeitskräften, den der
Wirtschaftsaufschwung gebracht hat, die Gefahr in sich birgt, daß
viele Jugendliche ihre Berufswahl zu früh und daher falsch treffen. Auch
die Mannigfaltigkeit der Arbeitsmöglichkeiten und die Beratung in den
Arbeitsämtern vermag diese Gefahr nicht zu bannen, da die Besserung
der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse es nicht ändert, daß die
biologischen und entwicklungspsychologischen Vor¬
aussetzungen bei der Berufswahl der 14jährigen und eines
Teiles der 15jährigen überaus ung^ünstig sind. Statistisch wurde von mir
belegt, daß die Berufswahl in diesem Alter noch wenig Bestand hat und
dadurch erwiesen, daß die Jugendlichen dieses Alters allgemein noch nicht
die für die Berufswahl erforderliche Reife erlangt haben.
Als den richtigen Zeitpunkt für die Berufswahl der
deutschen männlichen Jugendlichen müssen wir allgemein das 16. Lebensjahr
betrachten, da es sich zeigt, daß die Entschiedenheit und Entschlossenheit,
mit welcher die 16jährigen ihren Beruf wählen, später wieder zunehmender
Unentschlossenheit und Unsicherheit in der Frage der Berufswahl Platz
macht. Es wird insbesondere bei Jugendlichen, die ihre Individualität lang¬
samer entfalten oder in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind, notwendig
sein, den Berufseintritt hinauszuschieben und durch entsprechende
Berufsschulung noch vorzubereiten, um sie vor beruflichen Fehl¬
schlägen und den damit verknüpften Neurosen und charakterlichen wie
auch moralischen Fehlentwicklungen zu schützen.
Die Erfahrung, daß Jugendliche bestimmte Berufe vorziehen, die
ihrem Körperbautypus entsprechen und in vielen Fällen ihren Beruf so¬
lange wechseln, bis sie eine ihren konstitutionellen Eigenheiten ent¬
sprechende Berufswahl treffen, weist auf die Notwendigkeit hin, den
zwischen Körperbau und Beruf bestehenden Zusammenhängen bei der
Berufsberatung erhöhte Beachtung zu schenken. Die Bedeutung der
Konstitutionsforschung für die Berufsberatung wird
durch die Schwierigkeiten, die die Feststellung des Habitus bei den
14jährigen und einem Teil der 15jährigen bereitet, keineswegs geschmälert.
Die unzulängliche Entwicklung der Körperbaumerkmale in der Pubeszenz
ist nur ein neuerlicher Beweis dafür, daß die Berufswahl in diesem Alter
verfrüht ist. Wenn auch unter dem Einfluß des Wachstums und des
Berufes erhebliche strukturelle Veränderungen eintreten können, steht doch
die Tatsache fest, daß es bei mangelnder Übereinstimmung zwischen
Konstitution und Beruf im Laufe der beruflichen Entwicklung weit eher
zu einem Berufswechsel als zu einem Dominanzwechsel der Körperbau¬
merkmale kommt. Vor allem finden wir bei typischer Ausbildung der
42
konstitutionellen Merkmale die Voraussetzungen für eine starke, die Rich¬
tung des Berufswechsels bestimmende Berufsneigung, nicht aber jene für
einen Wechsel der dominierenden Körperbaumerkmale vor.
Die Typenfeststellung nach Kretschmer kann bei der Berufs¬
beratung auf somatoskopischem Weg unter Verzicht auf zeit¬
raubende anthropometrische Methoden erfolgen. Sie erleichtert besonders
bei den Anwärtern handwerklicher Berufe die Beurteilung der Berufs¬
eignung, doch bleibt die Bedeutung des konstitutionellen Faktors nicht auf
diesen Berufskreis beschränkt. Die Feststellung der Konstitutionsform
genügt selbstverständlich allein nicht zur Beurteilung der praktischen
Lebenseignung, sie gibt aber Anhaltspunkte, um die Berufslenkung in
einer Weise vornehmen zu können, durch welche beruflichen Fehlschlägen
und den damit zusammenhängenden sozialen Entgleisungen vorgebeugt
wird.
Aus den Untersuchungen des beruflichen Verhaltens der straffällig
gewordenen Jugendlichen ist deutlich hervorgegangen, wie weitgehend
das Berufsschicksa 1 von den pädagogischen Voraus¬
setzungen bestimmt wird. Es zeigt sich, daß die berufliche
Einordnung sowohl durch erziehliche Vernachlässigung, wie durch Ver¬
wöhnung außerordentlich erschwert wird. In den Erziehungsmängeln
wurde die verbreitetste Ursache der Faulheit erkannt, die ein typisches
Merkmal zahlreicher jugendlicher Rechtsbrecher bildet. Daraus kann
geschlossen werden, wie notwendig es ist, durch staatlichen Einfluß auf die
Jugenderziehung die Folgen einer fehlenden oder falschen Erziehung
auszugleichen. Die Jungen und Mädchen, die heute in den verschiedenen
Organisationen körperlich gestählt, abgehärtet und zur Pflichterfüllung
und Verantwortungsfreude erzogen werden, sind auch den höchsten An¬
forderungen, die das Berufsleben an sie stellt, gewachsen. Wenn wir —
der Zielsetzung des Nationalsozialismus entsprechend — eine gesunde und
berufstüchtige Jugend heranziehen und sie zu wahrem Berufsethos hin¬
führen, wird dies auch wesentlich dazu beitragen, jene sozialen Ent¬
gleisungen, die nicht in der Natur des Menschen bedingt sind, zu ver¬
hüten und unsere Volksgemeinschaft vor künftigem Verbrechertum zu
bewahren.
Der Schmuggel unter den Gefangenen
und seine Bekämpfung
von Staatsanwalt Dr. Otto Gündner, Stuttgart.
In einer Zeit, die die restlose Au.snutzung aller Arbeitskräfte für
den unmittelbaren und mittelbaren Bedarf der Wehrmacht, für die
Ernährung des deutschen Volkes und für die Deckung seiner sonstigen
dringendsten Lebensbedürfnisse erfordert, hängt auch die Auswahl der
Gefangenenarbeit in erster Linie davon ab, auf welcher Dringlichkeitsstufe
die in Betracht kommende Arbeit innerhalb der Wehr- und Volkswirtschaft
steht. Die Berücksichtigung mancher besonderen Erfordernisse des Straf¬
vollzugs, insbesondere der Ordnung und Sauberkeit und in gewissem
Umfange auch der Sicherheit in den Anstalten muß dahinter zurücktreten.
Beispielsweise läßt es sich nicht immer umgehen. Gefangene, die mcht
43
über jeden Flucht- und Schmuggelverdacht erhaben sind, mangels anderer
Arbeitskräfte gelegentlich zu unaufschiebbaren Außenarbeiten heran¬
zuziehen, oder in den Anstalten auch Arbeiten auszuführen, bei denen die
Überwachung erschwert und den Gefangenen Gelegenheit zum unerlaubten
Erwerb oder zur unerlaubten Weitergabe von Gegenständen gegeben ist, oder
zu denen den Gefangenen gefährliche Werkzeuge ausgehändigt werden
müssen. So hat sich in der Auswahl der Arbeiten für Gefangene eine tief¬
gehende Verlagerung vollzogen: während früher die typische Gefangenen¬
arbeit, als deren Schulbeispiel das Tütenkleben gelten mag, weithin im
Vprdergrund stand, müssen heute vor allem wirtschaftswichtige Arbeiten,
wie Straßenbau, Meliorationen, Landwirtschaft, Altverwertung und Ver¬
schrottung, Metallarbeiten usw. durchgeführt werden. Zu der damit
verbundenen Erschwerung der Aufsicht kommt die Tatsache, daß durch
die Einberufungen zur Wehrmacht und durch den Personalbedarf neu¬
gewonnener Gebiete zahlreiche erfahrene Aufsichtsbeamte bis auf
weiteres ausgefallen sind, während die verbliebenen Beamten und die
eingestellten Hilfskräfte oft bis an die äußerste Grenze ihrer Leistungs¬
fähigkeit beansprucht werden müssen. Es liegt auf der Hand, daß mit
diesem Zustand, der sich auch nach Kriegsende zunächst nicht wesentlich
ändern dürfte, die Gefahr einer Lockerung der Disziplin und infolgedessen
ganz besonders eines Umsichgreifens des Schmuggels unter den Gefangenen
verbunden ist. Im folgenden soll deshalb kurz auf die Möglichkeiten des
Erwerbs und Besitzes „unerlaubter“ Gegenstände und des unzulässigen
Handels unter den Gefangenen eingegangen und auf die Mittel und Wege
zur Bekämpfung dieser Ordnungswidrigkeiten hingewiesen werden. Dabei
kann auf Vollständigkeit kein Anspruch erhoben werden, so reizvoll es
wäre, eine umfassende Darstellung all der vielfältigen Schiebungen unter
Gefangenen zu versuchen, die immer wieder abgewandelt und mit
erfinderischem Geiste den wechselnden Verhältnissen angepaßt werden.
Daß seit jeher in Gefängnissen geschmuggelt wird, steht außer
Zweifel. Ebenso klar ist jedem Praktiker, daß trotz aller Gegenmaßnahmen
und Strafdrohungen auch in Zukunft geschmuggelt werden wird. Der
Gegenstand des Schmuggels kann, vom Vollzugsstandpunkt aus gesehen,
recht gefährlicher Natur sein, namentlich wenn es sich um Waffen, Aus¬
bruchswerkzeuge oder andere Hilfsmittel zur Entweichung handelt. Meist
aber sind es harmlosere Dinge, Nahrungs- und Genußmittel, Zeitungen
und andere Annehmlichkeiten des Alltagslebens, die der Gefangene im
allgemeinen schmerzlich entbehrt. Das Streben des Gefangenen, sich diese
verbotenen Dinge zu verschaffen, entspringt nicht nur dem Wunsch, die
Härten und Entbehrungen des Eingesperrtseins zu mildem oder Mit¬
teilungen mit der Außenwelt auszutauschen, sondern auch dem Bedürfnis,
die Eintönigkeit der Haft durch Nervenreize, Spannungen und selbst¬
geschaffene kleine Abenteuer zu unterbrechen und die „Gegenseite“, als
die ihm die Anstaltsleitung und ihre Beamten vielfach erscheinen, zu
überlisten. Wo die Umwelt keine Abwechslung, keine Aufregungen, keine
„Sensationen“ bietet, verschafft man sich selbst gewisse „Erlebnisse“ und
sorgt so für eine Art Kinoersatz.
Ein geordneter Strafvollzug muß diesen Versuchen selbstverständlich
entgegentreten. Vor allem muß er mit allen Mitteln zu verhindern suchen,
daß die Gefangenen in den Besitz von Ausbruchswerkzeugen und Flucht¬
hilfsmitteln gelangen. Das erfordert nicht nur die Sicherheit der Ver¬
wahrung, sondern ebenso sehr auch die persönliche Sicherheit der Beamten.
Aber auch der Schmuggel anscheinend harmloserer Gegenstände muß
44
unterbunden werden. Andernfalls würden die gewandteren und hemmungs¬
loseren Gefangenen Vorteile gegenüber denen genießen, die gewillt sind,
sich der Strafe als einer verdienten Sühne zu unterwerfen und sich in die
Anstaltsordnung zu fügen. Bei Untersuchungsgefangenen würde der Zweck
der Untersuchung, bei Strafgefangenen das Strafziel durch den Austausch
unkontrollierter Mitteilungen beeinträchtigt, die Feuersicherheit der
Anstalten würde durch Feuerzeug und Rauchmaterial in den Händen der
Gefangenen schwer gefährdet werden. Daneben ist der Schmuggel auch
„harmloser“ Dinge aus folgenden Gründen untragbar: Einmal ist
anzunehmen, daß da, wo kleinere, ungefährliche Schiebungen in größerem
Ausmaß möglich sind, auch gefährliche Dinge geschmuggelt werden, und
zum anderen ist es Erfahrungstatsache, daß dort, wo die Gefangenen sich
unerlaubte Dinge von außen verschaffen können, immer wieder von ihnen
versucht wird, Beamte damit zu bestechen oder sie zu unerlaubter
Verbindung mit den Angehörigen der Gefangenen zu verleiten.
So verschieden und zahlreich die Arten und Möglichkeiten des
Schmuggels sind, so erfindungsreich und einfühlungsfähig muß auch der
Beamte sein, der ihnen auf die Spur kommen und sie verhindern will.
Eine eingehende Kontrolle muß schon bei der Einlieferung des
Häftlings einsetzen. Bei Strafgefangenen läßt sich das Mitbringen
unerlaubter Dinge verhältnismäßig leicht verhindern. Es muß nur dafür
gesorgt werden, daß dem Gefangenen sofort alle Zivilkleidungsstücke und
die ganze übrige Habe abgenommen werden. Ist dies ausnahmsweise nicht
durchführbar, etwa weil der zuständige Beamte zeitweilig verhindert ist
oder die Zulieferung außerhalb der Dienststunden stattfindet, so darf der
Gefangene keinesfalls mit seinen Zivilsachen in die für seine spätere
Verwahrung bestimmte Zelle gebracht oder mit Mitgefangenen zusammen¬
gelegt werden, sondern ist in einer besonderen Zugangszelle zu verwahren,
die von den eigentlichen Hafträumen getrennt liegt. Kommen mehrere
Gefangene gleichzeitig an, die nicht sofort eingekleidet werden können,
so müssen sie einzeln untergebracht werden. Damit wird nicht nur der
Schmuggel, sondern auch die Gefahr einer Verabredung zur Entweichung
oder Meuterei ausgeschaltet, die im Anfang der Strafzeit besonders nahe
liegt. Im übrigen wäre es grundverkehrt und nicht zulässig. Gefangene,
die im eigentlichen Strafvollzug streng voneinander getrennt werden, wie
z. B. Erstbestrafte und Vorbestrafte, junge und erwachsene Gefangene,
ausgerechnet in der ersten Nacht oder am ersten Tag ihrer Strafe
zusammenzusperren. Es ist schon bedenklich genug, daß sich die
notwendige Trennung auf den Transporten nicht immer genügend
durchführen läßt.
Der oberste Grundsatz für die Behandlung der Zugänge muß deshalb
lauten: Sofortige Trennung voneinander und schnellste Eingliederung in
den Vollzug. Das bedeutet: alsbaldige Aufnahmebehandlung, Abnahme
aller Zivilsachen (auch das Behalten etwa mitgebrachter Zahnpasta, Seife
usw. wird zweckmäßig verboten), Baden, Einkleidung, Vorführung beim
Arzt, Einteilung zur Arbeit. An welcher Stelle sich der Anstaltsvorstand
einschaltet, mag ihm überlassen bleiben; aufschlußreich ist es jedenfalls,
die Ankömmlinge noch in ihrer bürgerlichen Erscheinung zu besichtigen,
ehe sie den gleichmachenden Prozeß der Aufnahme und Einkleidung hinter
sich haben.
Treffen die Sammeltransporte regelmäßig außerhalb der Dienst¬
stunden ein, so empfiehlt es sich, ein besonderes Aufnahmekommando
einzuteilen. Es besteht aus einem Beamten der Annahme (Personal-
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kanzlei, jetzt Vollzugageschäftsstelle), der die Personalakten mit Hilfe der
schon vorliegenden Vollstreckungspapiere bereits vorbereitet hat, dem Haus¬
vater (Kammerverwalter), einem Hauptwachtmeister und den erforder¬
lichen Aufsichts- und Hilfskräften. Dieses Kommando besorgt die Auf¬
nahme der Zugänge, das Abnehmen der Zivilkleider und der sonstigen
Habe, das Baden, die Einkleidung und gegebenenfalls die Ausgabe der
ersten Verpflegung. Zweckmäßig ist es auch, einen Friseur bereitzuhalten,
der den Gefangenen nötigenfalls sofort die Haare schneidet. Dann erst
kommen die Zugänge in die Zugangszellen, oder wenn es an solchen fehlt,
in eigentliche Haftzellen. Durch diese sofortige Behandlung wird nicht nur
der Schmuggel, sondern auch die Verschmutzung der Zellen und das Ein¬
schleppen von Ungeziefer verhindert.
Das gesamte Aufnahmeverfahren muß so rasch und reibungslos wie
möglich, sozusagen „am laufenden Band“ vor sich gehen. Der Gefangene
darf keine Station zweimal passieren, keinen Raum zweimal betreten.
Diesem Erfordernis sollte auch die bauliche Gestaltung der Anstalt
Rechnung tragen, z. B. sollte das Aufnahmebad so angeordnet sein, daß
der Gefangene es von dem Raum her, in dem er seine Zivilkleider
abgeliefert hat, völlig nackt betritt und es nur nach der anderen Seite
hin, wo die Gefangenenkleidung ausgegeben wird, verlassen kann.
Unnützes Herumstehen vor der Annahmekanzlei, der Hausvaterei, im
Vorzimmer des Arztes, in den Gängen und vor den Zimmern der Geistlichen
und Lehrer muß vermieden werden. Soweit es nicht anders geht, muß
wenigstens für geordnete Aufstellung der Gefangenen in angemessener
Entfernung voneinander und unter ausreichender Aufsicht gesorgt werden.
Ist so das ganze Aufnahmeverfahren straff durchorganisiert, so wird es
den Gefangenen in aller Regel nicht möglich sein, unerlaubten Besitz in
die Haft mitzubringen.
Bei Unter.suchungsgefangenen läßt sich das Einbringen von
Schmuggelgut nicht so leicht verhindern, da sie in der Regel ihre eigenen
Kleider behalten. Umso genauer muß die Überwachung sein. Beim
geringsten Verdacht empfiehlt es sich, die völlige Entkleidung des
Häftlings anzuordnen. Die Kleidung, insbesondere das Futter, die Schuh¬
absätze, die Kragenaufschläge, Stöcke und Krücken, Brillenbehälter usw.
bedürfen sorgfältiger Kontrolle. Noch zweckmäßiger ist es, auch
Untersuchungsgefangene in Gefängniskleidung zu stecken. Dies ist umso
eher angebracht, als auch die Untersuchungsgefangenen zur Arbeit
verpflichtet sind, wobei die Zivilkleidung leicht beschädigt und abgenutzt
wird.
Die Zivilkleidung darf dann allerdings nicht, wie es in kleinen
Gefängnissen oft anzutreffen ist, in der Zelle belassen werden, sondern
muß in einem besonderen, gut verschlossenen und gesicherten Raum
untergebracht werden. Soll der Häftling in bürgerlicher Kleidung
vorgeführt werden, so muß der Aufsichtsbeamte ihm die Kleidung
aushändigen und alsbald nach der Vorführung wieder abnehmen, nicht ohne
sie beide Male gründlich zu durchsuchen. Das Abnehmen der Zivilkleidung
bedeutet eine Mehrbelastung für die Beamten; aber die Arbeit lohnt sich.
Sie verhindert nicht nur das Einschmuggeln verbotener Dinge, sondern
auch das beliebte Verschmuggeln von Teilen der Kleidung selbst unter den
Gefangenen. Außerdem wird die Zelle übersichtlicher, sauberer und
ordentlicher, und — was besonders wichtig ist — Fluchtversuche werden
durch das Fehlen der Zivilkleidung wesentlich erschwert, wenn nicht gar
von vornherein ausgeschaltet.
46
Entsprechende Regeln wie für die Behandlung der Zugänge gelten
auch für die Entlassung der Gefangenen. Um das Hinausschmuggeln
von Gegenständen aller Art, insbesondere Briefen, zu verhindern, ist auch
hier die strenge Trennung des Strafvollzugsbereichs vom zivilen Bereich
notwendig, d. h. der zu Entlassende darf bei der Einkleidung in seine
bürgerliche Kleidung nichts heimlich aus der Anstalt mitnehmen können und
darf nach der Umkleidung nicht mehr mit seiner bisherigen Umgebung, sei¬
nen Mitgefangenen, seiner früheren Zelle usw. in Berührung kommen. Des¬
halb muß er, wenn er nicht alsbald nach der Umkleidung entlassen wird, in
einer besonderen Abgangszelle verwahrt werden.
Wenn der Gefangene in den Strafvollzug eingegliedert ist, ohne daß
es ihm gelungen ist, verbotene Dinge mitzubringen, so ist damit die Gefahr
des Schmuggels von außen herein noch keineswegs behoben. Gerade heute,
wo die Vollzugsanstalten stärker denn je in den Wirtschaftsprozeß
eingeschaltet sind, führen zahlreiche Kanäle aus der Anstalt in die
Außenwelt und umgekehrt.
Zunächst einmal sind es die an sich erlaubten Beziehungen, die zu
Trägem unerlaubten Austausches werden können. Der Briefwechsel mit
der Familie und der „geschäftliche“ Schriftverkehr bedürfen strenger
Kontrolle. Dabei ist es von besonderer Wichtigkeit, daß alle ein- und
ausgehenden Briefe eines Gefangenen von einem und demselben Beamten
gelesen werden. Ganz unzweckmäßig ist es, wie es hier und da vorkommt,
die eingehenden Briefe von einem anderen Beamten als die ausgehenden
und die Privatbriefe von einem anderen als die Behörden- und Geschäfts¬
briefe zensieren zu lassen. Nur der Beamte, der den ganzen Schriftverkehr
eines Gefangenen mit Frage und Antwort, mit Äußerung und Gegen¬
äußerung überblickt, kann sich daraus ein Bild des Gefangenen und seiner
Lebensverhältnisse machen und ein sicheres Urteil darüber bekommen,
welches Schreiben unnötig oder unzulässig ist, und welches dem Häftling
ausgehändigt werden soll. Nur er hat ein Gefühl dafür, wo z. B. Verdacht
besteht, daß die angebliche Schwester eine Dime, der angebliche Vetter
ein Tatgenosse oder entlassener Mitgefangener ist. Übrigens wird auch
nur der Beamte, durch dessen Hand der ganze Schriftwechsel des
Gefangenen geht, daraus einen erschöpfenden Beitrag zur Beurteilung der
Persönlichkeit des Gefangenen bei der Frage der Einstufung, der
Begnadigung, der Verhängung von Vorbeugungshaft, der Entlassung aus
der Sichemngsverwahrung usw. geben können.
Zur technischen Seite der Briefüberwachung sei bemerkt, daß die
Briefmarken vom Umschlag abzulösen, eine etwa vorhandene Füttemng
des Umschlags zu entfernen und unbeschriebene Blätter abzutrennen sind,
damit nicht etwa unter der Briefmarke oder dem Futter angebrachte oder
mit unsichtbarer Tinte geschriebene Mitteilungen durchgehen.
Sorgfältiger Überwachung bedürfen auch die Besuche. Umarmungen
und Liebkosungen bieten eine beliebte Gelegenheit zum Schmuggeln und
sind daher nur zu dulden, wenn die Gefahr von Durchstechereien mit
Sicherheit auszuschließen ist (vgl. auch Nr. 126 Abs. 3 Strafvollzugs¬
ordnung). Auch Kinder werden gern als Vermittler benutzt und sollten
deshalb gmndsätzlich nicht zugelassen werden (vgl. Nr. 122 Abs. 4 Straf¬
vollzugsordnung), ganz abgesehen davon, daß man ihnen den Eindruck
eines Besuches im Gefängnis oder Zuchthaus ersparen sollte. Die Zahl
der Besucher ist zu beschränken (Nr. 122 Abs. 5 Strafvollzugsordnung).
Die gleichzeitige Zulassung von mehr als drei Besuchern würde eine
ausreichende Beaufsichtigung unmöglich machen. Um den Besuchern
47
Enttäuschungen und unnötigen Fahrtaufwand zu ersparen, ist es zweck¬
mäßig, diese Einschränkungen in den Briefköpfen der Gefangenenbriefe
und durch Anschlag im Besuchszimmer bekanntzugeben. Im Besuchszimmer
ist eine Abschrankung oder ein breiter Tisch anzubringen, dessen
Unterseite mit bis zum Fußboden reichenden Brettern abgeschlossen ist.
Der Raum soll dadurch in zwei Hälften geteilt werden, von denen möglichst
jede einen besonderen Eingang hat. Die Eingänge sollen so angelegt sein,
daß die Wege der vorzuführenden Gefangenen sich mit denen der
Besucher auch auf den Gängen nicht kreuzen. Hat das Besuchszimmer
nur eine Türe, so wird die Abschrankung mit einem Durchlaß versehen,
neben dem der Platz des tJberwachungsbeamten angeordnet ist. Stets ist
zuerst der Gefangene hineinzuführen. Erst wenn dieser seinen Platz
eingenommen hat, wird der Besucher zugelassen. Entsprechend wird am
Ende des Besuches verfahren, indem zuerst der Besucher den Raum
verläßt.
Besondere Vorsicht ist geboten, wenn der Besucher dem Gefangenen
etwas mitbringen will. In doppelten Böden und Deckeln, in Buchrücken,
in hohlen Absätzen, zwischen den Sohlen von Hausschuhen, in Zahnpasta¬
tuben, Hautkremdosen, Zahnbürsten, Rasierapparaten, Rasierpinseln,
Blumensträußen, vor allem aber auch in Broten und Kuchen können
Ausbruchswerkzeuge, Schlüssel, Geld, Tabak, Briefe und andere Dinge
verborgen sein; in Büchern und Zeitungen können durch Unterstreichen
oder anderweitiges Kenntlichmachen einzelner Buchstaben die umfang¬
reichsten Mitteilungen übermittelt werden. Die sicherste Vorbeugungs¬
maßnahme gegen derartige Schmuggelversuche besteht darin, die
Aushändigung mitgebrachter Sachen an Gefangene ganz allgemein zu
verbieten. Soweit es sich um Lebens- und Genußmittel, Blumen usw.
handelt, ist dies heute bei Strafgefangenen im Gegensatz zu der Zeit vor
dem Umbruch wohl ausnahmslos der Fall, schon weil unsere Auffassung
der Strafe derartige Einzelerleichterungen ablehnt. Aber auch bei
Untersuchungsgefangenen und Sicherungsverwahrten ist hier äußerste
Beschränkung am Platze. Soweit bei den ersteren und bei Haftgefangenen
Selbstbeköstigung zugelassen wird, ist diese nicht etwa von den
Angehörigen der Gefangenen zu liefern, sondern aus einem vom Anstalts¬
leiter ausgewählten Speisehaus zu beziehen (Nr. 162 Abs. 3 Strafvollzugs¬
ordnung). Der Bedarf an Körperpflegemitteln, der übrigens auf das
notwendigste beschränkt werden kann (Waschlappen, Zahnbürste, Seife,
Zahnpulver, gegebenenfalls Rasierzeug und eine einfache Hautkrem), ist
stets nur durch Vermittlung der Anstalt zu decken, soweit diese
Gegenstände nicht ohnehin auf Anstaltskosten gestellt werden (vgl. Nr. 104
Abs. 2 Strafvollzugsordnung). Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, auch
Fachschriften und Lehrmittel sollten nur vom Verlag oder Buchhandel
bezogen werden.
Was über das Mitbringen von Gegenständen durch Besucher gesagt
wurde, gilt natürlich in gleichem Maße für die Zusendung von Paketen.
Diese dürfen nur nach vorher eingeholter Genehmigung des Vorstandes
zugesandt werden, die nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen
erteilt werden sollte. Selbstverständlich sind die Pakete vor der Aus¬
händigung eingehend zu untersuchen. Auf das Verbot des Mitbringens
und der Zusendung irgendwelcher Sachen wird zweckmäßig ebenfalls in
den Briefköpfen der Gefangenenbriefe und durch Anschlag im Besuchs¬
zimmer hingewiesen. Verbotswidrig zugesandte Dinge werden nicht
angenommen oder auf Kosten des Absenders zurückgesandt. Handelt es
48
sich um leichtverderbliche Lebensmittel, so werden sie der NSV. überwiesen
oder geeignetenfalls in der Anstaltsküche verwertet. Zweckmäßig, aber
nicht unbedingt nötig ist es, den betroffenen Gefangenen der beabsichtigten
Verwendung zustimmen zu lassen.
Von außen kommende Sendungen sind aber nicht nur dann schmuggel¬
verdächtig, wenn sie von Angehörigen und Freunden der Gefangenen
stammen, sondern auch, wenn es sich um Lieferungen von Gewerbe¬
treibenden handelt, die mit der Anstalt in Geschäftsverbindung stehen.
Diese Firmen haben zwar im allgemeinen alles Interes.se daran, die
Beziehungen zur Anstalt nicht durch Schiebungen mit Gefangenen
gefährden zu lassen, und werden deshalb ihr Personal in aller Regel
entsprechend überwachen. Trotzdem kommen solche Schiebungen
erfahrungsgemäß hin und wieder vor. Oft „finden“ die Gefangenen beim
Auspacken der Pakete und Kisten mit Rohstoffen für die Arbeitsverwaltung
oder in leer zurückkommendem Packmaterial Zigaretten, Tabak und
Feuerzeug oder gar Ausbruchswerkzeuge. Auch in Lieferungen von
Lagerungs- und Bekleidungsgegenständen oder von Lebensmitteln für die
Anstalt können solche Dinge verborgen sein. Urheber dieser Schiebungen
kann ein guter Freund oder ein entla.ssener Gefangener sein, der in dem
betreffenden Unternehmen beschäftigt ist. Gelegentlich aber gelingt es
den Gefangenen auch, von der Anstalt aus solche Beziehungen anzubahnen,
indem sie hinausgehenden Sendungen entsprechende Zettel beifügen und
gleichzeitig als Gegenleistung mehr Ware einpacken, als bestellt ist und
berechnet wird. Die Belohnung trifft dann mit der nächsten leer zurück¬
kommenden Kiste ein. Deshalb ist es notwendig, das Einpacken und
Au.spacken aller Sendungen sorgfältig zu überwachen, wenn es nicht
ausschließlich von Beamten durchgeführt werden kann. Daneben können
die Lieferanten und Abnehmer der Anstalt gelegentlich in passender Form
unterrichtet und gewarnt werden. Ein Hinweis auf die einschlägigen
Strafbestimmungen (§§ 120, 257 ff. StGB.) kann in geeigneten Fällen
nützlich sein.
Axich die Beauftragten der Unternehmer, die in Anstalten arbeiten
lassen, sind nicht immer ganz vertrauenswürdig und müssen überwacht
werden. Überhaupt ist bei Zivilpersonen, die die Anstalt aus irgend einem
Grunde betreten, ganz besondere Vorsicht am Platze, einerlei ob es sich
um Fahrer und Begleiter von Kraftwagen handelt, die Lieferungen bringen
oder abholen, oder um Handwerker, die Ausbesserungen in der Anstalt
vorzunelimen haben, oder um Leute, die Küchenabfälle oder Fäkalien
abholen. Bei derartigen Personen braucht durchaus kein böser Wille
vorzuliegen. Aber es ist erstaunlich, welcher Verständnislosigkeit für die
Belange des Strafvollzugs man regelmäßig bei Zivilpersonen 'begegnet,
und wie rasch und widerstandslos sie dem Mitleid für die „armen“
Gefangenen erliegen und ihrem Geschwätz Glauben schenken. Mit
Leichtigkeit gelingt es einem halbwegs gewandten Gefangenen, einem
Zivilisten seine „Unschuld“ zu beweisen und ihm beispielsweise Zigaretten,
Tabak usw. abzubetteln oder ihm zur Umgehung der Zensur einen Brief
mitzugeben. Deshalb muß es eiserner Grundsatz sein, daß kein Fremder
das Anstaltsgelände ohne ständige Begleitung eines Beamten betreten darf.
Gerne versuchen auch entlassene Gefangene, ihren bisherigen
„Kameraden“ etwas zukommen zu lassen, indem sie es an verabredeter
Stelle über die Mauer werfen oder es sonst an einem geeigneten Platz
niederlegen. Diesem gewöhnlich als „Bärenlegen“ bezeichneten Schmuggel
läßt sich durch genügende Aufmerksamkeit der Beamten und entsprechende
49
Gestaltung der Umfassungsmauern, der Fenster und Vergitterungen
begegnen. Ferner versuchen Entlassene oft, unter vereinbarten Decknamen
und unwahren Verwandtschaftsbezeichnungen Briefe und Postkarten an
ihre Freunde in der Anstalt zu schreiben. Gegen derartige unzulässige
Versuche (vgl. Nr. 137 Abs. 2 Strafvollzugsordnung) kann nur die
Wachsamkeit und Findigkeit der Zensurbeamten schützen.
Die hauptsächlichsten Vermittler unerlaubten Einbringens in die
Anstalt sind aber die Gefangenen selbst, und zwar diejenigen, die
außerhalb der Anstalt zur Arbeit eingesetzt werden. Ausrückerabteilungen,
Beifahrer bei Lastwagen, Handwerkergefangene, die zu Reparaturen in
Dienstwohnungen usw. verwendet werden, sind von vornherein besonders
schmuggelverdächtig. Sie pflegen alles mögliche in die Anstalt hinein¬
zubringen; aufgelesene Zigarrenstummel, Rauch-, Kau- und Schnupftabak,
Zigarettenpapier, fertige Zigarren und Zigaretten (in der Gaunersprache
als „aktive“ bezeichnet), Feuerzeug, Lebensmittel, Zeitungen und Geld
sind noch die harmlosesten Mitbringsel. Selbstverständlich wird nicht nur
für den persönlichen Bedarf, sondern auch für die Mitgefangenen
geschmuggelt, die dafür ihrerseits gewisse Gegenleistungen (Brot, Zulagen)
in Tausch geben. Hier ist schärfste Überwachung geboten. Außenarbeiter
sollten nur besonders tüchtigen Aufsichtskräften unterstellt werden, die
bereits im Innendienst Erfahrungen gesammelt haben. Die Beamten
haben stets darauf zu achten, daß die Gefangenen von freien Arbeitern
getrennt bleiben (vgl. Nr. 79 Abs. 3 Strafvollzugsordnung) und in
keinerlei Berührung mit der freien Bevölkerung kommen. Unterkünfte,
Werkzeugschuppen, Speiseräume usw., die, wenn auch zu anderen Zeiten,
auch von freien Arbeitern benutzt werden, sind zu vermeiden. Die Außen¬
arbeitsstellen sind vom Vorstand, dem Polizei-, Arbeits- oder Landwirt¬
schaftsinspektor möglichst oft zu revidieren. Besonders wichtig aber ist,
daß die Außenarbeiter und ihre Kleidung täglich nach dem Einrücken
gründlich durchsucht werden, und zwar vor dem Betreten der Zellen
oder Schlafräume. Dabei ist bei einem täglich wechselnden Teil der
Gefangenen die vollständige Entkleidung (vgl. Nr. 172 Abs. 3 Strafvollzugs¬
ordnung) anzuordnen. Die Durchsuchung geschieht zweckmäßig durch
energische, besonders dazu kommandierte Beamte, die die Abteilung im
regelmäßigen Dienst nicht führen. Der Abteilungsbeamte selbst neigt
erfahrungsgemäß dazu, „seinen“ Gefangenen zu viel Vertrauen zu schenken,
und möchte es im allgemeinen vermeiden, vor ihnen als „Schikaneur“
aufzutreten. Daß Außenarbeiter nicht in gemeinsame Zellen oder Schlaf¬
säle mit innerhalb der Anstalt beschäftigten Gefangenen gelegt werden
dürfen, bedarf keiner besonderen Begründung. Darüber hinaus empfiehlt
es sich sogar, die Außenabteilungen völlig von den anderen Gefangenen
getrennt unterzubringen, wo es die baulichen Verhältnisse irgend zulassen.
Es ist selbstverständlich, daß der Schmuggel sich nicht auf das
Hereinbringen unerlaubter Dinge von draußen und das Hinausbringen
unzensierter Nachrichten nach außen beschränkt. Ein ebenso großes
Gebiet bildet der Schmuggel innerhalb der Anstalt. Hier handelt es
sich darum, daß Gefangene unrechtmäßig erworbene oder auch rechtmäßig
ihnen überlassene Gegenstände und Lebensmittel verschieben, oder daß
Gefangene, die auf Grund ihrer Einstufung oder besonderer Anordnung
im Einzelfall über Vergünstigungen verfügen, diese gegen andere Vorteile
austauschen, oder daß schließlich Gefangene, die sich kraft ihrer
Beschäftigung in der Anstalt gewisse Erleichterungen verschaffen können,
damit Handel treiben.
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50
Zu der ersten Gruppe von Schiebungen gehört das Verschmuggeln
von Zahnbürsten, Seife, Brillen, von Hausschuhen, Kleidungsstücken,
Büchern usw. Diesen Ordnungswidrigkeiten ist durch regelmäßige,
überraschend stattfindende Zellenausstattungs- und Kleiderappelle (vgl.
Nr. 98 Abs. 5 Strafvollzugsordnung) entgegenzutreten, bei denen die
Vollzähligkeit der ausgegebenen Sachen nachgeprüft wird. Die Appelle
wirken sich nebenbei auf die Zellenordnung und Sauberkeit recht günstig
aus und sind von erheblichem erzieherischen Wert. Außerdem ist darauf
zu achten, daß die Gefangenen stets nur e i n Stück Seife, eine Zahnbürste
usw. besitzen. Deshalb darf ein neuer Gebrauchsgegenstand nur gegen
Rückgabe des abgenutzten ausgegeben werden; bei Seife, Zahnpulver usw.
muß durch eine Ausgabekontrolliste dafür gesorgt werden, daß ein
Gefangener innerhalb eines angemessenen Zeitraumes nicht mehr als einmal
beliefert wird.
Ferner gehört hierher das Verschmuggeln von Teilen der regel¬
mäßigen Verpflegung, insbesondere von Brot, Fleisch, Wurst, Käse, Obst,
Fett. Soweit es sich um Brotschiebungen handelt, besteht das beste
Gegenmittel darin, daß Brot höchstens in einer Tagesportion ausgegeben
wird; noch vorteilhafter ist es, das Brot zweimal täglich auszugeben, weil
damit auch vermieden wird, daß die Gefangenen die ganze Portion auf
einmal essen und dadurch gesundheitlichen Schaden erleiden. Bei den
übrigen Speisen empfiehlt es sich, das Aufbewahren grundsätzlich zu
verbieten. Was nicht alsbald aufgegessen wird, ist zurückzugeben. Die
Einhaltung dieser Vorschrift ist durch Kontrollen zu überwachen.
Verbotswidrig aufgehobene Speisen werden abgenommen, was besser als
Strafen dazu führt, daß Verstöße gegen das Verbot aufhören.
Die zweite Gruppe von Durchstechereien innerhalb der Anstalt
besteht in der unerlaubten Weitergabe von „Vergünstigungen“. Gefangene,
die Einkaufserlaubnis haben, geben oft einen Teil der eingekauften Dinge
an andere weiter, um sich dafür anderweitige Vorteile zu verschaffen.
Auch Kranke, die auf ärztliche Anordnung Kostzulagen oder Diätkost
erhalten (Magen-, Nieren-, Zuckerkranke usw.) verschmuggeln gelegentlich
ihre Sonderkost. Diesen Mißbräuchen ist entgegenzutreten durch sorg¬
fältige Auswahl der Gefangenen, die Vergünstigungen erhalten, durch
Beschränkung des Einkaufs von Zusatznahrung und Genußmitteln nach Art
und Menge (z. Zt. schon durch die Kriegswirtschaft bedingt) und durch
rücksichtslosen Entzug bei Aufdeckung von Schiebungen. Soweit der
dauernde oder vorübergehende Entzug der Sonderkost bei Kranken nach
ärztlichem Urteil nicht angängig ist, sind die Betreffenden in Einzelzellen
zu verlegen.
Die dritte Gruppe der Schiebungen ist wohl die umfangreichste. Sie
betrifft in erster Linie die Gefangenen der Küche und Bäckerei, die
Lazarettgehilfen, teilweise auch die Haushandwerker und nicht zuletzt die
Reiniger und Hausarbeiter. Daß die Gefangenen, die in der Küche,
Bäckerei, Gärtnerei, Teigwarenherstellung usw. arbeiten, nebenbei ihren
eigenen Appetit bevorzugt befriedigen, ist bekannt und wird sich auch
durch die schärfste Aufsicht nicht verhindern lassen. Verhindert werden
kann und muß aber, daß sie sich Lebensmittel in größerer Menge aneignen
oder gar an andere Gefangene verschieben. Dazu gehört vor allem, daß
der zuständige Beamte die Lebensmittel und Rohstoffe unter sicherem,
dauerndem Verschluß hält und nur persönlich ausgibt. Ferner muß er
ihre Verwendung selbst überwachen: Milch, Speisefett, Zucker, Süßstoff,
überhaupt alle begehrten Artikel, müssen unter seinen Augen den Speisen
51
oder Getränken zugesetzt werden. Es gibt auch Gefangene, die es fertig
bringen, einen Fettklumpen, der im Kessel schon halb geschmolzen ist,
wieder herauszuholen und beiseitezubringen, wenn der Wachtmeister
abgelenkt ist. Außerdem muß der Küchenbeamte die richtige Bemessung
und Ausgabe der Essenportionen an die einzelnen Abteilungen ständig
beaufsichtigen. Überhaupt bildet die Abholung des Essens an der Küche
und die Rücklieferung der leeren Gefäße eine ausgezeichnete Schmuggel¬
gelegenheit; hier ist daher eine genaue zeitliche Einteilung und eine straffe
Organisation, durch die jedes Warten und Gedränge und jede Unübersicht¬
lichkeit vermieden wird, unentbehrlich.
Die Auswahl der Küchenarbeiter usw. bedarf besonderer Sorgfalt.
Gefangene, die wegen Diebstahls, Unterschlagung oder Betrugs bestraft
oder vorbestraft sind, sollten von der Verwendung in der Küche und
verwandten Betrieben völlig ausgeschlossen sein. Küchenarbeiter, die bei
einer Unehrlichkeit ertappt werden, sind sofort abzulösen, disziplinär zu
bestrafen und, wenn es sich um einen schweren Verstoß handelt, der
Staatsanwaltschaft anzuzeigen.
Die gleichen Richtlinien gelten für die Auswahl und Behandlung der
Reiniger und sonstigen Hausarbeiter. Oft bringen es gerade mehrfach
vorbestrafte Betrüger und Diebe fertig, auf Grund ihrer Anstaltserfahrung
und ihres äußerlich zuvorkommenden, gewandten Verhaltens zu solchen
Vertrauensposten herangezogen zu werden, obwohl für einen erfahrenen
Strafvollzugsbeamten mit Sicherheit vorauszusehen ist, daß sie ihren
Posten zu Schwindeleien und Schiebungen mißbrauchen werden. Reiniger
und Hausarbeiter müssen mit großer Vorsicht ausgewählt werden. Ebenso
wichtig ist es aber auch, sie nach angemessener, nicht zu langer Zeit
abzulösen, damit sie auf ihren Posten nicht zu heimisch werden und alle
möglichen Beziehungen anknüpfen. Die früher anzutreffende Unsitte,
einzelne Gefangene jahrelang als Hausarbeiter auf einem und demselben
Posten zu verwenden und sie so zu einer Art Faktotum werden zu lassen,
führte leicht dazu, daß sich diese Gefangenen zu unentbehrlichen Gehilfen
der Beamten aufschwangen. Sie erlangten so alle möglichen Kenntnisse
vom Anstaltsbetrieb und sogar vom Privatleben der Beamten und brachten
diese dadurch in eine gewisse Abhängigkeit. Derartige Zustände sind mit
einem geordneten Strafvollzug unvereinbar.
Im Zusammenhang mit der Hausarbeiterfrage bedarf auch die Pflicht
der Beamten zur sorgfältigen Verwahrung von Akten, Einrichtungsgegen¬
ständen und eigenen Sachen der Erwähnung. Die Hausarbeiter werden
gewöhnlich auch zur Reinigung von Kanzleien und Beamtenzimmem
herangezogen. Wenn die Reinigung auch nur imter Aufsicht stattfinden
soll, so kommt es doch immer wieder vor, daß der Aufsichtsbeamte für
kurze Augenblicke abgerufen wird oder mehrere Räume gleichzeitig
beaufsichtigt. Der Gefangene benutzt derartige Gelegenheiten erfahrungs¬
gemäß dazu, die Zimmer und Sachen gründlichst zu durchschnüffeln.
Deshalb müssen alle Akten, Aufzeichnungen imd Entwürfe, Bücher und
Listen, aber auch das Privateigentum des Beamten, insbesondere Feuerzeug
und Rauchwaren, bei Dienstschluß oder bei Abwesenheit des Zimmer¬
inhabers sorgfältig eingeschlossen werden. Diese Selbstverständlichkeiten
werden oft zu wenig beachtet, bis sich eines Tages zum Erstaunen der
Beteiligten herausstellt, wie eingehend manche Anstaltsinsassen über
Vorgänge in und außerhalb der Anstalt, über Personalangelegenheiten,
Organisationspläne usw. unterrichtet sind. Überhaupt pflegt unter den
Gefangenen, soweit sie nicht durch strenge Einzelhaft völlig abgeschlossen
sind, ein lebhafter Nachrichtenaustausch stattzufinden. Vermittler sind in
4 *
52
erster Linie die Hausarbeiter. Vermittlungsstellen und Austauschgelegen¬
heiten, damit aber auch zugleich Schmuggelgelegenheiten, sind die Essen¬
ausgabe, der Unterricht, der Gottesdienst, das Baden, das Wartezimmer
des Arztes und Zahnarztes, das Aus- und Einrücken bei der Hofstunde,
ja sogar die Vorführungen zum Vorstand und den Verwaltungsdienststellen.
Es empfiehlt sich deshalb, alle unnötigen Vorführungen und alle vermeid¬
baren Aufenthalte von Gefangenen außerhalb ihrer eigentlichen Hafträume
zu unterbinden. An dieser Stelle muß aber auch darauf hingewiesen
werden, daß an einem großen Teil des Anstaltsgeredes und der Nach¬
richtenübermittlung innerhalb der Strafanstalten die Aufsichtsbeamten
selbst die Schuld tragen, die es manchmal nicht unterlassen können, ihre
Privatsorgen und die Tagesereignisse, ja sogar dienstliche Angelegen¬
heiten vor den Ohren der Gefangenen zu erörtern oder diesen gar in
unbegreiflicher Vertrauensseligkeit zu erzählen.
Die vorstehende Erörterung der verschiedenen Arten von Durch¬
stechereien und unerlaubtem Nachrichtenaustausch zwischen den Anstalten
und der Außenwelt und innerhalb der einzelnen Anstalten zeigt — und
auch die Praxis beweist es —, daß derartige Ordnungswidrigkeiten nicht
unvermeidbar sind, sondern bei richtiger Gestaltung des Vollzugs verhindert
werden können. Erforderlich ist eine straffe Durchorganisierung des
gesamten Anstaltsbetriebes. Die wichtigste Vorbedingung aber ist die
unbedingte Zuverlässigkeit, unermüdliche Wachsamkeit und nie erlahmende
Dienstfreudigkeit aller Beamten, angefangen vom Anstaltsleiter, der sich
stets persönlich um alle Vorgänge in der Anstalt kümmern muß, bis zum
letzten Hilfsaufseher. Alle Durchstechereien müssen restlos aufgeklärt
werden; Mängel im Dienstbetrieb, die sich dabei herausstellen, müssen
sofort abgestellt werden. Die schuldigen Gefangenen sind mit
entsprechenden Hausstrafen zu belegen. Das Strafmaß darf, wenn auch
die einzelnen Fälle von Schmuggel und Schiebungen menschlich verständlich
erscheinen mögen, nicht zu nieder sein, weil aus harmlosen Durch¬
stechereien leicht gefährlichere Umtriebe werden können, und weil dem
Anreiz zum Schmuggel wirksame Hemmungen entgegengestellt w'erden
müssen. Auch psychologisch ist es wichtig, den Aufsichtsbeamten in
ihren Bemühungen um die Unterbindung und Aufdeckung von Durch¬
stechereien auf diese Weise eine fühlbare Unterstützung und einen
entsprechenden Rückhalt zu geben. Sonst haben sie leicht das Gefühl,
es geschehe ja doch nichts Rechtes gegen die Schuldigen, und w'erden
geneigt, sich die Mühe der Nachforschung und der Anzeige zu ersparen.
Sow'eit die Hausstrafgewalt des Anstaltsleiters nicht ausreicht, alle
Beteiligten zu treffen, so z. B. wenn an einem Schmuggel entlassene
Gefangene oder Zivilpersonen beteiligt sind, müssen andere Maßnahmen
erwogen werden. Handelt es sich um einen bedingt begnadigten Gefangenen,
der seinen früheren Mitgefangenen etwas zuschmuggelt, so ist der Wider¬
ruf des Gnadenerweises bei der Gnadenbehörde anzuregen. Denn der
Entlassene hat durch sein Verhalten gezeigt, daß er den Sinn der Straf¬
vollstreckung und die Notwendigkeit der Einfügung in die Staats- und
damit auch die Anstaltsordnung nicht erfaßt hat und daher des Gnaden¬
erweises unwürdig ist. Bei endgültig Entlassenen und Zivilpersonen ist
die Ahndung von Durchstechereien mit Gefangenen schwieriger, wenn
nicht der Tatbestand der Gefangenenbefreiung (§ 120 StGB.) oder
Begünstigung (§ 257 StGB.) erfüllt ist. In einzelnen Ländern bestehen
zwar Polizeiverordnungen, die den unbefugten Verkehr mit Gefangenen
unter Strafe stellen. Sow’eit dies aber nicht der Fall ist, dürfte es nicht
63
immer möglich sein, die beteiligten Zivilpersonen zur Verantwortung zu
ziehen. Immerhin wird in geeigneten Fällen zu prüfen sein, ob eine
Bestrafung nach § 123 StGB, in Verbindung mit § 2 StGB, in Betracht
kommt. Dies wird der Fall sein, wenn z. B. jemand von außen Gegenstände,
die für Gefangene bestimmt sind, über die Anstaltsmauer wirft. Denn er
beeinträchtigt dadurch die Ordnung und den ungestörten Ablauf des
Anstaltsbetriebes und verstößt so gegen den Grundgedanken des § 123,
der im Interesse der gesamten öffentlichen Ordnung auch die Ordnung und
Unversehrtheit des Privatbesitzes und der staatlichen Verwaltungen
schützen will.
Der Einsatz der Strafgefangenen
beim Bau der Ostmarkstraße
von ap. Verwaltungsinspektor 011 m a n n
(z. Zt. Gefängnis Lublinitz Ost-OS).
Im Zuge der großen Straßenbauten des Reiches wird auch in der
Bayerischen Ostmark eine neue, gewaltige Straße errichtet. Die
sogenannte „Ostmarkstraße“ beginnt bei Passau und führt etwa parallel
der ehemaligen Reichsgrenze über Regen, Cham, Oberviechtach, Weiden
bis Wunsiedel, teilt sich hier in zwei Strecken, von denen die eine weiter
in nördlicher Richtung bis Hof führt, während die andere, nach einem
Bogen durch das Fichtelgebirge, bei Bemeck nördlich Bayreuth in die
Reichsautobahn endet. Diese neue 9 m breite Teerstraße erschließt
bisher unbekannte, abgelegene, herrliche Gegenden des Oberpfälzer- und
des Bayerischen Waldes und kürzt die Entfernung von Berlin nach Wien
wesentlich ab. Nachdem durch die Beseitigung der Tscheche-Slowakei der
strategische Charakter der Straße mehr in den Hintergrund getreten ist,
dürfte dieselbe nunmehr, ähnlich der Alpen- und der Sudetenstraße,
besonders für den Urlaubsreiseverkehr an Bedeutung gewinnen. Zum
Unterschied zu den Reichsautobahnen darf die Ostmarkstraße von
sämtlichen Fahrzeugen benutzt werden.
Als im Frühsommer des Jahres 1938 die Tschecho-Slowakei-Krise
einen größeren Umfang annahm, wurde die beschleunigte Fertigstellung
der Straße im „Sofortprogramm“ angeordnet. Infolge des Mangels an
Arbeitskräften wurden Strafgefangene vom Generalinspekteur für das
deutsche Straßenwesen angefordert und die Vereinbarung vom 18. Juni 1938,
die die näheren Bestimmungen über die Beschäftigung, Unterbringung,
Verpflegung der Gefangenen enthielt, mit dem Reichsjustizministerium
getroffen-
Der Einsatz erfolgte erstmals in der Mitte des Monats Juni 1938.
Alsbald wurde mit dem Auf- bzw. Umbau von Lagern begonnen, in denen
die Gefangenen in der Nähe ihrer Arbeitsstellen sicher verwahrt werden
konnten. Insgesamt ^vurden sechs Lager eingerichtet, die zunächst den
Vollzugsanstalten Bayreuth, Amberg und Straubing unterstanden und die
bis zu 1600 Gefangene aufnahmen. Mit Ausnahme des Lagers Bischofsgrün
im Fichtelgebirge, das zu Bayreuth gehörte, wurden sämtliche Lager mit
Zuchthausgefangenen belegt. Da die Anstalten Amberg und Straubing
aus ihrem eigenen Bestand nicht auch noch die Lager füllen konnten,
wurden aus anderen Teilen des Reiches Zuchthausgefangene nach dort hin
verlegt. Es kamen u. a. auth 500 Zuchthausgefangene aus ehemalig
österreichischen Anstalten, die wohl den Auswurf der Zuchthäuser und
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Arbeitshäuser darstellten und immer wieder versuchten, gegen die harte
Zucht in Lagern und Anstalten offen oder versteckt zu rebellieren.
Wiederholt kam es zu Zusammenstößen, und nur der Energie und der
Entschlossenheit aller beteiligten Beamten ist es zu verdanken, daß
Meutereien nicht ausbrechen konnten. Auch Fluchtversuche waren verhält¬
nismäßig häufig, sodaß allmählich die Zuchthausgefangenen mit Gefängnis¬
gefangenen ausgetauscht werden mußten. In diesem Zusammenhang mag
erwähnt werden, daß es bei den örtlichen Verhältnissen auf den Baustellen
eine Kleinigkeit war zu entweichen, da die Straße stellenweise durch dich¬
testen Wald gebaut wurde und zur Flucht nur ein einziger Sprung in das
Unterholz genügte. In den kritischen Septembertagen 1938 wurde ein Teil
der Lager für kurze Zeit geräumt. Auch infolge des strengen Frostes des
Winters 1938/39 mußten einige der Lager freigemacht werden. Inzwischen
vrurde der Austausch der Gefangenen beendigt und seit dem Frühjahr 1939
wurde nun von allen Lagern aus unter vollem Einsatz der Gefängiüsgefan-
genen an der Fertigstellung der Straße gearbeitet. Bei der Räumung der
Lager im Herbst 1939, einer Notwendigkeit des Krieges, waren einige Bau¬
abschnitte so weit fertiggestellt, daß die Lager an diesen Stellen abge¬
brochen und an neuen Bauabschnitten wieder auf geschlagen werden sollten.
Während die Lager bis Februar 1939 den einzelnen Anstaltsvorständen
von Bayreuth, Amberg und Straubing unterstanden, wurde am 1. März 1939
eine neue Dienststelle unter der Bezeichnung „Vorstand der Straf¬
gefangenenlager Bayerische Ostmark“ mit dem Sitz in Oberviechtach
(Oberpfalz) geschaffen. Mit der Einrichtung dieser Stelle ist eine in
Deutschland wahrscheinlich einmalige Zweispurigkeit in der Strafvollzugs¬
verwaltung geschaffen worden, die den Arbeitsgang ziemlich komplizierte,
aber im Interesse eines geregelten Einsatzes der Gefangenen nicht zu
vermeiden war.
Die Dienststelle in Oberviechtach kann man als die Hauptgeschäfts¬
stelle und die Polizeiinspektion der Strafgefangenenlager bezeichnen.
Hier liefen die Fäden der Organisation der Lager zusammen, und von hier
aus wurde der Strafvollzug geleitet. Sämtliche anderen Verwaltungs¬
maßnahmen der Arbeitsverwaltung, Wirtschaft, Annahme, Kasse usw.
wurden weiter von den drei bereits genannten Anstalten für die im
einzelnen zugeteilten Lager erledigt. Dies war notwendig, um rächt eine
völlig neue große Verwaltungsstelle für nur vorübergehende Zeit schaffen
zu müssen.
Dagegen ließ es sich nicht vermeiden, die Dienststelle des
„Vorstandes der Strafgefangenenlager“ einzurichten. Es war schwierig,
den Strafvollzug in den Lagern einheitlich straff durchzuführen, da die
Beamten aus allen Teilen des Reiches kamen. Hierbei stellte es sich
heraus, daß nicht bloß in den einzelnen ehemaligen deutschen Ländern,
sondern sogar in den einzelnen Anstalten der Strafvollzug ganz verschieden
aufgefaßt und durchgeführt wird. Jeder Beamte versuchte nun mit
den Methoden seiner Stammanstalt zu arbeiten; es ist offensichtlich,
daß die Ordnung im ganzen Lager gestört worden wäre, wenn jeder nach
seinem eigenen Gutdünken gehandelt hätte. Außerdem bedingten die
besonderen, schwierigen Verhältnisse in den Lagern und auf den Baustellen
eine einheitliche straffe Leitung. Die Vorstände von Bayreuth, Amberg
und Straubing waren aber durch die eigenen überfüllten Anstalten und die
Verwaltungsgeschäfte der Lager derartig mit Arbeit überhäuft, daß sie
sich einfach um die Lager nicht in dem Maße kümmern konnten, wie es
erforderlich war. Aus diesem Grunde wurde für die Lager eine selbst-
55
ständige Zentralstelle eingerichtet und Regierungsrat Dr. Kastenbauer-
Straubing mit der Leitung beauftragt, der sich nun voll und ganz den
Lagern widmen konnte. Um die oben geschilderten verschiedenartigen
Auffassungen vom Strafvollzug und Eigenmächtigkeiten auszuschalten,
gab er Vorschriften sowohl für die Beamten wie für die Gefangenen heraus,
^e ganz auf die Verhältnisse in den Lagern beim Straßenbau in der
Bayerischen Ostmark abgestellt und in denen alle nur möglichen Vorkomm¬
nisse berücksichtigt waren. Jeder Beamte und jeder Gefangene wußte
nunmehr genau, wie er sich in diesem oder jenem Fall zu verhalten habe.
Es konnten daher ohne weiteres Beamte und auch Gefangene jederzeit
aus Gründen des Arbeitseinsatzes von einem Lager in das andere verlegt
werden, ohne daß dies zu irgendwelchen Schwierigkeiten führte, da Vollzug
und sonstige Verfahren in jedem Lager gleich waren. Bei Dienstappellen
wurden die Beamten immer wieder über die Vorschriften belehrt. In der
praktischen Anwendung der Vorschriften wurden die Beamten in den
Lagern und auf den Baustellen ständig durch unregelmäßige Kontrollen
überwacht.
Bei der Verwaltung der Lager von den einzelnen Anstalten aus
(Bayreuth und Straubing je ein. Amberg vier Lager) machte sich besonders
die weite Entfernung von den Anstalten aus sehr unangenehm bemerkbar.
Die Zufuhr von Lebensmitteln und sonstigen Bedürfnissen war schwierig
und außerordentlich zeitraubend.
In der Arbeitsverwaltung wurden von den Lagergefangenen in der
Hauptsache nur die mit der Arbeitsbelohnung verbundenen Arbeiten
erledigt, da ja die Gefangenenarbeitskräfte Unternehmern zur Verfügung
gestellt wurden- Für jeden Gefangenen wurde ein Satz von 2,50 bis 3,— 0)M,
je Tag eingebracht, der von den einzelnen Untemehmerfirmen zu zahlen
war. Die Lager verursachten jedoch durch zahlreiche Instandsetzungen
an Lagerung, Bekleidung usw. eine erhebliche Mehrarbeit in den Eigen¬
betrieben der Anstalten, Hierbei mag erwähnt werden, daß auch von den
Anstalten selbst aus Gefangene zum Bau der Ostmarkstraße oder
Zufahrtstraßen eingesetzt wurden.
Die Kassen waren durch die Lager stark belastet, mußte doch die
Besoldung eines Teiles der Angestellten (Hilfsaufseher) durch die
Amtskassen erfolgen, außerdem die manchmal komplizierte Zahlung der
Beschäftigungstagegelder, der Reisekosten, Dienstbekleidungszuschüsse
usw. Da die Beamten in den Lagern verpflegt -wurden, mußte auch die
Verpflegung berechnet und berücksichtigt werden. Dazu kommt noch die
Mehrarbeit, die durch die Lager bedingten zahlreicheren Rechnungen der
Wirtschafts-, Arbeits- usw. -inspektionen entstanden. Nicht zu vergessen
ist die Verwaltung der eigenen Gelder und Wertsachen, der Invaliden- und
Angestelltenversicherung und die Wehrüberwachung, die s. Zt. gerade
eingerichtet wurde.
Auch in den Wirtschaftsinspektionen wurde der Dienst durch die
Lager sehr vergrößert. Die Speisepläne waren für die Lager aufzustellen,
die Errechnung bzw. die Nachprüfung der Speisezettel für Anstalt und
Lager war durch die infolge der Schwerarbeit genehmigten Zulagen und
Kostvermehrungen nicht ganz einfach. Schwierig war auch die Beschaffung
von Frischlebensnütteln für die abgelegenen Lager und von Ersatz¬
bekleidung, da der Verschleiß infolge der Straßenbauarbeiten
unverhältnismäßig groß war.
Die Geschäfte der Annahme liefen dank der eingespielten Organisation
stets glatt und reibungslos ab. Die Gefangenen wurden durch die fast
regelmäßig verkehrenden Lastkraftwagen, die Verpflegung. Wäsche usw.
56
in die Lager brachten, rechtzeitig in die Anstalten übergeführt, um von dort
aus entlassen zu werden. Um so schwieriger war jedoch eine plötzliche
Entlassung durchzuführen. Hier sind trotz Ferngesprächen und Fahrten
mit Personenkraftwagen Fristüberschreitungen auch beim besten Willen
nicht zu vermeiden gewesen.
Die Gefangenen wurden in sechs Lagern mit einem durchschnittlichen
Fassungsvermögen von 200 bis 300 Mann untergebracht. Es handelte sich
durchweg um ehemalige Freiarbeiterlager, wie sie beim Bau der Auto¬
bahnen, bei den Westbefestigungen, beim RAD. usw. verwendet werden-
Die Lager waren Eigentum der staatlichen Bauleitungen für die Ostmark¬
straße und nur behelfsmäßig für die Aufnahme von Gefangenen
eingerichtet. In der Hauptsache bestanden sie aus einer Wirtschafts-,
mehreren Gefangenen- sowie den notwendigen Beamtenbaracken und
Nebenräumen, die um einen großen offenen Platz herum angeordnet waren.
Zur Sicherung der Lager gegen Ausbrüche dienten Wachttürme.
In der Wirtschaftsbaracke waren neben der Küche, in der sowohl für
die Beamten als auch für die Gefangenen gekocht wurde, die Beamtenmesse,
das Dienstzimmer des Lagerführers, die Kammer und Vorratsräume unter¬
gebracht. In einem besonderen Revierzimmer wurden die ärztlichen
Untersuchungen abgehalten und Kranke gegebenenfalls abgesondert. Die
Küchen sind mit einem Herd und mehreren großen Kochkesseln ausgerüstet
gewesen. In einigen Lagern waren große elektrische Kühlschränke, in
anderen dagegen Keller vorhanden.
Die Gefangenenbaracken, die ja nur dem Aufenthalt der Gefangenen
in der Nacht und in der wenigen arbeitsfreien Zeit dienten, hatten eine
einfache aber praktische Einrichtung und waren von allem Überflüssigen
befreit; zwei- auch dreistöckige einfache Holzbetten mit Strohsäcken,
einfache glatte Tische und Schemel und kleine Wandspinde. Die Übersicht¬
lichkeit muß bei derartigen Massenunterkünften besonders gewahrt werden.
In der Nacht sind die Baracken innen mit blauem Licht beleuchtet worden.
Im Lager Prackenbach befand sich eine Einzelzellenbaracke, die es
ermöglichte, daß auch Homosexuelle im Lager in der Nacht isoliert werden
konnten.
Durch besondere Wasch- und Abortbaracken oder -räume war es
möglich, die Gefangenenbaracken reinlich und trocken zu halten und das
leidige Kübeln zu vermeiden. Duschen waren ebenfalls vorhanden, die
besonders im Sommer häufig benutzt wurden.
Die Beamten waren teils in besonderen Räumen, die im Kopf der
einzelnen Gefangenenbaracken lagen, und von denen aus die Säle überwacht
werden konnten, und teils in Beamtenbaracken untergebracht. Die
Beamtenbaracken wurden im Strafgefängnis Berlin-Tegel hergestellt und
haben sich im allgemeinen bewährt. Freilich ist die Unterbringung der
Beamten äußerst bescheiden gewesen, und es wäre nui; zu wünschen, daß
bei ähnlichen Unternehmungen Verbesserungen durchgeführt werden
könnten. Besonders machte sich Raummangel und das Fehlen ausreichender
Spinde bemerkbar.
An zwei sich gegenüberliegenden Ecken der Lager sind Wachttürme
errichtet gewesen, die Nachts und in den Zeiten am Tag, in denen sich
eine größere Anzahl von Gefangenen im Lager befand, mit einem Posten
besetzt waren. Dieser war mit Karabiner und einer Maschinenpistole 28
ausgerüstet. In der Nacht stand ihm noch ein Scheinwerfer zur Verfügung.
Um das ganze Lager herum war ein etwa 2,5 m hoher doppelter
Drahtzaun errichtet. Zwischen den Zäunen liefen Hunde frei herum, was
57
sich gut bewährte. Allerdings waren die meisten Hunde wenig geeignet,
bei Entwichenen auf die Spur gesetzt zu werden, was als ein großer
Mangel empfunden wurde.
Diese Sicherungsmaßnahmen genügten, um Ausbrüche aus dem
Lager zu verhindern.
Die Beleuchtung im Lagerhof ist durch zahlreiche elektrische Lampen
durchgeführt worden. Im Falle eines Versagens der Stromzuführung war
in den Baracken Petroleumnotbeleuchtung und im Lagerhof eine große
Petromaxlampe vorhanden. Eine Anzahl Handfeuerlöscher standen zur
Bekämpfung etwa ausbrechenden Feuers zur Verfügung. Zur Sicherheit
der Beamten diente in jedem Lager eine Alarmanlage mit mehreren an
den gefährlichsten Punkten angebrachten Auslösestellen. Die Lager waren
sämtlich an das Fernsprechnetz angeschlossen; eine besondere Unfallmelde¬
vorrichtung ermöglichte es, daß die Lager auch außerhalb der örtlich
bedingten Postdienstzeiten in Notfällen Verbindung mit den zuständigen
Stellen aufnehmen konnten.
Im Lager Bischofsgrün sind die Wege mit Holzrosten ausgestattet
gewesen, sodaß auch bei ungünstiger Witterung der Verkehr innerhalb
des Lagers nie durch schmutzigen Boden gehemmt wurde. Im gleichen
Lager befand sich eine besondere Arrestbaracke mit zwei Zellen, die sich
außerordentlich gut bewährt hat. In den anderen Lagern ist es nicht
anders möglich gewesen, als die Gefangenen, die abgesondert w'erden
sollten, in einem freien Raum (Baderaum, Magazin usw.) anzuschließen
und sie baldmöglichst in die nächste Anstalt zu bringen, in der die
Arreststrafe vollzogen werden konnte.
In jedem Lager sind im Verhältnis zur Zahl der Gefangenen Beamte
eingesetzt gewesen. Auf jeden Beamten kamen etwa acht Gefangene.
Jedem Lager stand ein Lagerführer (meistens Hauptwachtmeister)
vor, der für den ganzen Dienst im Lager und auf den Baustellen
verantwortlich war. Ihm zur Seite stand sein Stellvertreter, der gleich¬
zeitig die Kammer verwaltete. Ein Sanitätsbeamter und ein Küchenbeamter,
der für die Verpflegung der Beamten und der Gefangenen zu sorgen hatte,
nahmen noch am Innendienst teil. Alle anderen Beamten sind nur für
den Aufsichtsdienst im Lager und auf den Baustellen bestimmt gewesen.
Ein besonderer Kontrollbeamter, der mit einem Motorrad ausgerüstet
war, da die Baustellen bis zu 200 km auseinanderlagen, hatte besonders
auf die Sicherheit auf sämtlichen Baustellen zu achten. Er war Vorgesetzter
aller auf den Arbeitsstellen eingesetzten Beamten und kormte jederzeit
Anordnungen treffen, die die Sicherheit und Ordnung auf den Baustellen
betrafen. Dieses Verfahren hat sich sehr bewährt, da dadurch Erfahrungen,
die in dem einen Lager gemacht wurden, sehr schnell in allen anderen
Lagern ausgenutzt werden konnten, ohne daß dadurch ein großer
Verwaltungsapparat in Bewegung gesetzt werden mußte.
Die Beamten waren, wie bereits erwähnt, in den Lagern untergebracht
und wurden auch dort verpflegt. Für die notdürftige Unterkunft in den
Baracken zahlten sie pro Tag 0,10 0iiL wobei zu beachten ist, daß die Lager
nicht als feste Lager, sondern als Außenarbeitsstellen im Sinne der AV.
vom 2. März 1936 galten, sodaß die Beamten sämtlich in den Genuß der
Beschäftigungsvergütung kamen. Für die Verpflegung waren für jeden
Tag 1,— 0m, zu zahlen. Die Verpflegung wurde durch die Anstalt
beschafft und in den Lagern zubereitet.
Durch die z. T. sehr weite Entfernung der Lager von den nächsten
Dörfern und Städten waren die Beamten hauptsächlich angewiesen, ihre
Freizeit in den Lagern zu verbringen. In den Tagesräumen standen
58
Rundfunkgeräte und Zeitungen zur Verfügung. Eine kleine Bücherei, die
stets aus den Beständen der zuständigen Verwaltungsanstalt erneuert
wurde, ist gleichfalls überall vorhanden gewesen. Auch für die Aus¬
gestaltung der Lager selbst war bereits viel getan worden. Nette kleine
gärtnerische Anlagen mit Bänken entstanden und jeder suchte auch, sich
seine Unterkunft recht gemütlich zu machen, soweit das bei dem
beschränkten Platz möglich war. Gelegentlich wurden im Lager
selbst oder in den nächstgelegenen Ortschaften Kameradschaftsabende
veranstaltet. Hin und wieder hielt der Oberlehrer, der bei dem Vorstand
der Strafgefangenenlager in Oberviechtach beschäftigt war, für die
Beamten Vorträge, bei denen er fachliche oder allgemein wissenswerte
Gebiete den Beamten näherbrachte. In guter Erinnerung sind auch die
Weihnachtsfeiern, die mit Unterstützung der Untemehmerfirmen in den
tiefverschneiten, von der Welt abgeschlossenen Lagern durchgeführt
wurden.
Das Verhältnis der Beamten zur Bevölkerung ist ein durchaus
herzliches gewesen, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, daß sich eine
ganze Anzahl Beamte in den Orten der Lager verlobt und verheiratet haben.
In den Lagern sind etwa 1600 Gefangene untergebracht gewesen.
Wenn es auch z. T. nicht möglich war, sämtlichen Lagern entweder nur
vorbestrafte oder nur erstbestrafte Gefangene zuzuweisen, so wurde doch
streng darauf gehalten, daß wenigstens innerhalb der Lager die Erst- von
den Vorbestraften getrennt wurden durch Unterbringung in verschiedenen
Baracken und Beschäftigung auf verschiedenen Arbeitsstellen.
Neben der üblichen Gefangenenbekleidung waren die Gefangenen
noch mit einer wasserdichten Windjacke, Schaftstiefeln oder Schnürschuhen
mit Wickelgamaschen, Brotbeutel, Kochgeschirr und Feldflasche aus¬
gerüstet. Besonders praktisch hat es sich in den Waldgebieten erwiesen,
den fluchtverdächtigen Gefangenen, die leider auch von einigen Anstalten
zur Außenarbeit in die Lager verlegt wurden, weißes Drillichzeug
anzuziehen. Dadurch war es möglich, daß die Beamten ohne .weiteres
wußten, wer als fluchtverdächtig besonders scharf zu beaufsichtigen ist.
Hinzu kommt, daß bei einer Flucht der Gefangene sich viel besser im
Gelände abzeichnet, als in der blauen Kleidung.
Infolge der abgelegenen Lage der Lager, sowie durch die Verhältnisse
des Dienstbetriebes bedingt, sind Be.suche bei Gefangenen in den Lagern
nicht gestattet gewesen. Nur in ganz besonderen Ausnahmefällen ist
ausnahmsweise ein Besuch genehmigt worden. Wiederholt ist versucht
worden, diese wohl harte aber unbedingt notwendige Bestimmung zu
umgehen; so ist es z. B. vorgekommen, daß sich Angehörige der Gefangenen
in der Nähe der Lager als Sommergäste einquartiert haben und nun
versuchten, auf illegalem Wege mit dem Gefangenen Verbindung auf¬
zunehmen. Dies ist durch die Tatsache besonders begünstigt worden, daß
es sich nicht vermeiden ließ, daß die Gefangenen auf den Baustellen mit
freien Arbeitern in Berührung kamen; hierbei ist es natürlich leicht,
Nachrichten und Gegenstände zu übermitteln. Dank der Aufmerksamkeit
aller Beamten ist es jedoch gelungen, derartige Verständigungsversuche
von vornherein zu unterbinden.
Sehr umständlich ist der Briefverkehr gewesen. Die Briefe, die nur
einen viertel Bogen groß und auf denen die Vorschriften über den Brief¬
wechsel und die besonderen Bestimmungen der Lager genau aufgedruckt
waren, was sich als sehr vorteilhaft und arbeitssparend erwiesen hat,
wurden in den Lagern an Sonntagen geschrieben, kamen dann nach
59
Oberviechtach zur Zensur, wo sie gewöhnlich infolge der ungünstigen
Postverbindungen erst am Dienstag zeitigstens eintrafen. Nach Kontrolle
der Briefe durch den Oberlehrer, die infolge der großen Anzahl der Briefe
auch eine geraume Zeit in Anspruch nahm, wurden die Briefe an die
einzelnen Verw'altungsanstalten weitergesandt, wo nunmehr die Frei¬
machung der Briefe durch die Kasse II und die Absendung erfolgen konnte.
Es ließ sich bei diesem Verfahren nicht vermeiden, daß die am Sonntag
geschriebenen Briefe manchmal erst am Freitag zur Post gegeben wurden.
Die Kontrolle der eingehenden Briefe war insofern einfacher, als die Briefe
sämtlich bei der Dienststelle in Oberviechtach eingingen, hier möglichst
am gleichen Tage noch zensiert und an die Lager weitergegeben wurden.
Postzustellungen an Gefangene wurden ebenfalls in Oberviechtach
zugestellt. Es ist bei diesem komplizierten langwierigen Verfahren
erklärlich, daß wiederholt Fristüberschreitungen in Rechtssachen vor¬
gekommen sind. Doch ist es stets ohne Schwierigkeiten möglich gewesen,
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erwirken. Die für die
Gefangenen eingehenden Briefe wurden zu den in den Lagern befindlichen
Karteiakten genommen.
Diese Karteiakten haben sich in den Lagern sehr gut bewährt. Es
handelt sich um Umschlaghüllen (Aktendeckel) aus grauem Karton, auf
denen auf der Vorderseite die wichtigsten Angaben über den Gefangenen
enthalten sind (Personalien, Straftat, Vollstreckungsbehörde, Strafende,
Angehörige, Personalbeschreibung usw.). Im Inneren enthalten die Mappen
zwei eingeklebte größere Umschläge, in denen die Briefe des Gefangenen
und die sonstigen den Gefangenen betreffenden Schriftstücke sowie die
angehaltenen Briefe aufbewahrt wurden. Weiter ist Raum gelassen für
Anträge und Beschwerden sowie für Anzeigen und Bestrafungen. Durch
diese Akten ist es möglich gewesen, daß zahlreiche Aktenübersendungen
von den Verwaltungsanstalten, bei welchen in der Annahme die vorschrifts¬
mäßigen Personalakten venvahrt wurden, an die Lager oder an den
Vorstand nicht notwendig waren. Ferner brauchten die eingegangenen
Briefe nicht jedesmal zu den eigenen Sachen in die Anstalt gesandt werden.
Bei Entweichungen konnten die beteiligten Behörden auf Grund der
Angaben auf den Karteiakten über die wichtigsten Personalverhältnisse
des Gefangenen in Kenntnis gesetzt werden, ohne daß hierbei erst
kostspielige fernmündliche Rückfragen bei den Verwaltungsanstalten
notwendig waren.
Die ärztliche Versorgung erfolgte durch Vertragsärzte, die regelmäßig
die Lager besuchten. Die zahnärztliche Behandlung wurde ausnahmsweise
von Dentisten wahrgenommen, da in der Umgebung der Lager keine
Zahnärzte wohnhaft waren. Durch die schw'ere Arbeit in der frischen Luft
und die infolge der verschiedenen Zulagen besonders gute und reichliche
Verpflegung ist der Gesundheitszustand der Gefangenen derart gewesen,
daß er von der Musterungskommission im Mai 1939 als „ausgezeichnet“
bezeichnet worden ist.
Die seelsorgerische Betreuung bestand in vierzehntägigen Kirch¬
gängen, die im Lager abgehalten wurden, und denen sich Einzelseelsorge
anschloß. Der Kirchgang wurde in einer Gefangenenbaracke oder bei
schönem Wetter auch im Freien abgehalten.
Gelegentlich hielt der Oberlehrer den Gefangenen Vorträge, die
gewöhnlich die politische Lage zum Thema hatten; dies hat sich ganz
vorteilhaft erwiesen, da so am besten den oft wilden Gerüchten, die bei
den Gefangenen umlaufen, entgegen getreten werden konnte.
60
Entweichungen kamen zuletzt verhältnismäßig selten vor, da die
Gefangenen wußten, daß beim geringsten Fluchtversuch rücksichtslos von
der Schußwaffe Gebrauch gemacht wurde; ein Gefangener wurde auf der
Flucht erschossen- Aber auch die Aufsichtsbeamten hatten sich an die
schwierigen Verhältnisse auf den Baustellen gewöhnt und richteten sich
danach.
Während des Dienstes auf den Baustellen waren die Aufsichtsbeamten
mit Pistole und Karabiner ausgerüstet; bei schlechtem Wetter stand ihnen
Schutzkleidung zur Verfügung. Trotzdem litt die Dienstkleidung in einem
unverhältnismäßig großem Maße durch die besonderen Umstände bei dem
Dienst, insbesondere aber auch durch die ungünstigen Witterungsverhält¬
nisse, die in dieser Gegend herrschen. Leider hat nur ein Teil der
Aufsichtsbehörden hier mit Unterstützungen geholfen.
Beim Aufenthalt der Gefangenen innerhalb der Lager waren für jede
Baracke einer oder mehrere Beamte zum Barackendienst bestimmt. Diese
hatten die Aufgabe, für Ordnung in den Räumen zu sorgen, die Gefangenen
zum rechtzeitigen und ordnungsmäßigen Antreten zum Essenempfang, zum
Arbeitsbeginn, zu den regelmäßig stattfindenden Kleider- und Ausrüstungs¬
appellen usw. zu veranlassen, Revisionen vorzunehmen usw.
Die Wachttürme waren stets dann besetzt, wenn sich eine größere
Anzahl von Gefangenen im Lager befand; also an Sonntagen, in der Zeit
vom Ein- bis zum Aufschluß, während der Mittagszeit und bei schlechtem
Wetter, wenn rächt gearbeitet werden konnte.
Zur Bewachung des Lagertores ist ein besonderer Beamter bestimmt
gewesen, der dort während des ganzen Tagesdienstes postiert war. Der
Nachtdienst wurde von 18 bis 24 Uhr und von 0 bis 6 Uhr durchgeführt.
Zu jeder Schicht gehörten drei Beamte, von denen zwei auf den Türmen
standen, während der dritte im Lager Rundgänge ausführte. Diese drei
Beamten lösten sich gegenseitig ab.
Ein besonderer Bereitschaftsdienst war eingerichtet, um bei
besonderen Fällen sofort eingesetzt werden zu können. Diesem Bereit¬
schaftsdienst gehörte die Hälfte bis zwei Drittel aller zum Lager gehörigen
Beamten an, die sich bei diesem Dienst im Lager aufhalten mußten, aber
sich sonst ^liebig beschäftigen oder schlafen konnten. Nur die weder
zum Nachtdienst noch zum Bereitschaftsdienst eingeteilten Beamten
durften das Lager verlassen. Um 24 Uhr war Zapfenstreich für alle die
Beamten, die am folgenden Tage Dienst hatten, denn nur so war die volle
Aufmerksamkeit und Arbeitskraft während des schweren Dienstes am
nächsten Tage garantiert.
Die Arbeitszeit der Gefangenen und damit natürlich auch der
Aufsichtsbeamten betrug in der Regel zehn Stunden. Es ist jedoch vielfach
notwendig gewesen, durch Überstunden und Sonntagsarbeit den Fortgang
des Straßenbaus zu beschleunigen. Beschäftigt wurden die Gefangenen
in Gruppen von etwa zehn Mann aufwärts. Die fachliche, technische Leitung
der Arbeiten hatten Arbeiter und Angestellte der Unternehmerfirmen
bzw. der Straßenbauleitungen, während der Justizverwaltung nur die
Bewachung oblag.
In der Hauptsache wurden die Gefangenen zu Erdbewegungsarbeiten
eingesetzt, aber auch in Steinbrüchen, beim Packsetzen, Rollieren,
Schlämmen, Rodungen und beim Brückenbau verwendet. Als Arbeitsgeräte
dienten im allgemeinen nur Säge, Axt, Spaten, Schaufel, Picke und Hand¬
karren. Mit Spezialarbeiten wie z. B. dem Teeren der Straße, dem
61
Bedienen der Preßluftbohrer usw. wurden sie nicht beschäftigt. In diesem
Zusammenhang mag noch erwähnt werden, daß sich die alte Tatsache
erneut als richtig .erwies, daß die Zuchthausgefangenen im allgemeinen
bessere Leistungen vollbringen als die Gefängnisgefangenen.
Die Straßenbauarbeiten in der Bayerischen Ostmark eigneten sich
ganz besonders für den Strafvollzug. Die schwere körperliche Arbeit
in gesündester, frischer Luft stärkten die Körper der Gefangenen ganz
ausgezeichnet. Durch diese Tätigkeit wurden außerdem die Gefangenen
zu Härte, zur Leistung schwerer Arbeit erzogen, so daß sie nach der
Entlassung gesund und krpftig in den normalen Arbeitsprozeß eingegliedert
werden können.
Zu dem Strafvollzug in den Lagern ist noch folgendes zu bemerken:
Der Strafvollzug in festen Anstalten, in denen der Gefangene durch
die vielen Mauern und Gitter beengt ist, macht ihn meistens nicht
besinnlich, sondern stumpf und gleichgültig. Wenn er dagegen, wie in den
Lagern, stets die schöne, freie Natur sieht, dann wird er nicht in Gleich¬
gültigkeit verfallen, er wird sich auch nicht geistig und seelisch von der
Außenwelt abschließen. Der Drang in die Freiheit wird nicht, wie dies
in festen Anstalten bei Gefangenen mit wenig Energie oft beobachtet
werden kann, für die Dauer der Strafzeit begraben, sondern wird stets
wachgehalten. Da aber der Freiheitsdrang nicht verwirklicht werden kann,
muß die Freiheitsentziehung als ein empfindliches Übel anzusprechen sein.
Der Gefangene mußte sich in den Lagern genau so wie in den
Anstalten in die Zucht und Ordnung fügen. Da er aber in den Lagern bei
allen seinen Tätigkeiten überwacht wird, muß er sich der Ordnung noch
mehr unterwerfen, als dies in festen Anstalten notwendig ist, da er in den
Zellen nicht unter ständiger Aufsicht steht.
Durch die Arbeit in Kolonnen wird der Gemeinschaftsgedanke
geweckt und ständig wachgehalten, denn die Arbeit des einen baut sich
auf der Arbeit des anderen auf. Es ist den Gefangenen immer wieder
gesagt worden, daß sie an einer Straße bauen, die ein bisher unbekanntes
Gebiet des Reiches erschließt und mit dazu beitragen wird, dieses bisherige
Notstandsgebiet zu beseitigen. Es wurde ihnen gesagt, daß sie Arbeits¬
kräfte ersetzen, die im Interesse von Volk und Vaterland an wichtigeren
Stellen eingesetzt werden mußten. Der Gedanke an die Gemeinschaft des
deutschen Volkes kann in keiner Art des Strafvollzuges besser gepflegt
werden, als im Lagerstrafvollzug. Diese Art des Strafvollzuges wird
hinsichtlich Abschreckung und Erziehung bestimmt Erfolge von bleibendem
Werte zeitigen. Allerdings muß eine Voraussetzung erfüllt sein: der
Gefangene muß eine der Länge seiner Strafdauer entsprechende Zeit in
einer festen Anstalt verwahrt gewesen sein. In der festen Anstalt muß
er den Strafvollzug in seiner ganzen Härte kennengelernt haben, so daß
er seine Verlegung in ein Lager als Vergünstigung empfindet. In der
festen Anstalt muß er fühlen, daß er wegen seines gemeinschaftschädlichen
Verhaltens aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen ist. Im Lagerstraf¬
vollzug soll er zur Rückkehr in die Volksgemeinschaft weiter erzogen
werden, indem er, körperlich und geistig frisch gehalten, lernt, sich durch
seiner Hände Arbeit straffrei durchs Leben zu bringen und die Arbeit
nicht als Übel, sondern als Geschenk zu werten.
Der Vollzug in den Strafgefangenenlagem Bayerische Ostmark ist
nach diesen Gesichtspunkten ausgerichtet gewesen, und es ist zu hoffen,
daß der Einsatz der Gefangenen dort nicht nur eine Straße, sondern auch
andere Werte geschaffen hat.
62
Einiges vom Aufbau des Strafvollzugs im Wartheland
von Regierungsrat Dr. W ü 11 n e r , zur Zeit Schieratz.
Durch den Erlaß des Führers vom 8. Oktober 1939 wurde der
Reichsgau Wartheland mit der Gauhauptstadt Posen gebildet. Ihm
entspricht — räumlich gesehen — auch der heutige Oberlandesgerichts¬
bezirk Posen.
Schon am 10. September 1939 — also unmittelbar mit der kämpfenden
Truppe — nahm die Reichsjustizverwaltung in den befreiten Gebieten
ihre Tätigkeit auf. Es wurden Sondergerichte gebildet, um die von den
Polen an Volksdeutschen begangenen unmenschlichen und in der Geschichte
eines Volkes einzig dastehenden Grausamkeiten schnellstens gerecht und
streng zu sühnen. Die Sondergerichte in Brombergi), Litzmannstadt,
Kalisch und Hohensalza waren somit die ersten Träger der zivilen Rechts¬
pflege im heutigen Wartheland, denen bald auch die übrigen Zweige der
Reichsjustizverwaltung folgten. Naturgemäß kam dabei von Anfang an
der Strafrechtspflege und insbesondere auch dem Strafvollzug eine
besondere Bedeutung zu.
Inzwischen ist über ein Jahr vergangen, Monate unaufhaltsamer,
harter, aber auch erfolgreicher Aufbauarbeit, bei der auch der Straf¬
vollzugsverwaltung einmalige und einzigartige Aufgaben gestellt waren.
I.
Eine kurze Rückschau muß davon ausgehen, daß die Voraussetzungen,
unter denen sich die Aufbauarbeit im Raume der früheren preußischen
Provinz Posen, dem westlichen Teil und in dem des früheren „Kongre߬
polen“, dem östlichen Teil des heutigen Warthelandes vollzog, wesentlich
verschieden waren: Dort konnten Anlagen und Gebäude der früheren
preußischen Strafanstaltsverwaltung — wenn sie auch unter der
20jährigen Polenwirtschaft verkommen waren und unter den Kriegswirren
gelitten hatten — übernommen werden; hier waren aber nur „Anstalten“
aus der zaristischen Zeit, £^n denen die Polen nichts getan oder nur
unzulängliche Emeuerungsversuche unternommen hatten; dort Vollzugs¬
anstalten nach einem bestimmten System planvoll errichtet, hier aber
Anlagen und Gebäude systemlos, besser planlos; dort auch außerhalb
der Anstalten Kultur, hier aber — von den geschlossenen deutschen
Siedlungen in diesem Raum abgesehen — nur Unkultur. Dort war ein
großer Teil der Bevölkerung noch durch preußische Schulen und Ordnung
gegangen, hier aber lebt die große Masse der Analphabeten und geistig
Stumpfen.
Aber, ob im Westen oder Osten des Warthelandes: Die der Straf-
anstaltsverwaltung gestellten Aufgaben waren die gleichen:
Aufbauarbeit, ausgerichtet nach der Gesamtpolitik des Reichsstatt¬
halters und in dem dem gesamten Reichsgau eigenen Arbeitstempo,
Zusammenarbeit, gradlinig und kameradschaftlich mit allen poli¬
tischen und staatlichen Stellen.
Daraus ergab sich für den einzelnen Beamten:
Scharfe Trennung von der polnischen Bevölkerung. Neben der
Berufsarbeit Mitarbeit am Gesamtaufbau und aktiver Einsatz in
allen Zweigen des sonstigen politischen und staatlichen Lebens,
insbesondere in der Volkstumsarbeit.
1) Gehört heute zura Relchsgau Danzig-Weatpreußen.
63
Und ferner: Die besonderen Arbeitsbedingungen erforderten von
Anfang an von jedem Beamten, daß er allen Situationen gewachsen
war; sie verlangten Entscheidungen, die in sehr vielen Fällen nicht
durch Bestimmungen, Vorschriften oder Anweisungen der Auf¬
sichtsbehörden oder des unmittelbaren Vorgesetzten „gedeckt“ werden
konnten, die aber aus eigener Verantwortung heraus schnellstens
gefällt werden mußten. Hier galt nur zu oft und allein — vor allem
in den ersten Monaten des Aufbaus — die freie Willensentscheidung
des aktiven kämpferischen Beamten, der sich nur von seinem Ver¬
antwortungsbewußtsein der Gesamtheit gegenüber, von seinen inner¬
sten Pflichten als Repräsentant des deutschen Volkes und als Ge¬
folgsmann des Führers leiten ließ.
Daß daneben auch die äußeren Lebensbedingungen, vor allem auf
dem Lande und in den kleinen Städten Entsagung und Opfer von jedem
forderten, sei nur beiläufig bemerkt.
Auch mußte die Aufbauarbeit in einem Raum erfolgen, über den nicht
nur unmittelbar vorher der Krieg gegangen war, sondern in dem auch
Umsiedlungen und Rücksiedlungen größten Ausmaßes in kürzester Zeit
durchzuführen waren. Hierbei tauchten für jeden Zweig der Reichs¬
verwaltung ständig neue Probleme auf, die sofort zu lösen waren.
Schließlich erschwerten auch der außerordentlich strenge Winter
und die wesentlich dadurch bedingten Transport- und Rohstoffschwierig¬
keiten die Aufbauarbeit außerordentlich.
Aber bei dieser Arbeit waren alle Beamten getragen von dem
beglückenden Gefühl, in großer Zeit an dem Aufbau des deutschen Ostens
mitzuarbeiten, von der stolzen inneren Befriedigung, die jeden mit dem
sichtbaren Fortschreiten des Aufbaus immer stärker erfüllte und ihm
die Kraft und Freude zur Überwindung auch der größten Schwierig¬
keiten gab.
II.
Der Zustand der früheren polnischen Vollzugsanstalten^) entsprach
in jeder Beziehung der allgemeinen „polnischen Wirtschaft“.
Da finden wir von den Polen benutzte Gefängnisgebäude, die für
deutsche Verhältnisse einfach undenkbar wären. Lediglich das Gefängnis
in Kalisch — eine mit Türmen versehene viereckige Anlage mit zwei
durch einen Verbindungsgang untereinander verbundenen Pavillons—, und
das Gefängnis in Lentschütz — ein früheres Kloster — aus russischer Zeit
stammend — können den Anspruch erheben, als „Gefängnisse“ gewertet
zu werden. Die übrigen Vollzugsanstalten — von den kleinen
„Gerichtsgefängnissen“ ganz zu schweigen — sind „polnisch“. In der
Großstadt Litzmannstadt mit mehr als 700 000 Einwohnern und mit einem
bevölkerungsreichen Industriegebiet in der nächsten Umgebung fanden
sich vier kleine Gefängnisse, von denen ein neuerer Bau als Militärarrest¬
anstalt benutzt worden war. Die übrigen drei Gefängnisse sind mehrstöckige
Mietskasernen, die sich von den Nachbarhäusern nur durch vergitterte
Fenster unterscheiden. Sie stehen am Bürgersteig in der gleichen Flucht¬
linie mit den übrigen Wohnhäusern und haben hinter dem Vorderhaus
einen von mehrstöckigen Hofgebäuden völlig eingeschlossenen kleinen Hof.
Die hygienischen Verhältnisse in diesen Gefängnissen waren unvorstellbar.
Z. B. befand sich in einem Gefängnis die „Anstaltsbäckerei“ in einem
2) Im Folgenden Ibt nur von den Verhältnissen im östlichen Wartheland die Bede.
64
tiefen Kellerloch, das man im Altreich vielleicht noch als Abstellraum
benutzt haben würde. Die Anstalten haben durchschnittlich ein Fassungs¬
vermögen von einigen 100 Menschen und restlos Gemeinschaftshaft
(Untersuchungsgefängnis!). Bei ihnen hilft auch der beste „Aufbau“
auf die Dauer nichts, hier kann nur ein völliger Neubau einen Strafvollzug
oder eine Untersuchungshaft nach deutschen Grundsätzen möglich machen.
Besonders stolz war die frühere polnische Justizverwaltung auf die
heute größte Anstalt des Warthelandes, auf das „Gefängnis Schieratz“
an der Warthe.
Hier hatte die russische Regierung vor mehr als 100 Jahren von
einem Deutschen (!) ein größeres Grundstück erworben, auf dem
zwei Webereien mit einigen kleinen Nebengebäuden standen, die zu
Gefängnissen umgebaut wurden. Sie sind heute noch vorhanden. Hinzu¬
gekommen ist in polnischer Zeit neben einem Kirchenbau ein neues
Hafthaus mit einem Fassungsvermögen von 436 Mann. Dieses Hafthaus
war der Stolz der Polen. Ein äußerlich ansprechender Bau mit weit
überwiegender Gemeinschaftshaft, der in seiner Anlage durchaus den
Zwecken des deutschen Strafvollzugs entsprechen kann.®) Durch die
Selbstbefreiungsaktionen der polnischen Gefangenen, von denen noch die
Rede sein wird, war er allerdings im Innern fast restlos zerstört. Das
außerdem noch vorhandene — durchaus neuzeitlich angelegte — Badehaus
hat bezeichnendenveise die preußische Justizverwaltung während des
Weltkrieges errichtet. Abgesehen von einer Teilemeuerung der Außen¬
mauer und dem Bau eines mittleren Arbeitsgebäudes ist in 100 Jahren an
den mehr als einem Dutzend Gebäuden so gut wie nichts geändert und seit
Jahrzehnten auch so gut wie nichts verbessert oder instandgesetzt worden.
In Schieratz wurde seit langen Jahren ständig ein großer Teil der
„politischen Gefangenen“ des ehemaligen polnischen Staates zusammen mit
einigen 100 Schwerverbrechern verwahrt. Hier nahmen auch schon vor dem
Weltkrieg vorübergehend Pilsudski und sein wirklicher Freund, der Oberst
und spätere Ministerpräsident Slavek, Zwangsaufenthalt.^)
Der Ruf, den Schieratz bei den Volksdeutschen hatte, war denkbar
schlecht. Schieratz bedeutete Leiden und Mißhandlungen und vor allem
den Ausgangspunkt von Verschleppungszügen in den Osten des ehemaligen
polnischen Staates. In den Sommermonaten des Jahres 1939 saßen hier
durchschnittlich 250 Deutsche unter der fadenscheinigen Begründung ein,
Waffen besessen oder „Spionage“ betrieben zu haben. Einige von ihnen
ließen schon hier, infolge der erlittenen Mißhandlungen, ihr Leben für
Großdeutschland. Bei der Behandlung der „Hitlerroczys“ spielte ein
sogenannter Strafkeller eine besondere Rolle.S)
Der letzte Leidenszug nahm am 31. August 1939 von hier seinen
Ausgang. 102 Deutsche, darunter 6 Frauen, mußten damals den Todeszug
nach Kielce und Brest-Litowsk antreten. Von ihnen sind später — nach
3) UebriKens ist bezeichnend, daß die ReiHest>eBen der polnischen Studienkommission,
die zwei Jahre lang Vollzugsanstalten in Italien, Frankreich. England und Amerika
besichtigte, sich auf rund 350 000 Zloty beliefen. Erst dann ^ng man an den
Neubau, dessen Baukosten rund 450 000 Zloty betrugen ; die Gesamtkosten waren demnach
800 000 Zloty. Als der Bau fertiggestellt war, hatte man die Wasserleitung vergessen.
4) An den erfolgreichen Ausbruch des Letzteren im Jahre 1906 erinnerte eine an
der Ausbruchsstelle der Anstaltsmauer angebrachte Gedächtnistafel.
5) In diesen Keller, der ohne Licht und LuftzufUhrung mitten unter dem im
übrigen nicht unterkellerten Hafthaus I lag, wurden nur Volksdeutsche Gefangene straf¬
weise eingesperrt und mißhandelt. Elf steile Stufen führten von außen in einen 10,5 cbm
großen Vorraum, durch den offen Abwasser geleitet wurden. Daneben befand sich der
etwa 18 cbm große Strafraum, der bei Unterbringung von Gefangenen bis zu hi m unter
Wasser gesetzt wurde.
65
den Feststellungen der „Zentrale für die Gräber ermordeter Volks¬
deutscher“ — mehr als 60 in Anstaltskleidung ermordet aufgefunden
worden.
Schon einige Wochen vor Kriegsausbruch hatte die polnische Anstalts¬
verwaltung „ahnungsvoll“ damit begonnen, sämtliche Vorräte, Rohstoffe
und Fertigwaren, Waffen usw. in Richtung Warschau zu verbringen.
Daß der „Organisator“ und „Verteiler“ ein Lodzer Jude war, sei am
Rande vermerkt. Von den damals einsitzenden rund 1600 Gefangenen
wurde etwa die Hälfte auf Grund der polnischen Kriegsamnestie entlassen.
Die übrigen — in der Hauptsache Schwer\'erbrecher — blieben in den
verschlossenen Zellen zurück, während die Beamtenschaft mit Beginn des
ersten Kriegstages überstürzt nach Warschau flüchtete.
Die zurückgebliebenen Gefangenen gingen bald daran, sich selbst zu
befreien. Dabei wurden sämtliche Zellentüren und Zellenschlösser
zerschlagen, Fenstergitter ausgebrochen usw., das Zelleninventar, die
wenigen vorhandenen Maschinen und Webstühle unbrauchbar gemacht,
die Kammer ausgeplündert und sämtliche Personal- und Verwaltungsakten
auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Was nicht niet- und nagelfest
war, wurde innerhalb von drei Tagen fortgeschleppt-
Schon am 6. September 1939 besetzten deutsche Truppen Schieratz.
Die Anstalt füllte sich wieder, diesmal aber mit gefangenen polnischen
Offizieren und Soldaten.
III.
Aber bereits am 4. November 1939 übernahm die Reichsjustiz¬
verwaltung die Anlage, um sie den Zwecken des deutschen Strafvollzugs
nutzbar zu machen.
Die erste Besichtigung ergab, daß fast alle Gebäude stark beschädigt,
bei den meisten die gesamte Deckenlage durchfault und ein Betreten mit
Lebensgefahr verbunden war. In der gesamten Anstalt gab es keine
verschließbare Tür. Von Lager- und Bekleidungsgegenständen war so gut
wie nichts mehr vorhanden. Hier und da stand noch ein dreibeiniger
Schemel oder der Rest einer Bettstelle. Dafür befanden sich aber auf
den Böden der Hafthäuser — buchstäblich meterhoch — Lumpen,
zerbrochenes Geschirr, alte Medizinflaschen usw. im schönsten Durch¬
einander. Daß es dabei von Ungeziefer nur so wimmelte, war selbstver¬
ständlich. Daß seit Jahrzehnten an den Dächern und Regenwasserleitungen
nichts getan war, konnte ebenfalls festgestellt werden. Zum Teil hatten
die Gebäude überhaupt keine Regenwasserleitungen und Dachrinnen.
Überhaupt spielten nasse Wände, durchfaulte Mauern und regendurch¬
lässige Bedachungen eine ebenso große Rolle wie morsche Balken und
Böden. Ein Teil der Außenmauer hielt sich nur mit Mühe im schiefen
Winkel eben aufrecht. Das Außentor bestand aus Holzbrettern, die aus
den Fugen zu fallen drohten. Das „Pfortengebäude“ war ein kleiner
durchfaulter Lehmbau. „Polnische Wirtschaft“ ist für den zivilisierten
Europäer ein Begriff, der an sich keiner Erläuterung mehr bedarf. Daß
aber auch die Einrichtungen des polnischen Staates die gleiche Wirtschaft
kannten, dafür ist Schieratz ein gutes Beispiel. Man hätte von diesem
Musterbetrieb der polnischen Justizvei^valtung mindestens erwarten
können, daß die hygienischen Verhältnisse erträglich gewesen wären.
Dazu hätte schon die enge Zusammenballung von mehr als 1500 Menschen
Veranlassung geben müssen. Statt dessen: mangelhafte und unzureichende
5
66
Entwässerung (zum großen Teil fehlte sie überhaupt), offene Abwässer
und Fäkaliengruben, verschmutzte und eingefallene Wasserleitungen, ein
Brunnenwasser mit mehr als 2000 Krankheitskeimen und Speisekessel,
die man im Altreich vielleicht noch zur Viehfütterung verwendet haben
würde. Für die große Zahl der an offener Tuberkulose leidenden
Gefangenen waren einige Zellen als „Krankenstuben“ eingerichtet.
Ärztliche Instrumente waren nennenswert nicht vorhanden. Von einem
Lazarett wurden nicht einmal Reste gefunden.
So kann zusammenfassend nur gesagt werden, daß das ehemalige
polnische Gefängnis Schieratz eine verkommene, in jeder Hinsicht
verwahrloste Hinterlassenschaft der einstigen polnischen Justizverwaltung
darstellte, die in jeder Beziehung der allgemeinen „polnischen Wirtschaft“
entsprach.
IV.
Als am 4. November 1939 zum erstenmal die Reichsdienstflagge
— noch an einem polnischen rot-weißen Fahnenstock — hochgezogen
wurde, waren sich die wenigen anwesenden Vollzugsbeamten der Bedeutung
des Augenblicks wohl bewußt.
Aber erst, nachdem die gesamte Anstalt vergast und aus den Höfen
über 80 Tonnen Kot abgefahren waren, konnte an den eigentlichen Aufbau
herangegangen werden. Die ungünstige Verkehrslage, der schwere Winter,
die Schwierigkeiten der Rohstoffbeschaffung, der geringe Personalbestand
brachten oft schier unüberwindliche Schwierigkeiten mit sich. Mußten
doch von Anfang an neben den Aufbauarbeiten auch Aufgaben des eigent¬
lichen Strafvollzugs erfüllt werden. Hierfür nur ein Beispiel: Mit
vier Beamten waren anfangs zeitweise über 1700 Gefangene zu verpflegen
und zu verwahren. Dabei war keine einzige Zelle verschließbar, das
Hafthaustor mußte mit einem Balken von außen zugestellt werden. An
Eßgeschirren waren nur 53 alte Militärkochgeschirre, kein einziger Löffel
vorhanden. Natürlich fehlte auch das gesamte sonstige Zelleninventar
und für die Heranschaffung der Lebensmittel standen keine Transport¬
mittel zur Verfügung.
Aber trotz allem haben die Aufbauarbeiten nicht einen Tag eine
Unterbrechung erfahren.
An zahlreichen Stellen des umfangreichen Geländes der An.stalt
setzten die Arbeiten gleichzeitig ein. Gebäude wurden instand gesetzt,
abgebrochen und neu errichtet. Die Anstaltsweberei mit 61 Handstühlen
konnte schon nach wenigen Wochen in Betrieb genommen werden.®)
Die polnische Tünche ist heute längst verschwunden. Neues ist
bereits entstanden und in Benutzung genommen. So trägt auch die Straf¬
anstalt Schieratz — ebenso wie die übrigen Vollzugsanstalten des
Warthelandes — heute bereits ein deutsches Gesicht. Allerdings wird es
noch Jahre dauern, bis die Aufbauarbeiten als beendet angesehen werden
können. Aber die Grundlagen für eine deutsche Vollzugsverwaltung und
für die Durchführung eines deutschen Strafvollzugs sind bereits heute
— nach einem Jahr Aufbauarbeit — geschaffen.
Daß der Strafvollzug im Wartheland gegenüber dem im Altreich
noch auf Jahre sein eigenes, durch die Volkstumsverhältnisse bestimmtes
6) Eino bezeichnende Festatellunp: für die Arbeitsverwaltuntr, bzw. für die Finanz¬
lage des früheren polnischen Staates; Die Anstaltsweberei hatte allein, wie sich aus den
nachträglichen Forderungen der Gläubiger ergibt, rund 150 000 Zloty Schulden. Die letzte
,.Teilzahlung** von 1500 Zloty war im März 1938 erfolgt.
67
Gesicht tragen wird, ist sicher. Wieweit dabei die neue Strafvollzugs¬
ordnung vom 22. Juli 1940 auch im Wartheland praktisch angewendet
werden kann, muß erst die Erfahrung lehren.
, Der Reichsgau Wartheland soll in völkischer Beziehung ein Bollwerk
des Reiches werden. Hierzu hat auch der Strafvollzug einen wichtigen
Beitrag zu leisten. Es wäre falsch, die heutige Aufbauarbeit mit der
Ostraumpolitik bzw. mit den Ost siedlungsversuchen früherer deutscher
Regierungen zu vergleichen. Heute wird eine ganz andere, aber auch
gründlichere Siedlungsarbeit geleistet. Altreichsverhältnisse, auch solche
der Strafvollzugsverwaltung, können in keiner Weise mit den im Warthe¬
land zu leistenden verglichen werden.
Daß die Gesamtaufgabe, das Wartheland zum deutschesten Reichsgau
zu machen, gelingen wird, dazu wird auch die Arbeit der Strafvollzugs¬
behörde ihren Teil beitragen müssen und auch beitragen.
Aus der Gefängnisverwaltung
„Der Leuchtturm”
Die Reichs-Gefangenenzeitung
von Oberlehrer A. Knickenberg, Berlin-Plötzensee.
Als in den Jahren 1932 und 1933, kurz nach "Übersiedlung des
„Leuchtturm“betriebes von Wohlau nach Berlin-Plötzensee, in den ver¬
schiedensten Tageszeitungen Berichte über die Gefangenenzeitung „Der
Leuchtturm“ erschienen, war es den Leserkreisen nicht bekannt, daß
„Der Leuchtturm“ nicht nur vor gn'oßen Zukunftsaufgaben stand, sondern
sich auch mitten in einer inneren Umgestaltung befand, die erforderlich
war, um die größeren Ansprüche, die an das Blatt gestellt wurden, auch
auf allen Gebieten erfüllen zu können. Inzwischen ist diese Entwicklung
bis zu einem gewissen Grade abgeschlossen, und es ist außerdem „Der
Leuchtturm“, damals noch Preußische Gefangenenzeitung, zur Reichs-
Gefangenenzeitung geworden. Mit dieser umfassenden Erweiterung des
Wirkungsbereiches der Zeitung sind schon nach verhältnismäßig kurzer
Zeit mühevolle Jahre des Aufbaus mit Erfolg gekrönt worden. Nachdem
„Der Leuchtturm“ nun fast ein Jahrzehnt seinen Sitz in Berlin-Plötzensee
hat, erscheint es wohl angebracht, noch einmal am Abschluß dieser
Zeitspanne rückblickend seinen Werdegang zu betrachten xmd anschließend
einen Einblick zu geben in seine, den höheren Anforderungen angepaßte,
innere Gestaltung.
Im Jahre 1924 fand zum ersten Male der Gedanke, für die Insassen
der Strafanstalten ein eigenes Organ der Erziehungsfürsorge zu
schaffen, seine Verwirklichung. Es war die Strafanstalt Görlitz, ^e am
28. September 1924 eine Zeitung herausbrachte, welche als „Schlesische
Anstaltszeitung“ zunächst in den Gebieten Schlesiens Verbreitung fand.
Ein Vierteljahr später, am 21. Dezember 1924, erscheint die Nummer 2
des Blattes, die als Hinweis auf den nun schon erweiterten Geltungsbereich
den Titel „Zeitung für die Gefangenenanstalten in Preußen“ trug. Die
Entwickelung ging in der Folgezeit in raschem Zuge weiter. Schon die
Nummer 6 der Zeitschrift vom 22. Februar 1925 führt den Namen „Der
Leuchtturm“, die Bezeichnung, die das Blatt bis auf den heutigen Tag
8 »
68
beibehalten hat. Infolge der Auflösung der Strafanstalt Görlitz erscheint
„Der Leuchtturm“ vom 24. Oktober 1926 ab in Wohlau und anschließend
erfolgt Ausgang des Jahres 1931 aus praktischen Erwägungen die Ver-
legning des „Leuchtturm“betriebes nach Berlin-Plötzensee. An seinem
jetzigen Verlagsort Plötzensee erlebte „Der Leuchtturm“ in der nun
folgenden Zeit einen glanzvollen Aufstieg. Aufbauend auf dem, was seit
1924, dem Gründungsjahr des Blattes, in unermüdlichem Schaffen bereits
Gestalt gefunden hatte, begann mit dem Jahre 1932 die vielseitige Aus¬
gestaltung der Zeitung unter dem Gesichtspunkte, in ihr ein Organ
erstehen zu lassen, das einmal über die bis dahin noch bestehenden
Grenzen der Verbreitung hinaus höheren Anforderungen in jeder Weise
gerecht werden könnte. Drei Jahre später (1935) führte diese mühevolle
Auf- und Ausbauarbeit bereits zum erstrebten Erfolg, denn schon in
diesem Jahre fiel die Entscheidung, daß die „Preußi.sche Gefangenen¬
zeitung“ nunmehr die umfassende Aufgabe als Rcichs-Gefangenenzeitung
zu erfüllen habe. Vom Jahre 1935 ab gibt es daher im Reiche nur noch
eine Gefangenenzeitung — „Der Leuchtturm“. Die Schriftwaltung in
Berlin-Plötzensee sah sich nicht unvorbereitet vor die neuen Aufgaben
gestellt. Zug um Zug wurden nicht nur fast alle Anstalten des Reiches
erfaßt, sondern es gelang auch, dank der vorausschauend getroffenen
Maßnahmen, in den neu hinzustoßenden Reichsgebieten schnellstens und
reibungslos Fuß zu fassen. Einen schlagenden Beweis dafür bietet die
beständig steigende Auflageziffer der Jahre 1935 bis 1939. Hatte die
Zeitung bei Übernahme nach Plötzensee im Jahre 1932 etwa 12 000
Bezieher, so stieg diese Zahl bis Ausgang des Jahres 1935 auf die statt¬
liche Ziffer von rund 30 000 an, und darüber hinaus wurde bis April 1939
die Auflageziffer auf 41000 erhöht. Wenn nun auch, vielfach
aus verwaltungstechnischen Gründen, die Auflagekur\'^e regelmäßigen
Schwankungen unterv-^orfen ist, so steht doch nach den bisher gemachten
Erfahrungen fest, daß die Ausweitung der Bezieherziffer noch nicht
abgeschlossen ist, so daß auch für die nächste Zukunft Jahr für Jahr mit
einer ständigen Steigerung der Bezugszahl zu rechnen bleibt. Diese Zahlen
allein sind wohl der beste Beweis dafür, daß es seit der Geburtsstunde
der Zeitung in Görlitz zäher Arbeit und unermüdlichem Einsatz gelungen
ist, dem „Leuchtturm“ einen Geltungsbereich zu verschaffen, der der hohen
Zweckbestimmung dieses Blattes auch in umfassender Weise entspricht.
Selbstverständlich mußte mit der Enveiterung des Aufgaben¬
bereiches der Zeitung in harmonischem Gleichklang auch ihr innerer Auf-
und Ausbau stehen. Jede Möglichkeit zu einer zweckentsprechenden
Ausgestaltung des Blattes ist daher auch sinnvoll ausgenutzt worden.
Wenn sich bei dieser überaus schwierigen Arbeit vielfach auch die Raum¬
frage als fast unüberwindliches Hindernis immer wieder in den Weg
stellte, so ist es trotzdem wohl in bestmöglicher Weise gelungen, der
Zeitung das Gesicht zu geben, das ihrer Bedeutung als Reichs-Gefangenen¬
zeitung entspricht. Selbst die neuerdings getroffene Maßnahme, den
Umfang des Blattes dem Gebote der Zeit entsprechend auf vier Seiten zu
beschränken, hat es nicht vermocht, die vielseitige Berichterstattung
wesentlich zu beeinflussen, denn es ist trotz mancherlei Schwierigkeiten
gelungen, durch geballte, konzentrierte Berichterstattung das wettzu¬
machen, was durch die erwähnte, vorübergehende Maßnahme an Raum
zur breiten Nachrichtenübermittlung und Behandlung zweckentsprechender
Themen verloren ging. Dem aufmerksamen Leser wird es gerade unter
diesen Umständen nicht entgangen sein, daß die Schriftwaltung unentwegt
69
bemüht war und ist, unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden
Raumes eine Anpassung zu vollziehen, die weitmöglichste Erfüllung aller
Wünsche gewährleistet. Leitender Grundsatz bei dieser keineswegs
leichten Arbeit ist stets der Gedanke gewesen: „Wer vieles bringt, gibt
jedem etwas.“
Unter Auswertung .aller Möglichkeiten und unter Berücksichtigung
der zur Zeit gegebenen Verhältnisse hat die Reichs-Gefangenenzeitung
„Der Leuchtturm“ nunmehr also folgendes Gesicht erhalten:
A. Seite 1 (Titelseite).
Sie ist in vollem Umfange der politischen Berichterstattung in Wort
und Bild gewidmet, entsprechend der Raumbegrenzung in der Weise, daß
entscheidende und jeweils im Vordergründe des Interesses stehende
Ereigrnisse politischer Art weitgehende Beachtung finden. Richtungweisend
für die inhaltliche Gestaltung dieser Seite ist vor allem die Tatsache,
daß der Gefangene in der Zeit seiner Strafhaft völlig losgelöst ist von
den Ereignissen des Tages und des öffentlichen Lebens. Er darf aber,
soll er sich nach seiner Entlassung reibungslos und ohne Schwierigkeiten
als nützliches und vollwertiges Glied wieder in das Leben der Gemeinschaft
einreihen, den Kontakt mit dem pulsierenden Leben nicht verlieren. Hier
Vermittler und Führer zu sein und zweckentsprechend einen möglichst
umfangreichen und lückenlosen Einblick in das politische Zeitgeschehen
zu verschaffen, ist die eine wesentliche Aufgabe der Berichterstattung
auf Seite 1 der Zeitung. In diese Arbeit berichtender Art aber ist als
fürsorge-erzieherisches Moment die politische Willens- und Charakter¬
gestaltung des Leserkreises eingeschaltet. Wenn auch gerade dieses Sonder¬
gebiet der zielsicheren Berichterstattungsarbeit weniger augenfällig in
Erscheinung tritt, so ist es doch von überragender Bedeutung, weil es
letztlich ja nicht nur darauf ankommt, den Kontakt mit der unaufhaltsam
fortschreitenden Zeit in ausreichendem Maße herzustellen, sondern auch
gilt, verantwortungsbewußt jene geistige Haltung und Verfassung zu
vermitteln, die im eigentlichen Sinne erst fähig dazu macht, den Gleich¬
schritt im Leben der Volksgemeinschaft auch in rechter Weise wieder
aufzunehmen. So gesehen und so betrieben hat die Arbeit, die auf der
ersten Seite der Gefangenenzeitung geleistet wird, nichts zu tun mit
Befriedigung etwaiger Sensationsgelüste, sondern sie ist Arbeit des mit
den Tagesereignissen restlos vertrauten Berichterstatters und, in engstem
Zusammenhänge damit stehend, psychologisch-politische Feinarbeit.
B. Seite 2 (beweglicher Inhalt).
Im Interesse der Vielgestaltigkeit des Blattes ist das Gesicht der
Seite 2 nach ihrem Inhalt einem dreiwöchigen Wechsel unterworfen. Einmal
dient Seite 2 als Ergänzung der Titelseite zur Erweiterung der politischen
Berichterstattung und kann in dieser Form, mit kurzen Ausführungen
und Berichten zu den weltpolitischen Tagesereignissen, als politischer
Zeitspiegel angesprochen werden.
In der nun folgenden Nummer ändert sich das Gesicht der Seite 2
in der Richtung, daß ihr Inhalt sich mit kurzen zeitgemäßen und packenden
Aufsätzen aus allen Gebieten allgemein bildender Art, insbesondere
erzieherischen Aufgaben, sowohl in Bild als in Wort widmet. Der ständige
Wechsel in den einzelnen Sachgebieten, die hier anregend und wohl¬
durchdacht zur Erörterung kommen, soll nicht nur eine weitgehende
Vielgestaltigkeit des Blattes gewährleisten, sondern im wesentlichen auch
70
den Leser zu nachdenklicher Betrachtung und damit zu einer gesunden
und aufbauenden Lebensauffassung führen. Nicht zuletzt aber ist gerade
der Inhalt dieser Seite dazu angetan, die geistige Regsamkeit des Lesers
wach zu halten und ihn davor zu bewahren, daß die nun einmal mit dem
Sühneakt verbundene Abgeschlossenheit Auswirkungen zeitigt, die nicht
im Sinne des modernen Strafvollzuges liegen, und die bei der späteren
Rückgliederung des Sühnenden in das Volksganze nur hindernd xmd
erschwerend in den Weg treten könnten. Ein kurzer Blick in die Stoff¬
gebiete, die unter diesen Grundgedanken in buntem Reigen zur .Bearbeitung
kommen, dürfte am besten zeigen, wie den gestellten Forderungen in
diesem Teil des Blattes genügt wird. In ständigem Wechsel
erscheinen Aufsätze unter nachstehenden, zusammenfassenden Leitmotiven:
„Die Nation“, „Der Spiegel“, „Deutsche Landschaft — Deutsche
Heimat“, „Die Frau“, „Unsere Kolonien“, „Die sich Namen schufen“,
„Der Fortschritt“ u. a. m.
Anschließend erscheint dann die Seite 2 in der dritten Woche als
sogenannte Bildseite und gibt als solche die Möglichkeit, in dreiwöchigem
Abstande durch vielfach illustrierte Berichte aus allen jeweils besonders
interessierenden Gebieten aufklärende und aktuellste Berichterstattung
zu betreiben.
Ständig ist auf dieser Seite auch ein kurzer Abschnitt eines Romans
untergeb rächt, der aber keineswegs den nichtssagenden Zweck zu erfüllen
hat. Stunden der Langeweile angenehm auszufüllen, sondern der
entsprechend der Aufgabe, die „Der Leuchtturm“ zu erfüllen hat, in den
Dienst des erziehlichen Aufbauwerkes gestellt ist. So wie es allgemein
Grundzug aller „Leuchtturm“arbeit ist, dem nun einmal Gestrauchelten
ein erstrebenswertes Ziel zu geben und ihm damit gleichsam die Hand
zu reichen, die ihm, selbstverständlich unter gewollter persönlicher Mit¬
arbeit, das Aufrichten erleichtert, so ist auch der Romanteil des Blattes
nicht nur anregende Beigabe, sondern letzten Endes Schrittmacher im
Rahmen der angeführten Grundtendenz.
C. Seite 3.
Diese Seite der Zeitung ist an erster Stelle der geballten Bericht¬
erstattung gewidmet und gibt in ihrer Wochenübersicht eine umfassende
Darstellung aller Ereignisse der Woche. Sie ist damit vor allem als
Kernpunkt der konzentrierten politischen Berichterstattung anzusehen.
Ergänzend und erweiternd stehen ihr dem Inhalt nach zur Seite: erstens
die Titelseite und zweitens in dreiwöchigem Abstande auch noch das
zweite Blatt der Zeitung.
Seite 3 weist weiter auch ständig einen Sportbericht auf, der aber,
be^^nßt entblößt von jeder Sensationsmache, lediglich die Aufgabe zu
erfüllen hat, den gesunden Sinn für eine sportliche Betätigung auch in
der Zeit der Strafhaft aufrecht zu erhalten. Daß die Zeitung auf diesem
Gebiete nur eine Ergänzung und Belebung darstellt für die Leibesübungen,
die grundsätzlich in jeder Anstalt getrieben werden, liegt in der Natur
der Sache.
D. Seite 4.
Auf der letzten Seite der Zeitung findet der Leser zunächst eine
Rätselecke. Der Aufbau dieser Rätselecke erfolgt nach den Grundsätzen,
die allgemein bindend für die „Leuchtturm“arbeit sind. Wenn nun auch
ein Teil der Leser der Anschauung sein mag, daß ihnen in der Rätselecke
71
einzig und allein etwas geboten wird, sie über Stunden der Muße und
eintöniger Abgeschlossenheit angenehm hinwegzubringen, so will die
Zeitung diesen Lesern keineswegs ihre Selbsttäuschung rauben. Vielleicht
ist es sogar vorteilhafter, sie sind mit unserer Absicht nicht vertraut
und gehen unbewußt, unbeschwert und mit innerer Befriedigung den Weg,
den wir auch in der Eätselecke zielbewußt vorschreiben; denn auch dieser
Abschnitt unseres Blattes gibt dem Leser nicht nur weitgehend geistige
Anregung, sondern er ist mit seinen Leitsätzen und Sinnsprüchen, die
sich aus der Rätselarbeit ergeben, ein nicht unwesentlicher Beitrag zu
der dem „Leuchtturm“ arteigenen Erziehungsarbeit.
Seite 4 weist weiter einen Abschnitt auf, der aus praktischen
Erwägungen und im Interesse der Vielgestaltigkeit des Inhalts der
Zeitung wiederum einem Wechsel, und zwar einem vierwöchigen, unter¬
worfen ist. Es erscheint dieser Teil zur Kenntlichmachung des Inhaltes
stets unter den Titeln: „Wissenswertes“ — „Schaffendes Volk“ — „Blick
in die Zeit“ — „Wir fragen — Nicht aus Neugier“.
Die Einzelüberschrift zeigt den jeweiligen Wochenstoff an.
So erscheint unter „Wissenswertes“ ein Kurzbericht, der allen
Lesern als Hinweis auf gesetzliche Neuerungen und allgemein zu
beachtende Bestimmungen aller Art dienen soll.
Unter „Schaffendes Volk“ bringt die Zeitung volkswirtschaftliche
Betrachtungen, insbesondere zur Blickweitung für jeweilig ausschlag¬
gebende Ereignisse auf diesem Spezialgebiete.
Der „Blick in die Zeit“ ist folgend der Abschnitt, der sich mit den
aktuellsten Dingen auf allen nur denkbaren Gebieten befaßt. Er soll, wie
schon der Name sagt, ein Blick sein in das im Vordergründe des all¬
gemeinen Interesses stehende Zeitgeschehen.
Als letzter Abschnitt erscheint dann noch „Wir fragen — Nicht aus
Neugier“. Die unter diesem Titel jeweils gestellten Fragen soll sich
der Leser zunächst selbst zu beantworten versuchen. Er findet später
unter dem gleichen Abschnitte die Beantwortung der Fragen und kann
nun vergleichend seinen Blick erweitern oder seine persönliche Auffassung
berichtigen. Die Auswahl der Stoffe für diesen Abschnitt erfolgt im
Rahmen der Aufgaben, die das Blatt als Gefangenenzeitung zu erfüllen
hat und unter Berücksichtigung zeitbedingter Fragen.
Abschließend kann zu den Sonderaufgaben, die der Reichs-
Gefangenenzeitung gestellt sind, allgemein gesagt werden:
Die Zeitung für die Gefangenen ist in ihren Grundzügen ein Organ
der Erziehungsfürsorge. Sie ist in ihrem Inhalt wohl an ihre Grund¬
tendenz, nicht aber im Aufbau an ein bestimmtes Schema gebunden.
Freizügig auf diesem letzten Gebiete wird eine verantwortungsbewußte
Schriftwaltung stets Schritt halten müssen mit den Ergebnissen
wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis und durch einen
zweckentsprechenden Auf- und Umbau des Blattes jederzeit versuchen,
diese Erkenntnisse nutzbringend für die Gestaltung der Zeitung aus¬
zuwerten. Das Blatt sieht sich vor einen Leserkreis gestellt, der sich
zusammensetzt aus den Gefangenen aller Anstalten des Reiches, ver¬
schieden im Geschlecht, im Alter, in der geistigen Verfassung. Allen zu
dienen zum Wohle des ganzen Volkes ist zwar eine schwere und verant¬
wortungsvolle, aber schöne Aufgabe. Nicht darauf kommt es an, die
Blätter schnell und mühelos mit Stoffen aller Art zu füllen und angenehme
Kurzweil zu bereiten, sondern jedes Blatt, das von der Druckerei in
Plötzensee ins Reich hinausflattert, hat zielbewußt eine den Grundzügen
72
der Zeitung entsprechende Aufgabe zu erfüllen. Der Leser ist der
Gefangene. Ihn nach Sühneleistung wieder als nützliches Glied in die
Volksgemeinschaft einzubauen, ist Ziel der Strafvollzugsarbeit. »Der
Leuchtturm“ sieht sich bei dieser Arbeit an hervorragende Stelle gesetzt,
und er füllt seinen Platz um so besser aus, je mehr er es versteht, dem
sühnenden Menschen auf allen Gebieten, die ihn fördern, erheben, läutern
und emporreißen können, ehrlicher Berater und Helfer zu sein.
Abschließend noch ein kurzer Blick in den Geschäftsgang der
Zeitung.
Für die technische Abwicklung des Geschäftsganges sind in den
letzten Jahren weitgehende Erleichterungen geschaffen worden. Der
Verlag liefert jederzeit kostenlos Werbeplakate, Bestellkarten und die in
Merkblättern zusammengefaßten Bezugsbestimmungen. Um mit letzteren
bekannt zu machen, gibt der Verlag _ anschließend den Inhalt des Merk¬
blattes für die Hand des Beamten wieder:
„Der Leuchtturm“, die von der Reichs-Justizverwaltung heraus¬
gegebene Reichs-Gefangenenzeitung erscheint wöchentlich zum Preise von
monatlich 10 (einschließlich Postzeitungsgebühr). Verlagsanstalt ist
das Strafgefängnis Berlin-Plötzensee.
Jeder Gefangene darf diese Zeitung halten
a) vom Arbeitsverdienst,
b) vom eigenen Gelde,
c) durch Einzahlung des Betrages von seiten Verwandter oder
Bekannter des Gefangenen an die Kasse der Anstalt, in der er
sich befindet.
Die von den Gefangenen eingezogenen Bezugsgelder werden nicht
der Strafanstaltskasse in Berlin-Plötzensee überwiesen, sondern sind an
den einzelnen Anstalten zu vereinnahmen und zu verbuchen. Die Richt¬
linien für die Verbuchung sind enthalten in folgenden Verfügungpen:
1. Rundverfügung vom 10. 7. 1925 (VIII/577),
2. Rundverfügung vom 30. 12. 1932 (VIII/1353),
3. Rundverfügung vom 9. 2. 1935 (III/176) — s. Anlage —.
Die Bezugsgelder sind wie folgt zu vereinnahmen:
a) bei der Zahlung aus dem Eigengeld bei 4—10 (TB III),
b) bei der Deckung aus der Arbeitsbelohnung
durch Absetzung gemäß § 34, Abs. 8 AVO. (Buchung im
0-Buch Spalte 32 oder im N-Buch bzw. auf dem Karten¬
blatt Na und im P-Buch Abschnitt I).
(Siehe Nachtrag zum Handbuch von Reiberg S. 27.)
Jede Anstalt hat die monatliche Anzahl der Bezieher dem Verlag
des „Leuchtturm“ beim Strafgefängnis in Berlin-Plötzensee zu melden.
(Vorgedruckte Bestellkarten gehen den Anstalten kostenlos zu.)
Auf der Bestellkarte sind die A-Stücke und D-Stücke gesondert
aufzuführen.
A-Stücke sind die gegen Bezahlung (10 ^) gelieferten Bezugs¬
stücke.
D-Stücke sind die kostenlos gelieferten Dienst- oder Freistücke.
Es können bis zu 5 % der bestellten A-Stücke zusätzlich als Frei¬
stücke bestellt werden (im Höchstfälle 10 Stück), doch werden auch die
D-Stücke nur gegen ausdrückliche, zahlenmäßige Bestellung geliefert.
73
(Angaben wie „diverse D-Stücke“ oder „5 %“ wollen vermieden werden.)
Für Bestellungen unter 20 A-Stücken kann ebenfalls ein D-Stück auf
Wunsch zur Verfügung gestellt werden.
Auf der Bestellkarte muß unbedingt der Buchungsvermerk an¬
gegeben sein, der auf der leeren Zeile am Schluß der Bestellkarte
einzufügen ist. Er lautet: „Die Bezugsgelder für die A-Stücke sind
vereinnahmt und verbucht.“ Es genügt auch die Angabe des verbuchten
Gesamtbetrages oder die Anführung der betreffenden Buchungsnummer.
Alleinige Unterschrift ohne eine dieser Angaben ist jedoch ungenügend.
Bestellungen ohne diese Bestätigung können nicht ausgeführt werden und
erfordern unnötige Rückfragen.
Bezug der Gefangenenzeitung für Insassen der Anstalt aus Anstalts¬
mitteln (Bücherei — Fürsorgemitteln usw.) ist unzulässig. Ebenso un¬
zulässig ist die Einsendung der von den Gefangenen eingezogenen Bezugs¬
gelder an die Strafanstaltskasse Plötzensee. Die Beträge müssen aus¬
nahmslos an den einzelnen Anstalten vereinnahmt und verbucht werden.
Gegen Rechnung und Bezahlung an die Strafanstaltskasse Plötzensee
können nur Anstalten außerhalb der Justizverwaltung sowie Strafanstalts¬
beamte, die den „Leuchtturm“ auf ihre eigenen Kosten beziehen, beliefert
werden- (In solchen Fällen kommt der Buchungsvermerk in Wegfall.)
Die monatliche Meldung über die Bezugszahl muß spätestens am
23. des vorhergehenden Monats hier vorliegen. Daher ist es unbedingt
notwendig und zweckdienlich, wenn ständig etwa um die Mitte des Monats
werbende Umfrage bei allen Gefangenen der Anstalt gehalten wird.
Zurückziehung von A-Stücken ist nach dem 24. des vorhergehenden
Monats nicht mehr möglich, da diesseits die Postzeitungsgebühr auch bei
nachträglicher Zurücknahme von Zeitungen nach Maßgabe der am 24. des
vorhergehenden Monats beim Postzeitungsamt bestehenden Einweisungen
für den folgenden Monat voll zu bezahlen ist.
Neu hinzukommende Bezieher können dagegen auch im Laufe des
Monats jederzeit nachträglich gemeldet werden. Es erfolgt dann sofortige
Belieferung und Nachlieferung der im laufenden Monat erschienenen
Nummern. Schlußtermin für solche Nachbestellungen ist der 23. des
laufenden Monats. Spätere Nachbestellungen früherer Nummern können
nur als Drucksache mit Anrechnung des Portos geliefert werden-
Meldet eine Anstalt bis zum 23. des vorhergehenden Monats die
Bezugsziffer für den folgenden Monat nicht, so wird die im Vormonate
gemeldete Zahl für den kommenden Monat übernommen. Die Anstalten
sind in diesem Falle für die richtige und volle Verbuchung der Bezugs¬
gebühren verantwortlich, auch bei nachträglicher Zurückziehung des
Weiterbezuges. Es liegt also im Interesse der einzelnen Anstalten, daß
die Meldungen am 23. eines jeden Monats in Plötzensee vorliegen. Steht
eine solche Meldung am 23. aus, und wird infolgedessen die bisherige
Bezugsziffer für den neuen Monat übernommen, so ist jedoch nachträglich
der Buchungsvermerk einzureichen, wenn beim Verlag nicht eine Dauer¬
bestellung oder eine Bestellung „bis auf weiteres“ gemeldet ist.
Solche Dauerbestellungen (für das Rechnungsjahr) oder Bestellungen
„bis auf weiteres“ empfehlen sich für kleinere Anstalten, die einzelne
Stücke oder eine gleichbleibende Anzahl von Stücken für längere Zeit
fest beziehen. In diesen Fällen erübrigt sich die monatliche Meldung.
Bei solchen Bestellungen ist jedoch ausdrücklich zu bestätigen, daß die
Verbuchung der Bezugsgelder ordnungsgemäß allmonatlich erfolgt.
74
Die Lieferung wird bei kleinen Bezugsziffem durch das Post¬
zeitungsamt durchgeführt, und zwar als Abholstücke. Die Zeitungen
müssen also an jedem Freitag bzw. Sonnabend bei der Post abgeholt werden.
Für Anstalten, die ihre Post nicht abholen, können die Zeitungen auch
als Bestellstücke geliefert werden, die durch den Briefträger wöchentlich
zugestellt werden. In diesem Falle ist jedoch das monatliche Bestellgeld
von 6 Sißf pro Zeitung von den Beziehern mitzuvereinnahmen und zu
verbuchen und dem Verlag die erfolgte Verbuchung zu melden. Für solche
Bestellstücke sind also insgesamt 10 + 6 ^ — 16 ^ pro Zeitung und
Monat zu vereinnahmen. Nur wenn die Bestätigung hierüber vorliegt,
kann die Einweisung der Zeitung als Bestellstück und die Bezahlung des
Bestellgeldes vom Verlag an die Post erfolgen.
Für alle Bezieher mit größeren Bezugszahlen (je nach Postzone,
Postgut- oder Paketort verschiedene Mindestziffem) erfolgt die Lieferung
aus Ersparnisgründen durch Postpaket oder als Postgut.
Die Zeitungsgebühren für die durch das Postzeitungsamt versandten
Stücke sowie die Paket- und Postgutgebühren werden vom Verlag
getragen.
Direkte Bestellungen durch Anstaltsinsassen beim Verlag sind
unzulässig und können stets nur an die Anstalt zurückverwiesen werden.
Bestellungen können also nur durch die Anstalt erfolgen, in der sich der
Bezieher befindet. Dies gilt auch für Nachbestellungen früherer Nummern.
Solche Nachlieferungen können an Bezieher, die den „Leuchtturm“ durch
das Postzeitungsamt erhalten, nur als Drucksache versandt werden, wofür
das erforderliche Porto mitzuverbuchen und die erfolgte Verbuchung von
Bezugsgebühr und Porto bei der Bestellung zu bestätigen ist. (Porto für
1 Nummer: 4 für 2 Nummern: 8 für 3—6 Nummern: 15
für 7—13 Nummern: 30 darüber hinaus 40 Bei Paketbeziehem
wird die Nachlieferung, wenn Porto nicht verbucht ist, dem nächsten
Wochenpaket beigefügt. Einsendung von Marken für Bestellungen und
Nachbestellungen ist unzulässig, da die Strafanstaltskasse Plötzensee
nicht zur Vereinnahmung solcher Beträge befugt ist. Die Marken müssen
also in jedem Falle wieder zurückgesandt werden- Es empfiehlt sich,
bei Nachbestellungen vorherige Anfrage über die Lieferbarkeit der
Nummern an den Verlag zu richten, da einige Nummern bereits vergriffen
sein könnten.
Die durch das Postzeitungsamt belieferten Anstalten werden darauf
aufmerksam gemacht, daß für pünktliche und vollzählige Belieferung
stets die Post zuständig ist. Beanstandungen sind also sofort bei Empfang¬
nahme der Zeitungen auf der Postzeitungsstelle anzubringen, die für die
Abstellung etwaiger Mißstände und postwendende Nachlieferung fehlender
Nummern Sorge trägt. Eine Benachrichtigung des Verlages ist also weder
erforderlich noch zweckdienlich, weshalb solche Reklamationen in Zukunft
unberücksichtigt gelassen werden müssen. Nur Beanstandungen der
Paketbezieher sind an den Verlag des „Leuchtturm“ beim Strafgefängnis
Berlin-Plötzensee zu richten.
Über alle Fragen, die den Zeitungsbezug betreffen, erteilt der Verlag
gern Auskunft.
Wenn in vorstehenden Ausführungen ein umfassendes Bild entworfen
wurde vom Werdegange der Gefangenenzeitung bis zu ihrer jetzigen
Gestalt als Reichs-Gefangenenzeitung und abschließend noch ein Blick
75
in den technischen Geschäftsgang des Betriebes eröffnet wurde, so geschah
dies einesteils, um interessierten Kreisen das Ergebnis zehnjährigen
Schaffens zu unterbreiten, andemteils aber, um weitgehendes Interesse
für die Arbeit an einer verantwortungsvollen aber schönen Aufgabe zu
erwecken.
Mit Ausgang des Jahres 1941 beschließt „Der Leuchtturm“ ein
Jahrzehnt erfolgreichen Wirkens in Berlin-Plötzensee. Das zweite Jahr¬
zehnt findet uns bereit zu vollstem Einsatz, und es wird auch im neuen
Zeitabschnitte dankbar begrüßt werden, wenn sich zu bereitwilliger
Unterstützung unserer Arbeit weitere Kräfte mobilisieren.
Die Lichtbildstelle
in den Justizvollzugsanstalten
Eine Anregung zur Herstellung brauchbarer Lichtbilder für die kriminal¬
biologischen Untersuchungsstellen und zur Kennzeichnung der Person des
Gefangenen
von Hermann Pflüger, Oberlehrer beim Straf gef ängnis Wolfenbüttel.
Während in den Justizvollzugsanstalten bisher Lichtbilder von Gefan¬
genen im allgemeinen nur im Rahmen der kriminalbiologischen Unter¬
suchungen hergestellt wurden, fordert die Nr. 46 Abs. 1 in der Straf¬
vollzugsordnung vom 22. 7. 1940 die ergänzende Kennzeichnung der Person
des Gefangenen durch Lichtbilder bei einer Vollzugsdauer von mehr als
einem Jahr mindestens dann, wenn sich bei der Vollzugsanstalt eine
kriminalbiologische Untersuchungsstelle befindet. Diese Beschränkung auf
Anstalten, die bereits über eine Lichtbildstelle verfügen, ist inzwischen
durch die Verfügung des Herrn Reichsministers der Justiz über Lichtbild¬
aufnahmen von Gefangenen vom 10. 2. 1941 (4430 — III si 2239/40)
gelockert. Die in Frage kommenden Lichtbiider müssen selbstverständlich
in der Vollzugsanstalt selbst aufgenommen und auch in eigener Dunkel¬
kammer verarbeitet werden; denn es wird sich in der Praxis nicht ver¬
meiden lassen, daß bei Beauftragung eines ortsansässigen Photographen
Mißbrauch mit den Aufnahmen getrieben wird, da dieser die Verarbeitung
ja im allgemeinen Laboranten oder Laborantinnen überlassen wird. (Ich
denke dabei besonders an den zu erwartenden Mißbrauch von den für die
kriminalbiologischen Untersuchungen notwendigen Nacktaufnahmen.) Es
werden also in Zukunft noch viele Vollzugsanstalten an die Errichtung
einer eigenen Lichtbildstelle herangehen müssen. Um diesen Anstalten
unnötiges Experimentieren zu ersparen und sie vor kostspieligen Fehl¬
schlägen zu bewahren, möchte Verfasser einige Anregungen geben, die
selbstverständlich keine gute Photoschule ersetzen können, aber s. E. eben
vor entmutigenden Anfangsmißerfolgen behüten sollen und somit Mut
machen können zur Beschäftigung mit dem für die Durchführung des Straf¬
vollzugs notwendigen Gebiet der Lichtbildnerei. Da Verfasser aber auch
schon manches unbrauchbare Bild gesehen hat, das in bereits bestehenden
Lichtbildstellen entstanden ist, hofft er auch diesen Bildstellenleitem mit
seinen Anregungen zu dienen.
76
Ein gfutes, also für die geforderten Zwecke (Erkennungsdienst und
Forschung) brauchbares Lichtbild kann nicht bei Benutzung unzuläng¬
licher Hilfsmittel entstehen. Voraussetzungen für das Gelingen g^ter
Bilder sind:
1. ein interessierter Bildstellenleiter,
2. eine zweckmäßig eingerichtete Dunkelkammer,
3. ausreichende Hilfsmittel.
Es wäre sinnlos, wollte man einen beliebigen Beamten zum Bild¬
stellenleiter machen und dessen etwaige Bedenken durch den Hinweis
besänftigen, es werde sich wohl jeweils unter den vielen Gefangenen einer
finden, der etwas vom Photographieren verstände. Den „passenden“
Gefangenen finden wir auf Nachfrage immer: Wer schon einmal einen
Schraubenschlüssel in der Hand gehabt hat, ist — wenn er einen Druck¬
posten wittert — Techniker oder gar Ingenieur. Und wer schon mal
zufällig mit auf ein Gruppenbild kam, ist gegebenenfalls gelernter Photo¬
graph. Die Bilder wären schon darnach! Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, daß die beobachteten untauglichen Bilder derartigen
„Photographen“ ihre Entstehung verdanken. Grundsätzlich sei gesagt:
Da es sich bei unseren Aufnahmen um Personal- und vertrauliche An¬
gelegenheiten handelt, bei denen jeglicher Mißbrauch unter allen Um¬
ständen vermieden werden muß, darf ein Gefangener weder Aufnahme,
noch Abzug, noch Vergrößerung machen. (Gegen Hilfeleistung durch
einen zuverlässigen Gefangenen — Ansetzen der Bäder, Wässern, Trock¬
nung — dürften jedoch keine Bedenken bestehen.) Der Bildstellenleiter
sei sich bewußt: Läßt er die Arbeit durch Gefangene machen, so ist die
Güte der von ihm abgelieferten Bilder infolge des Wechsels der Gefangenen
dauernden Schwankungen unterworfen und er ist gezwungen, Bilder ab¬
zugeben, mit denen er sich anstelle des anonymen Gefangenen blamiert.
Da jedoch das Photographieren heute längst Volkssache geworden ist,
dürfte es darum nicht schwer fallen, unter 60—100 Beamten einer Anstalt
den geeigneten zu finden, d. h. einen Beamten, der zunächst Lust und Liebe
zur Lichtbildkunst besitzt und unter Umständen gar schon einige Vor¬
kenntnisse in der Entwicklungstechnik hat.
Als Dunkelkammer ist jeder Raum ungeeignet, der daneben noch
anderen Zwecken dienen soll. Wenn es einen Raum gibt, in dem alles
seinen festen Platz hat, wo man buchstäblich alles im Dunkeln findet, wo
peinlichste Sauberkeit herrscht, dann muß das unsere Dunkelkammer sein.
Zur Verdunkelung sei gesagt: sie muß restlos sein bei Tür und evtl.
Fenstern. Der kleinste durchfallende Lichtstrahl kann uns die besten
Aufnahmen verderben! Aber Verdunklungstechniker sind wir ja heute alle,
so daß wir hierüber kein Wort weiter zu sagen brauchen. Ganz besonders
wichtig ist Wasseranschluß in der Dunkelkammer; denn mit Wasser müssen
wir „aasen“ können. Es sei gleich hier betont: Wassersparen geschieht
auf Kosten der Haltbarkeit der Bilder! Unter dem Wasserhahn soll sich
ein möglichst großes, flaches Becken mit verschließbarem Abfluß im
Boden befinden. Weiter sind zwei Tische erforderlich, und zwar einer
neben dem Was.serbecken für die Entwicklungsarbeiten; den anderen stelle
man für Vergrößerungs- und Kopierarbeiten auf der gegenüberliegenden
Seite auf, damit das Photopapier nicht durch Chemikalienspritzer oder
Feuchtigkeit verunreinigt wird, über dem Entwicklertisch bringe man
mindestens zwei Lampenfassungen an für weißes und farbiges (rot, grün,
orange) Licht oder eine Speziallampe mit auswechselbarem Filter.
77
Wenn unsere Bildstellen auch nicht Anforderungen gerecht zu werden
brauchen, die an einen Berufsphotographen gestellt werden, so kommen
wir auch hier nicht um eine Reihe wichtiger Hilfsmittel herum, die ich
im folgenden aufführe:
1 Aufnahmeapparat
1 Stativ
1 optischer Belichtungsmesser
1 Vergrößerungsapparat
1 Vergrößerungskassette
1 elektrisches Hochglanz-Heizgerät mit Chromfolie
(Größe etwa 36X42 cm)
je 1 Glas- und Porzellanschale 9X12 cm
je 1 Glas- und Porzellanschale 18X24 cm
1 Tageslichtentwicklerdose für Filme 6X9 cm
1 Dutzend Holzklammem
2 Pinzetten
1 Mensur (100 g)
1 Glastrichter
1 Rollenquetscher
3 braune Literflaschen mit eingeschliffenen Stopfen
1 gleiche 500g-Flasche
50—100 Glaskugeln (Marmelgröße)
1 Thermometer
1 Aufnahmeschirm.
Besonderes Kopfzerbrechen könnte bei der Beschaffung dieses Mate¬
rials die Wahl des Aufnahmegerätes machen. Nicht der Hobel macht den
Tisch, sondern die Hand, die ihn führt. Wir brauchen für unsere Zwecke
keinen sehr teuren Apparat, wde ich anderseits aber alich von der Beschaf¬
fung eines ganz billigen abraten möchte. Soll es eine Rollfilm- oder
Plattenkamera sein? Diese hat neben der Scharfeinstellungsmögliohkeit
auf der Mattscheibe den Vorzug, daß jede Aufnahme gleich entwickelt
werden kann, jedoch den Nachteil, daß Platten teurer als Filme sind und
sich nicht so einfach und übersichtlich aufbewahren lassen wie Filme. Die
Rollfilmkamera kann zwar aus Ersparnisgründen hin und wieder zwingen,
mit der Entwicklung zu warten, „bis der Film voll ist“, auch fehlt ihr ja
die Mattscheibeneinstellung. Und doch rate ich zur Beschaffung einer
solchen. Das Wartenmüssen läßt sich gut dadurch vermeiden, daß man
mit den Aufnahmen wartet, „bis es sich lohnt“, also etwa ein- oder zweimal
im Monat die zu photographierenden Gefangenen vorführen läßt. Das
Mattscheibenproblem lösen wir — und dazu rate ich dringend in Hinsicht
darauf, daß sich meine Ausführungen bewußt an Anfänger und Laien
wenden — durch den Erwerb einer Spiegelreflexkamera 6X6, die ja die
Scharfeinstellung spielend leicht gestattet, deren Sucherbild genau so groß
ist vde das Aufnahmebild und die mit einem Film zwölf Aufnahmen ermög¬
licht. Und wenn man gar eine Rolleiflex oder Rolleicord, die mit Platten¬
adapter ausgerüstet sind und daher beliebig Platten- oder Filmverbrauch
gestatten, erwerben kann, dann erscheint mir das für unsere Zwecke als
Ideallösung. Wenn in der oben angeführten Verfügung des RJM die
Beschaffung von Rollfilm- oder Packfilmapparaten 6X9 gefordert wird,
so verkennt Verfasser nicht, daß der Geübte selbstverständlich auch mit
diesen Apparaten zu guten Ergebnissen kommen wird. Seine Propagierung
der Spiegelreflexkamera geschieht aus dem Wunsche, auch dem größten
Laien — und das werden zunächst sehr viele sein — die Arbeit von vom-
78
herein so leicht we möglich zu machen. (Unter Umständen kann dieser
oder jener Vollzugsanstalt durch ihre Staatsanwaltschaft ein in einem
Strafprozeß eingczogener Apparat zugewiesen werden.)
Auch ein Vergrößerungsgerät ist für unsere Arbeit unerläßlich; denn
auch bei Benutzung der 6X9 Kamera ist die Vergrößerungstechnik der der
Kontaktabzüge vorzuziehen. (Zur Ermutigung sei vorweggesagt, daß Ver¬
größerungen nicht schwieriger herzustellen sind als Kontaktabzüge. Aus
diesem Grunde verzichtet Verfasser in seinen weiteren Au.sführungen auf
die Erläuterung der Kontaktarbeit.) Da wir für die verschiedenen
Zwecke der kriminalbiologischen Untersuchungen und des Erkennungs¬
dienstes verschiedenes Bildformat benötigen, und zwar 6X9 und 9X16
minde.stens für jene und 6X9 für diesen, wären wir bei Beschränkung auf
Kontaktabzüge gezwungen, vermehrte Aufnahmen zu machen, die wiederum
nur möglich wären mit einer Plattenkamera 13X18. Das bedeutet zunächst
kostspieligen Plattenmaterialverbrauch. Anderseits wäre man zum
mindesten bei den Großaufnahmen genötigt, dicht an die aufzunehmende
Person heranzugehen; dadurch entstehen aber leicht verzerrte Projektionen
(dicke, den Gesichtsausdruck entstellende Nasen usw.), die die Bilder für
unsere Zwecke unbrauchbar machen. Bei Benutzung eines Vergrößerungs¬
gerätes vermeiden wir nicht nur diese Nachteile, sondern wir können mit
billigem Filmmaterial beispielsweise durch eine einzige Vorderansicht¬
ganzaufnahme diese auf jede gewünschte Größe bringen und außerdem
das erforderliche Brustbild herausvergrößem. Die Wahl des Vergröße¬
rungsgerätes ist abhängig von der Negativgröße; also bei Aufnahmen mit
einer Spiegelreflex 6X6 benutze man gleichfalls das Format 6X6. Steht
nur eine mittlere Preissumme (etwa 50 bis 70 <^Ä) zur Verfügung, ent¬
schließe man sich am besten für ein Handeinstellgerät und verzichte auf
automatische Elinstellung. Warum, das bleibe hier unerwähnt. Jedenfalls
hat ein solches Gerät einen höheren Gebrauchswert, und darauf kommt es
uns hier an.
Mancher mag glauben, man könne auf einen Belichtungsmesser ver¬
zichten, da man bei einiger Übung die Belichtung doch bald im Gefühl
habe. Vielleicht hat mancher Glück und kommt mit verhältnismäßig
wenig Ausschuß davon. Da uns aber für unsere Photoarbeiten im all¬
gemeinen wenig Zeit zur Verfügung stehen wird, wollen wir in dieser
Hinsicht jeden Ausschuß von vornherein vermeiden. Außerdem erreichen
wir durch die Benutzung eines Belichtungsmessers gleichmäßige Negative,
wodurch wir auch bei der Vergrößerungsarbeit wieder viel Zeit ersparen
(s. weiter unten). Da der Meßbereich eines optischen Belichtungsmessers
vor allen Dingen im Zimmer viel größer ist als der eines elektrischen,
rate ich zu dem optischen Gerät, das außerdem erheblich billiger ist.
Bei unserem Aufnahmezweck kommt es uns auf größtmögliche
Schärfe der Bilder an. Diese wird neben dem selbstverständlich scharfen
Negativ erreicht durch Verwendung von Hochglanzpapier, dessen äußersten
Glanz auch nur ein Hochglanztrockengerät herausholt.
Eine Begründung für die Notwendigkeit der Beschaffung der übrigen
aufgeführten Hilfsmittel dürfte sich m. E. erübrigen. Erwähnt sei nur
noch der Aufnahmeschirm! Vor diesem soll der Gefangene aufgenommen
und somit ein störender Hintergrund vermieden werden. Es genügt dazu
ein 2X2 m großer, auf Füßen stehender Rahmen, der mit geschwärzten
Säcken bespannt ist. Zur Kennzeichnung der Größenverhältnisse kann
außerdem eine Meßlatte angebracht werden.
79
Da wir in unserer Bildstelle gut und billig arbeiten wollen, ver¬
zichten wir auf die käuflichen Entwickler und Fixierbäder. Ich rate vor
allen Dingen dem Anfänger, nicht mit dem Entwickler zu wechseln. Er
arbeite sich auf einen brauchbaren Entwickler ein und — um ihn stets
frisch zu haben — setze ihn selbst an! Mit der Beschaffung der folgenden
Chemikalien ist man auf lange Zeit ausreichend versorgt:
50 g Metol 100 g Borsäure
100 g Hydrochinon 100 g Bromkalium
2 kg Natriumsulfit (krist.) 2 kg Fixiematron
2 kg Soda 500 g Natriumbisulfit
100 g Borax 100 ccm Eisessig.
Für die Entwicklung unserer Filme setzen wir folgenden Entwickler
an, indem wir die Chemikalien in der angegebenen Reihenfolge lösen und
dann die Literflasche mit Wasser nachfüllen:
2 g Metol 8 g Borax
200 g Natriumsulfit (krist.) 8 g Borsäure (krist.).
5 g Hydrochinon
In dieser Menge Entwickler können mindestens acht Filme 6X9 hervor-'
gerufen werden, vorausgesetzt, daß die Flasche stets gefüllt gehalten wird.
(Den jeweiligen Entwicklerverlust gleicht man durch Glaskugeln aus, die
man in die Flasche wirft!)
Der Entwickler für Papiere wird wie folgt zusammengesetzt:
4 g Hydrochinon 80 g Soda
3 g Metol 114 g Bromkalium.
60 g Natriumsulfit
Wie oben auf 500 ccm mit Wasser auffüllen!
Zum Gebrauch mischt man von dieser Lösung einen Teil mit drei
Teilen Wasser, also etwa 50 ccm Lösung mit 150 ccm Wasser. Diese
Gebrauchslösung schütte man nach dem Gebrauch fort; es hat keinen
Zweck sie aufzuheben. (Vorratslösung ebenfalls stets in hochgefüllter
Flasche aufbewahren!)
Zum Fixieren der Filme und Papiere gebrauchen wir folgendermaßen
angesetztes „Saures Fixierbad“:
1000 ccm Wasser, 200 g Fixiematron, 20 g Natriumbisulfit.
Da das saure Fixierbad das billigste Bad ist, spare man nicht damit; denn
hiermit sparen, geschieht auf Kosten der Haltbarkeit der Bilder. Immerhin
lassen sich in einem Liter mindestens 12 Filme 6X9 oder 400 bis 500
Vergrößerungen 6X9 oder 100 bis 125 Vergrößerungen 13X18 ausreichend
fixieren.
Schließlich brauchen wir noch ein 2—3%iges Eisessigbad (10—15 ccm
Eisessig auf 500 ccm Wasser).
Gehen wir so vorbereitet an die praktische Aufnahmearbeit heran,
so wird die gehabte — gewiß nicht große — Mühe uns reichlich durch gute
Bilder entschädigen. Aber auch für diese weitere Arbeit möchte Verfasser
noch einige Winke aus der Praxis für die Praxis geben.
Man stelle oder setze — je nachdem, ob Ganzaufnahme oder Brust¬
bild geplant — den Gefangenen vor einen ruhigen Hintergrund (Aufnahme¬
schirm) und stelle den Photoapparat (hier Format 6X6 mit Brennweite
7,5 angenommen) mit Stativ bei der Ganzaufnahme etwa 2,75 m, beim
Brustbild mindestens 1,50 m (Verzerrungsgefahr!) entfernt auf. Da wir
im Zimmer wegen der Lichtverhältnisse und aus bewußtem Verzicht auf
größere Tiefenschärfe (das ist die erreichte Bildschärfe vor und hinter
der Einstellentfemung) mit möglichst großer Blende (etwa 4,5) arbeiten
80
wollen, hat die Scharfeinstellung, also die Einstellung des Apparates auf
die genaue Entfernung vom Aufnahmeobjekt, mit größter Sorgfalt zu
erfolgen. Wie bereits schon enn'ähnt, ist das bei einem gewöhnlichen Roll¬
filmapparat, der ja keine Mattscheibe hat, sondern nur über eine Me߬
skala, die gute Übung im Entfernungsschätzen voraussetzt, und einen
kleinen Sucher, der besonders bei Nahaufnahmen sehr ungenau ist, verfügt,
nicht ganz leicht, bei der oben erwähnten Spiegelreflexkamera jedoch Sache
weniger Sekunden. Falsche Entfemungseinstellung gibt, vor allem bei
großer Blende, totsicher unscharfe und damit für uns unbrauchbare Bilder.
Mit dem Belichtungsmes.ser treten wir auf etwa 0,75 m an den Gefangenen
heran, indem wir beim Durchblicken das Meßgerät auf das Gesicht oder
die Haut des entblößten Körpers richten. Bei genauer Beachtung der
Gebrauchsanweisung können wir jetzt die erforderliche Belichtungszeit ab¬
lesen, allerdings auch nur unter Beachtung der Empfindlichkeit des ver¬
wendeten Films. (Um durch möglichst kurze Belichtung der Verwacklungs¬
gefahr vorzubeugen, empfehle ich die Verwendung von 21/10 ® Din- oder
mindestens ’Vio “ Din-Panfilmen.) Die gemessene Belichtungszeit ver¬
doppeln wir ( 21/10 ® Din-Filme geben genügend feines Kom nur bei ver¬
kürzter Entwncklungszeit, die wiederum nur bei vorheriger Überbelichtung
einwandfrei gedeckte Negative erzielt) und stellen diese am Verschluß des
Apparates ein. Nun kann „geknipst“ werden, wobei wir nur noch auf
eine ruhige Haltung der aufzunehmenden Person zu achten brauchen. Bei
Reihenaufnahmen das Weiterdrehen des Films nicht vergessen! Den be¬
lichteten Film können wir nun bei Tageslicht aus dem Apparat heraus¬
nehmen und spannen ihn in die Entwicklerdose (Gebrauchsanweisung
genau beachten!).
Die weitere Arbeit geschehe in der Dunkelkammer! Nachdem wir
mit dem Thermometer die Wärme des Entwicklers geprüft haben, bringen
wir ihn, falls die Temperatur niedriger als 18 <> C liegt, durch langsame
Erwärmung auf dem Heizkörper der Dunkelkammer auf die für einwand¬
freie Entwücklung unbedingt notwendige Wärme von 18 <>, höchstens 19 ® C,
bei Übertemperatur durch Abkühlung unter fließendem Leitungswasser.
Den richtig temperierten Entwickler gießen wir in der in der Gebrauchs¬
anweisung vorgeschriebenen Menge in die Entwicklerdose und entwickeln
unter häufiger Bewegung 11 bis 12 Minuten. Diese Entwicklungszeit gilt
für die folgenden bekannten Markenfilme: Bessapan SF, Isopan, Isochrom,
Pancola, Panatomic und ähnliche. Bei Isopan ISS, Zeiß Ikon Panchrom
6X9, Bessapan F, Peronnia, Kodak SS und ähnlichen entwickeln wir jedoch
16 Minuten. (Die angegebenen Entwicklungszeiten vermehren wir nach
je zwei Filmen um eine Minute.) Jetzt gießen wir den Entwickler in die
Flasche zurück, spülen die Dose kurz mit Leitungswasser durch (Dose
aber nicht öffnen! Es darf noch kein Licht auf den Film fallen!) und füllen
sie mit dem sauren Fixierbad (18« Cü). Nach etwa 20 Minuten ist der
Film, ebenfalls unter häufiger Bewegung der Flüssigkeit, ausfixiert. Er
kann jetzt herausgehoben werden; zeigt er jedoch noch trübe, milchige
Stellen, muß noch länger fixiert werden. Nach Abgießen des Fixierbades
füllen wir die Dose für etwa eine Minute mit dem oben genannten zwei bis
3%igen Eisessigbad. Dadurch werden etwa vorhandene Kalkspuren ent¬
fernt und die Filme geklärt. Auf das Klären folgt das sehr wichtige und
gründliche Wässern: bei laufendem Wasser mindestens 30 Minuten, bei
stehendem Wasser unter häufigem Wasserwechsel V,^ bis 2 Stunden! Nach
dem ausgiebigen Wässern nehmen wir den Film vorsichtig so aus der
Dose, daß die sehr weiche Schichtseite keine Schrammen erhält. Nachdem
81
wir an jedem Filmende eine Holzklammer befestigt haben, hängen wir
ihn zum Abtropfen auf. (Aufwirbeln von Staub vermeiden, da die Staub¬
teilchen sonst auf der klebrigen Schicht haften bleiben und bei der späteren
Positivarbeit erheblich stören!) Nach einigen Minuten gleiten wir mit
einem angefeuchteten Stückchen Wildleder unter ganz leichtem Druck
über beide Seiten des noch feuchten Films, um noch haftende Tropfen
zu entfernen, die sonst beim Eintrocknen störende Flecke auf dem Negativ
hervorrufen würden. Am nächsten Tage ist der Film für die Positiv¬
arbeit genügend getrocknet und gebrauchsfertig. Ich erwähne noch, daß
die ganzen Entwicklungsarbeiten bei Verwendung einer Tageslichtent¬
wicklerdose bei gewöhnlichem Lampenlicht durchgeführt werden können.
Aus sich hier erübrigenden Gründen rate ich — vor allem bei Panfilmen
(grünes Licht nötig!) — von Schalenentwicklung ab.
Für die Positivarbeiten setzen wir zunächst wieder unsere Bäder an,
jedoch nehmen wir dieses Mal den Metol-Hydrochinon-Entwickler, der, wie
oben beschrieben, mit Wasser im Verhältnis 1 :3 anzusetzen ist (18® C!).
Das Fixierbad bleibt das gleiche wie bei der Filmentwicklung (18® C!).
Um Verwechslungen zu vermeiden, gewöhnen wir uns daran, für den Ent¬
wickler stets die weiße Porzellanschale, für das Fixierbad die Glasschale
zu benutzen; denn geringste Spuren von Fixiematron im Entwickler
machen diesen unbrauchbar. — Den Film legen wir am besten unzer-
schnitten in das Vergrößerungsgerät, und zwar mit der Schichtseite zum
Objektiv gewandt. Die verstellbare Vergrößerungskassettef stellen wir auf
das gewünschte Bildformat ein und nehmen die Scharfeinstellung des
projizierten Bildausschnittes gemäß der dem Vergrößerungsapparat bei¬
gefügten Gebrauchsanweisung 'vor, und zwar nach Ausschaltung der
Zimmerbeleuchtung Und unter alleiniger Benutzung der Lampe (75 bis
100 Watt) des Geräts. Darnach schalten wir diese zunächst wieder aus
und die Dunkelkammerlampe (orange!) ein. Denn das für Vergrößerungen
notwendige Bromsilberpapier (gutes Markenpapier verwenden!) darf selbst¬
verständlich wegen seiner hohen Lichtempfindlichkeit nicht an weißes Licht
gebracht werden, ist aber gegen das verhältnismäßig helle Orangelicht
(etwa 1 m vom Licht entfernt bleiben!) unempfindlich. Da wir für den
Erkennungsdienst zwar mit dem Format 6X9 auskommen werden, für
die Kriminalbiologie jedoch auch andere Formate (9X16) benötigen, ist
Beschaffung von Papier im Format 13X18 zu empfehlen, das sich bequem
(natürlich nur bei Orangelicht!) zuschneiden läßt. (Dabei fallen einige
Reste ab, die wir als „Probestreifen“ dringend benötigen.) Bei Gebrauch
eines Belichtungsmessers bei der Aufnahme und bei Beobachtung der
angegebenen Entwicklungsvorschriften werden wir normale Negative er¬
halten und darum bei der Positivarbeit auch mit normalem Papier aus¬
kommen. Die Beschaffung von weichem, extraweichem, hartem oder extra¬
hartem Papier kann also unterbleiben. Mithin Papier mit den Eigen¬
schaften normal, weiß, glänzend verwenden! Die einzige Schwierigkeit
besteht für den Anfänger in der Ermittlung der richtigen Belichtungszeit
für das Vergrößerungspapier. Ein hervorragendes Hilfsmittel ist der
genannte Probestreifen. Diesen legen wir (dabei das am Vergrößerungs¬
gerät befindliche Rotfilter vor das Objektiv schalten!) auf das in die Ver¬
größerungskassette projizierte Bild, so daß helle und dunkle Stellen be¬
deckt werden, und belichten den Streifen (etwa 2 cm breit) einige Sekunden
(natürlich jetzt mit weißem Licht). Der belichtete Probestreifen kommt
nun in die Entwicklerlösung, von der er gut bedeckt und durch Bewegen
der Schale gründlich bespült werden muß. Wenn nach etwa 30 Sekunden
6
82
(richtige Temperatur und oben beschriebener Ansatz der Lösung voraus¬
gesetzt) die ersten Bildspuren aus dem Papier heraustreten, war die
Belichtung richtig; kommen die Bildspuren erheblich früher oder später,
so war zu lange (überbelichtet) oder zu kurz (unterbelichtet) belichtet,
(Dann mit einem neuen Probestreifen und nun leicht zu schätzender Be¬
lichtungszeit einen weiteren Versuch machen!) Nach zwei Minuten (nicht
später!) nehmen wir das Bild aus dem Entwickler, spülen in Wasser kurz
ab und fixieren etwa 16—20 Minuten. Sowie sich das Bild einen Augen¬
blick im Fixierbad befindet, kann weißes Licht eingeschaltet werden.
Erscheint unserem Geschmack das Bild jetzt noch zu hell oder zu dunkel,
haben wir die Änderung der Belichtungszeit für das endgültige Bild noch
in der Hand. Wir erkennen, daß wir bei einem Filmstreifen mit gleich¬
mäßig gedeckten Negativen nur einmal die Belichtungszeit zu ermitteln
brauchen und schnell hintereinander unsere Vergrößerungen hersteilen
können. Nach dem Fixieren werden die Bilder gründlich gewässert, und
zwar in fließendem Wasser mindestens eine Stunde, andernfalls bei häufigem
Wasserwechsel noch länger. Es bleibt uns dann nur noch das Trocknen
der Bilder übrig, das wir in einem elektrischen Hochglanztrockengerät
vornehmen: Während wir mit einem Rollenquetscher die ausreichend ge¬
wässerten, noch nassen Bilder auf die Chromhochglanzfolie quetschen,
steht das Heizgerät zur Vorwärmung schon unter Strom. In das Heiz¬
gerät gebracht, trocknen die Bilder schnell und springen beim öffnen des
Apparates (etwa nach 10—15 Minuten) mit hervoragendem Hochglanz
versehen ab, so daß nur noch der weiße Rand (etwa 2—3 mm) zu be¬
schneiden bleibt.
Es bleibt nun nur noch ein kurzes Wort über die Kosten zu sagen.
Verfasser hat mit Freude festgestellt, daß durch die Verfügung des RJM
für die Einrichtung der Bildstellen je ein Betrag von 300 zur Verfügung
gestellt wird. Im Rahmen dieser Summe liegen die obigen eigenen Be-
schaffungsvorschläge, so daß auch diese Frage keine Schwierigkeiten mehr
machen dürfte.
Zum Schluß sei nochmals betont, daß es nicht die Absicht des Ver¬
fassers war, mit seinen Ausführungen das Studium eines Photolehrbuches
zu ersetzen. Er glaubt aber dennoch, daß es bei Erfüllung der gegebenen
Anregungen den Bildstellenleitern ohne viel Mühe gelingen wird, brauch¬
bare Bilder herzustellen; darüber hinaus ist er überzeugt, daß durch die
ersten gelungenen Aufnahmen das Interesse des Lichtbildners an seiner
Arbeit stark gemehrt wird. Er wird dann aus sich heraus gern zu einem
guten Lehrbuch greifen und die ihm nun liebgewordene Arbeit nicht wieder
aus der Hand geben wollen.
Allgemeine Verfügungen des RJM.
Personaleinsatz im Kassendienst. AV. vom 1. 3. 1941 — Dt. Just. S. 309 —.
Bestellung von Beamten des mittleren Dienstes, von Angestellten
und Verwaltern von Gerichtszahlstellen und Gefangenenarbeits¬
zahlstellen zu Buchhaltern und Kassieren.
Arbeitszeit nach Fliegeralarm. AV. vom 5. 3. 1941 — Dt. Just. S. 333 —.
Regelung durch den örtlichen Behördenvorstand.
Strafverfolgung, Strafvollstreckung und Vollstreckungshilfe bei An¬
gehörigen des Reichsarbeitsdienstes. AV. vom 5. 3. 1941 — Dt. Just.
S. 335 —.
Haushalt 1941 . AV. vom 10. 3. 1941 — Dt. Just. S. 337 —. Siehe hierzu
Berichtigung Dt. Just. S. 405 (Arbeits- und Leistungsbelohnungen).
Bekanntgabe der für die Justizbehörden in Betracht kommenden
Kapitel, Titel und Unterteile aus den Einzelplänen IX, XII und
XVII des Haushalts für 1941.
Änderung der Durchführungsverfügung zu den Reisekostenbestimmungen.
AV. vom 10. 3. 1941 — Dt. Just. S. 341 —.
Vgl. Nr. 24 der Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz.
Änderung der DurchfUhrungsverfUgung zu den Umzugskostenbestimmungen.
AV. vom 11. 3. 1941 — Dt. Just. S. 345 —.
Vgl. Nr. 24 der Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz.
Vereinfachung des Steuerabzugs vom Arbeitslohn sowie Beseitigung von
Härten beim Kriegszuschlag zur Einkommensteuer. AV. vom 18. 3.1941
— Dt. Just. S. 369 —.
Zusammenfassung der Lohnsteuer und des Kriegszuschlags zur
Einkommensteuer (Lohnsteuer). Erleichterungen bei der Lohn¬
steuer-Abführung. Weitere Beseitigung von Härten beim Kriegs¬
zuschlag zur Lohnsteuer.
Vergütungen (Entschädigungen) der Beamten der Vollzugsanstalten bei
der Beschäftigung von Gefangenen außerhalb der Anstalt. AV. vom
12. 3. 1941 — Dt. Just. S. 370 —.
Festsetzung, Berechnung und Auszahlung der Beschäftigrungsvergütungen
und Trennungsentschädigungen usw. AV. vom 15. 3. 1941 — Dt.
Just. S. 370 —.
Anwendung der Bestimmungen über die Gebührenablösung für Brief¬
sendungen der Reichsbehörden im Verkehr zwischen dem Protektorat
Böhmen und Mähren und dem Reichspostgebiet. AV. vom 18. 3. 1941
— Dt. Just. S. 372 —.
Für die Reichsbehörden gilt der Vermerk „Frei durch Ablösung“
nunmehr sowohl im Verkehr zwischen dem Protektorat Böhmen
und Mähren und dem Reichspostgebiet als auch im inneren Verkehr
des Protektorats als Freimachung.
Postdienst im Verkehr mit dem Protektorat Böhmen und Mähren, dem
Generalgouvernement, den Niederlanden, Elsaß, Lothringen und
Luxemburg. AV. vom 17. 3. 1941 — Dt. Just. S. 372 —.
Hinweis, daß bisherige Anordnungen des Reichspostministers
durch inzwischen ergangene, in den Amtsblättern des RPM. ver¬
öffentlichte Bekanntmachungen erweitert sind. Z. B.: Aufhe¬
bung der Gewichtsbeschränkung für Briefe, Zulassung der Be¬
förderung von Päckchen, Paketen, Postgut und Wertbriefen.
Aufnahme des Postanweisungs-, Postüberweisungs-, Postscheck-
und Postnachnahmedienstes.
Errichtung eines Oberlandesgerichts in Kattowitz. AV. vom 22. 3. 1941 —
Dt. Just. S. 395 —.
Arbeitsverwaltungsordnung. AV. vom 26. 3. 1941 — Dt. Just. S. 395 —.
Änderungen in den Mustern der AVO. infolge Zusammenlegung von
Unterteilen bei Kap. 5 Titel 33 der fortdauernden Ausgaben des
Haushalts 1941.
84
Beginn des Dienstverhältnisses bei Neueinstellung von Angestellten. AV.
vom 19. 3. 1941 — Dt. Just. S. 396 —.
Beginn mit dem Tage des Dienstantritts. Abweichend hiervon
beginnt das Dienstverhältnis mit dem Monatsersten, wenn dieser
Tag — ggf. auch der folgende — ein Sonntag oder Feiertag war.
Einführung von Vordrucken zur Strafvollstreckungsordnung. AV. vom
22. 3. 1941 — Dt. Just. S. 398 —.
Eingeführt werden Vordrucke zu: Aufnahmeersuchen zum Straf¬
vollzug, Aufnahmeersuchen zum Verwahrungsvollzug, Ladungen
zum Strafantritt und Ladungsnachrichten.
Jugendstrafrecht und polizeiliches Strafverfügungsverfahren. AV. vom
22. 3. 1941 — Dt. Just. S. 398 —.
Änderung der Vorschriften für die Behandlung Jugendlicher im
polizeilichen Strafverfügungsverfahren.
Mitteilungen in Vollzugssachen. AV. vom 25. 3. 1941 — Dt. Just. S. 399 —.
Zusammenstellung der wichtigsten Fälle, in denen die Vollzugs¬
anstalten allgemein verpflichtet sind, in Angelegenheiten des Voll¬
zuges andere Behörden, Stellen oder Personen durch Mitteilungen
zu unterrichten. Weitere allgemeine Mitteilungspflichten können
nur durch den Reichsminister der Justiz eingeführt werden. Ob
ohne allgemeine Mitteilungspflicht um öffentlicher Belange willen
Mitteilungen zu machen sind, entscheidet der Anstaltsleiter im
Einzelfall.
Nachweis der deutschblütigen Abstammung. AV. vom 31. 3. 1941 — Dt.
Just. S. 427 —.
Erleichterung des Nachweises.
Geschäftliche Behandlung von Krankenscheinen der Krankenkassen. AV.
vom 1. 4. 1941 — Dt. Just. S. 427 —.
Die Gebühr für die Krankenscheine ist durch Verwendung und
Entwertung besonderer Gebührenmarken zu entrichten. Bestim¬
mungen über die Durchführung der Beschaffung und geschäftliche
Behandlung die.ser Marken.
Ausübung der Anordnungsbefugnis bei Ausgaben des Jugendarrestvollzuges.
AV. vom 31. 3. 1941 — Dt. Just. S. 428 —.
Falls Feststellung im Einzelfall ohne unverhältnismäßige Schwie¬
rigkeiten möglich, übt VoUzugsleiter die Anordnungsbefugnis aus;
sonst Regelung nach den allgemein geltenden Bestimmungen.
Gefangenensammeltransporte. AV. vom 1. 4. 1941 — Dt. Just. S. 429 —.
Hinweise zur Beseitigung von Schwierigkeiten und Mißhelligkeiten
bei der Durchführung von Gefangenentransporten.
Erholungsurlaub für das Urlaubsjahr 1941. AV. vom 7. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 459 —.
Die Bestimmungen der AV. vom 7. 5. 1940 — Dt. Just. S. 543 —
gelten auch für das Urlaubsjahr 1941.
V/egfall der Erstattung von Einnahmen und Ausgaben zwischen den
deutschen Justizbehörden im Protektorat Böhmen und Mähren und den
Justizbehörden im übrigen Reichsgebiet. AV. vom 21. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 500 —.
Insbesondere kommt nicht mehr in Betracht eine Erstattung von
laufenden Bezügen und Entschädigung der Justizbediensteten, von
Haftkosten für die Vollstreckung von Urteilen der im Protektorat
85
belegenen deutschen Gerichte in Vollzugsanstalten des übrigen
Reichsgebiets oder von Urteilen der außerhalb des Protektorats
belegenen Gerichte in den deutschen Gefängnisabteilungen des
Protektorats, usw.
Arbeitszeit der Behördenangehörigen. AV. vom 17. 4. 1941 — Dt. Just.
S. 499 —.
Aufhebung der Begrenzung der Arbeitsdauer.
Vordrucke für Haushaltsüberwachungslisten. AV. vom 18. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 500 —.
Gestaltung der Vordrucke wird künftig durch den Reichsmirdster
der Justiz bestimmt. Die Vordrucke müssen der neuen Auf¬
gliederung des Haushalts (AV. vom 10. 3. 1941 — Dt. Just. S.
337 —) entsprechen.
Bestimmungen Uber die Versicherungsgrenze in der Krankenversicherung
in den Reichsgauen der Ostmark und im Reichsgau Sudetenland. AV.
vom 15. 4. 1941 — Dt. Just. S. 500 —.
Hinweis auf die im Deutschen Reichsanzeiger und Preuß. Staats¬
anzeiger Nr. 38 von 1941 veröffentlichte Bestimmung des Reichs¬
arbeitsministers „zur Beachtung“.
Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen und Anrechnung der Verwahrungs¬
und Untersuchungshaft in den Reichsgauen der Ostmark. AV. vom
16. 4. 1941 — Dt. Just. S. 501 —.
Richtlinien für die Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen und
die Anrechnung der Verwahrungs- und Untersuchungshaft in den
Reichsgauen der Ostmark.
Vordrucke zur Strafvollstreckungsordnung. AV. vom 22. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 501 —.
Die in Strafvollstreckungsangelegenheiten allgemein bestimmten
Muster werden in einer einheitlichen Vordruckreihe („VollstrO.“)
zusammengefaßt. Vgl. AV. vom 22. 3. 1941 — Dt. Just. S. 398,
430 —.
Aufhebung der Deutschen Dienstpost im Elsaß. AV. vom 24. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 523 —.
Vom 1. 5. 1941 an keine besondere Kennzeichnung der Sendungen
nach dem Elsaß.
Einbehaltungsbeträge nach der Preuß. Einbehaltungsverordnung. AV. vom
25. 4. 1941 — Dt. Just. S. 523 —.
Erweiterung der Auszahlungsmöglichkeiten.
Festsetzung und Regelung der Versorgungsbezüge. AV. vom 24. 4. 1941
— Dt. Just. S. 523 —.
Bekanntmachung der neuen Fassung der hierüber erlassenen
Bestimmungen.
Dreizehnte Änderung der „Richtlinien für das Strafverfahren“ und der
„Mitteilungen in Strafsachen“. AV. vom 22. 4. 1941 — Dt. Just.
S. 626 —
Dienstverhältnisse der auf Privatdienstvertrag beschäftigten Gefolgschafts¬
mitglieder der Reichsjustizverwaltung. AV. vom 30. 4. 1941 — Dt.
Just. S. 547 —,
86
Änderung der Strafvollzugsordnung. Geltung für die deutschen Justiz¬
behörden im Protektorat Böhmen und Mähren. AV. vom 30. 4. 1941
— Dt. Just. S. 551 —.
Nr. 183 Abs. 2 der StrafvO. i. d. Fassimg der AV. vom 5. 2. 1941
(4300/1 — II a * 398) — Dt. Just. S. 222 — gilt auch für die
deutschen Justizbehörden im Protektorat Böhmen und Mähren.
Vordrucke für das Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesen. AV. vom
7. 5. 1941 — Dt. Just. S. 579 —
Einführung neuer Vordrucke.
Entrichtung von Beiträgen zur Reichsversicherung für nichtbeamtete
Gefolgschaftsmitglieder, die während des besonderen Einsatzes der
Wehrmacht zum Wehrdienst ■ einberufen sind. AV. vom 8. 5. 1941
— Dt. Just. S. 579 —.
Hinweis auf die im Reichsarbeitsblatt 1941 Teil II S. 134 ver-
ötfentlichte Zusammenstellung des Reichsarbeitsministers (folgt
Abdruck dieser Zusammenstellung).
Erholungsurlaub. AV. vom 13. 5. 1941 — Dt. Just. S. 581 —.
Beschränkung des Erholungsurlaubs auf 3 Wochen.
Auszahlung der Urlaubsbezüge der invalidenversicherungspfUchtigen
Gefolgschaftsmitglieder. AV. vom 14. 5. 1941 — Dt. Just. S. 603 —.
Urlaubsbezüge der wöchentlich entlohnten invalidenversicherungs¬
pflichtigen Gefolgschaftsmitglieder (Lohnempfänger) am letzten
Zahltag vor dem Beginn des Urlaubs.
Annahme und Entschädigung der Geistlichen bei den Justizvollzugsan¬
stalten. AV. vom 14. 5. 1941 — Dt. Just. S. 603 —.
Vereinheitlichung der Vorschriften über die Annahme und Ent¬
schädigung der nichthauptamtlichen Geistlichen bei den Justiz¬
vollzugsanstalten.
Zuständigkeit in Bau- und Grundstücksangclegenheiten der Reichsjustiz¬
verwaltung. AV. vom 13. 5. 1941 — Dt. Just. S. 604 —.
Zuständig sind hinsichtlich:
a) der selbständigen Vollzugsanstalten und der ihnen angeglie¬
derten Ger .-Gefängnisse: der GStA. und der Vorstand der Voll¬
zugsanstalt,
b) der Landgerichtsgefängnisse und der einer staatsanwaltschaft-
lichen Zweigstelle angegliederten Gerichtsgefängnisse: der
GStA. und der OStA.,
c) der einem Amtsgericht angegliederten Gerichtsgefängnisse:
der OLGPr. und der Vorstand des Amtsgerichts,
d) der Jugendarrestanstalten: der GStA. und der Vollzugsleiter,
e) der sonstigen Arresträume zur Vollstreckung des Wochenend¬
karzers: die für das Gebäude nach dieser Verfügung sonst
zuständigen Stellen.
Berechnung und Einziehung der Haftkosten. AV. vom 21. 5. 1941 — Dt.
Just. S. 630 —.
Zweite Änderung der Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940. AV. vom
11. 6. 1941 — Dt. Just. S. 708 —.
Änderung der Nr. 90 Abs. 3 Satz 3,
87
Personalnachrichten
Beamte des höheren Strafvollzugsdienstes
Ernannt:
Regierungsrat G a y in Essen zum Oberregierungsrat in Köln,
Regierungsrat M a r 1 o h zum Oberregierungsrat in Rawitsch,
Oberpfarrer H e ß in Papenburg (Ems) zum Regierungsrat daselbst,
Gerichtsassessor Dr. U n g e r in Berlin-Tegel zum Regierungsrat
daselbst.
Versetzt:
Oberregierungsrat Dr. Graf in Brandenburg (Havel)-Görden an den
Rechnungshof des Deutschen Reichs,
Oberregierungsrat Schriever in Bremen nach Brandenburg
(Havel) -Görden,
Regperungsrat Dr. E ß w e i n in Mannheim als Staatsanwalt nach
Offenburg,
Regierungsrat Schnabel in Zwickau nach Chemnitz,
Regierungsrat Knops in Wittlich nach Sonnenburg (Neumark),
Regierungsrat Dr. Flöther in Neumünster als Erster Staatsanwalt
nach Celle,
Regierungsrat H ei d e r in Sonnenburg (Neumark) nach Siegburg,
Regierungsrat Dr. Mayer in Siegburg nach Essen.
In den Ruhestand getreten:
Oberregierungsrat Dr. Koeblin in Freiburg (Breisg.),
Regierungsrat Dr. L e w a r k in Halle (Saale).
Beamte des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes.
Ernannt:
Verwaltungsoberinspektor Langenhan in Brandenburg (Havel)-
Görden zum Verwaltungsamtmann in Berlin-Plötzensee,
Verwaltungsoberinspektor Dahms in Brandenburg (Havel)-Görden
zum Verwaltungsamtmann daselbst,
Verwaltungsinspektor Möller in Gütersloh (StrGefL. Oberems) zum
Verwaltungsoberinspektor in Dortmund,
Verwaltungsinspektor Scharf in Remscheid-Lüttringhausen zum
Verwaltungsoberinspektor daselbst,
Verwaltungsinspektor Bisewski in Neisse zum Verwaltungs¬
oberinspektor in Teschen,
Verwaltungsinspektor Stieglitz in Amberg zum Verwaltungsober¬
inspektor in Straubing,
Verwaltungsinspektor Schuchardt in Gingen zum Verwaltungs¬
oberinspektor in Papenburg (Ems),
Justizinspektor Menzel in Kassel zum Verwaltungsoberinspektor
daselbst,
Verwaltungsinspektor Krause in Brandenburg (Havel)-Görden
zum Verwaltungsoberinspektor in Kalisch,
a. pl. VInsp. S e g g e 1 k e zum Verwaltungsinspektor in Krone a. d.
Brahe,
a. pl. VInsp. Auer zum Verwaltungsinspektor in Kaiser-Ebersdorf,
a. pl. VInsp. Trapp zum Verwaltungsinspektor in Potsdam,
88
a. pl. VInsp. Schewior zum Venvaltungsinspektor in Beuthen,
a. pl. VInsp. Stach zum Verwaltungsinspektor in Krone a. d. Brahe,
a. pl. VInsp. M ä r s c h zum Verwaltungsinspektor in Wuppertal,
a. pl. VInsp. G n a t z k i zum Verwaltungsinspektor in Bautzen,
a. pl. VInsp. Burghart zum Verwaltungsinspektor in Aichach,
a- pl. VInsp. N e u 1 i n g e r zum Verwaltungsinspektor in Bernau
(Bay.),
a. pl. VInsp. Seidl zum Verwaltungsinspektor in München,
Verwaltungssekretär Sieben in Naugard zum Verwaltungsinspektor
in Stettin,
Präfekt II. Klasse L a h o d a in Kaiser-Ebersdorf zum Verwaltungs¬
inspektor in Wien I,
a. pl. VInsp. Peters zum Verwaltungsinspektor in Remscheid-
Lüttringhausen,
a. pl. VInsp. Ebel zum Verwaltungsinspektor in Waldheim (Sachs.).
Versetzt:
Verwaltungsoberinspektor Baumgartner in Wiener-Neustadt nach
Stein (Donau),
Verwaltungsoberinspektor Spanner in Wien II nach Wiener-
Neustadt,
Verwaltungsoberinspektor L a a s in Herford nach Essen,
Verwaltungsoberinspektor Brinkhoff in Dortmund nach Herford,
Verwaltungsinspektor Ladwig in Stettin nach Posen,
Verwaltungsinspektor Dübbers in Breslau nach Berlin (RJM.),
Verwaltungsinspektor Janetzki in Stendal nach Magdeburg,
Verwaltungsinspektor Jansen in Magdeburg nach Stendal,
Verwaltungsinspektor Barsch in Landsberg (Warthe) nach Berlin
(Alt-Moabit),
Verwaltungsinspektor Sieben in Stettin nach Wronke.
In den Ruhestand getreten:
Verwaltungsinspektor Beut in in Hamburg-Stadt,
Verwaltungsinspektor Lamprecht in Berlin (Alt-Moabit).
Ausgeschieden:
Verwaltungsinspektor Hoffmann (Heinrich) in Wuppertal.
Ärzte
Ernannt:
Lagerarzt Dr. Orth zum Regierungsmedizinalrat in Berlin-Plötzensee.
Geistliche
Versetzt:
Pfarrer Heidkamp in Papenburg (Ems) nach Bochum,
Oberpfarrer H e ß in Bruchsal nach Papenburg (Ems),
Pfarrer Dr. Blank in Hannover nach Berlin-Tegel.
Oberlehrer
Ernannt:
Lehrer Hillebrand (Heinrich) zum Oberlehrer in Herford.
In den Ruhestand getreten:
Studienrat Moritz in Freiburg (Breisg.).
Verstorben:
Oberlehrer H i 11 e b r a n d (August) in Remscheid-Lüttringhausen.
89
Schrifttum
Bücher Inland
Sichert, GrundzUge des deutschen Jugendrechts. Band 1 der Schriften zum
Jugendrecht, herausgegeben von Sichert, Schaffstein, Wienacker,
Deutscher Rechtsverlag Berlin — Leipzig — Wien, 1941, DIN A 5,
148 Seiten, 6,—
Der Verfasser geht von dem Streit über den Umfang des künftigen
Jugendrechts aus und nimmt den Standpunkt ein, daß zum Jugendrecht
nicht schlechthin alle den Minderjährigen betreffenden Bestimmungen
gehören, sondern nur die Fragen, die sich mit der Erziehung der Jugend
zur Gemeinschaft befassen, also zunächst allgemein das Jugendverfassungs¬
recht und im besonderen das Jugendschutzrecht, das Schulrecht, das
Arbeitsrecht, das Jugendpflege recht und schließlich das Jugendstrafrecht.
Der Verfasser gibt über diese Gebiete einen guten Überblick und ver¬
weist dabei auf die Rechtsquellen. Wegen Raummangels soll hier nur auf
den Abschnitt über Jugendstrafrecht näher eingegangen werden. Er beginnt
mit der Streitfrage, ob Strafe und Erziehung trennende oder ergänzende
Maßnahmen sind. Er bekennt sich zu der Auffassung, daß beide Maßregeln
ineinander übergreifen und sich gegenseitig durchdringen müssen. Er
hält es für wichtig, daß künftig der Richter die Wahl zwischen „Strafe —
Zuchtmittel — Erziehungsmaßnahmen“ hat, je nachdem ob die Straftat
eine Sühne verlangt, was durch Strafe geschieht, oder ein kräftiges Schock¬
mittel erfordert, wozu die Zuchtmittel dienen, oder schließlich eine länger
dauernde Behandlung nötig erscheinen läßt, was durch Erziehungsma߬
nahmen erreicht wird. Der Verfasser fordert, daß auch bei Halber¬
wachsenen (18. bis 21. Lebensjahr) die Möglichkeit geschaffen wird, die
Anklage vor dem Jugendgericht zu erheben, hält aber im übrigen die
bestehende Regelung für durchaus zweckmäßig.
Eingehend beschäftigt er sich auch mit dem Jugendgefängnis. Er
bemängelt die große Zahl der kurzen Freiheitsstrafen (77 % aller Fälle)
und stellt die Forderung auf, daß Strafen unter drei Monaten nicht mehr
verhängt, sondern durch andere Maßnahmen ersetzt werden sollen. Scharf
spricht er sich auch gegen die Anwendung der bedingten Verurteilung
bei Jugendlichen aus. Dagegen hält er Strafaussetzung eines Strafrestes
für durchaus jugendgemäß. Er tritt für die unbestimmte Verurteilung
ein und sieht darin ein Hauptkampfmittel gegen die Frühkriminalität.
Im letzten Abschnitt werden Fragen des Strafregisters erörtert.
Der Verfasser schlägt vor, die Löschungsfristen weiter zu verkürzen und
nach italienischem Muster ein Rehabilitierungsverfahren (jedoch nur auf
Antrag oder mit Zustimmung des Bestraften) einzuführen.
Das Werk schließt mit einem sehr umfangreichen Schrifttums¬
nachweis, wodurch sein Wert noch erheblich gesteigert wird. Es bedarf
kaum der Bemerkung, daß dieses Buch uneingeschränkt zur Anschaffung
empfohlen werden kann. Dr. S t r u b e , Berlin-Moabit.
Hemer, Jugendstrafrecht und Hitler-Jugend, Band 2 der Schriften zum
Jugendrecht, herausgegeben von Sichert, Schaffstein, Wienacker,
Deutscher Rechtsverlag, Berlin — Leipzig — Wien, 1941, DIN A 5,
109 Seiten, 5,10
Der Verfasser geht von den Gedanken aus, die Sichert in den „Grund-
zügn des Deutschen Jugendrechts“ enUvickelt hat, und erörtert im ersten
90
Abschnitt das Jugendstrafrecht im allgemeinen und im zweiten Abschnitt
die Hitler-Jugend in der Strafrechtspflege nach geltendem Recht. Sodann
folgt im dritten Abschnitt ein Überblick über die Wünsche der HJ. für
die künftige Gestaltung des Jugendstrafrechts.
Der Verfasser lehnt jede unmittelbare Mitwirkung der HJ. beim
Vollzüge krimineller Strafen ab, weil sie mit dem Ehrengedanken der HJ.
unvereinbar ist. Wohl aber hält er es für wünschenswert, daß sich die
Hitler-Jugend durch ihre Rechtsreferenten in gewisser Weise in den Voll¬
zug einschaltet, z. B. Einfluß auf die Auswahl der in den Jugend¬
gefängnissen zur Verfügping gestellten Lektüre nimmt. Er fordert ferner,
daß künftig die Besetzung der Stellen des Jugendstrafvollzuges nur im
Einvernehmen mit der HJ. erfolgt.
Von dem Beginn und dem Ende der Freiheitstrafen will die HJ.
Nachricht haben, damit sie vor der Rückkehr krimineller Jugendlicher
in ihre Reihen gewarnt wird. Im Einzelfalle will sie auch die weitere Be¬
treuung nach der Strafverbüßung übernehmen, obwohl dies im allgemeinen
der NSV. oder dem Jugendamt überlassen werden soll.
In einem späteren Abschnitt lehnt der Verfasser folgerichtig den
Gedanken ab, Schutzaufsichten dem HJ.-FHihrer zu übertragen. Denn
Schutz- oder Erziehungaufsicht ist nicht ,^Ausfluß einer Erziehung in
der Gemeinschaft“, worauf sich die HJ. beschränken will, sondern Hilfe
bei der Familienerziehung, für die in erster Linie die Stellen der Straf-
fälligenbetreuung, Jugendämter oder NSV. zuständig sein würden.
Dagegen legt die Hitler-Jugend großen Wert darauf, am Strafver¬
fahren beteiligt zu werden. „Die Ermittlimgshilfe soll in den wichtigen
Fällen stets und in allen anderen dann, wenn das Persönlichkeitsbild von Be¬
deutung ist, eine Stellungnahme der HJ. anfordem. Für diese Stellung¬
nahme wird allerdings nicht die Tat ausschlaggebend sein, sondern die
sonstige Haltung und Leistung des Jugendlichen. Zu diesem Zwecke muß
die Mitteilungspflicht der Staatsanwaltschaft künftig auf sämtliche Ver¬
fahren gegen Jugendliche, unabhängig von der HJ.-Zuständigkeit, aus
gedehnt werden.“
Was über Strafregistrierung gesagt wird, deckt sich in den Grund¬
gedanken wieder mit den Ausführungen von Sichert im 1. Bande der
Schriftenreihe.
Die Fülle von wertvollen Gedanken, die auch dieses Buch enthält,
macht allen an der Jugendstrafrechtspflege beteiligten Stellen die Be¬
schaffung erforderlich.
ORR. Dr. S t r u b e , Berlin-Moabit.
Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet. Von Oberstaatsanwalt Dr. K.
Burchardi unter Mitwirkung von Staatsanwalt Dr. G. Klempahn
(Sonderband der Schriftenreihe „Deutsches Gerichtswesen“). Deut¬
scher Rechtsverlag Berlin — Leipzig — Wien. 286 Seiten, kart. 8,70 MK.
Mit ihrem Werke wollen die Verfasser, wie Burchardi in seinem Vor¬
wort sagt, Lust und Liebe für das Amt des Staatsanwalts in jungen Rechts-
wahrern erwecken, „die entschlossen und besonnen, verantwortungsfreudig
und diszipliniert, hart und gewandt sind und die den leidenschaftliche»
Willen haben, für das staatspolitische Ziel unserer Strafrechtspflege, dei
Schutz des deutschen Volkes, mit Hingabe zu kämpfen.“ Sie wollm
den Neuling in den Aufgabenkreis und die Arbeitsweise des Staatsan¬
walts einführen, ihn bei der formellen und sachlichen Erledigung seijcr
Amtsgeschäfte durch Ratschläge unterstützen, dem erfahrenen Stajts-
91
anwalt seine Arbeit erleichtern und dazu beitragen, die Arbeitsweise der
Staatsanwaltschaften des Reichs zu vereinheitlichen. Dem entspricht,
daß das Werk sich in Fassung und Wortgang allein nach den Erforder¬
nissen der Praxis richtet und von wissenschaftlicher Betrachtungs- und
Darstellungsart sich bewußt femhält. In klarer und übersichtlicher
Weise ist der reichhaltige Stoff geordnet und gegliedert, und in leicht
faßlicher, flüssiger, hier und dort fast den Erzählerton streifender Sprache
ist die Darstellung gehalten. An vielen Stellen sind Auszüge aus den
„Richtlinien für das Strafverfahren“ oder andere Verwaltungsvorschriften
wiedergegeben, an die sich die weiteren, aus reicher staatsanwaltschaft-
licher Erfahrung geschöpften Ausführungen logisch anschließen, und zahl¬
reiche Beispiele erleichtern die praktische Verwertung der vorgetragenen
Einzelheiten. Die Übersichtlichkeit der Darstellung wird dadurch erhöht,
daß von Zitaten aus dem Schrifttum und der Erörterung von Streitfragen
abgesehen und anstatt dessen schlechthin die von der reichsgerichtlichen
Rechtsprechung vertretene Auffassung zu Grunde gelegt ist.
So ist das Werk voll und ganz geeignet, die selbst gesetzten Zwecke
zu erfüllen, und man möchte es fast bedauern, daß es nicht auch die kriegs¬
rechtlichen Vorschriften erfaßt hat. Denn wenn auch die im Vorwort
geäußerte Meinung, daß sie den Krieg voraussichtlich nicht lange über¬
dauern werden, zutreffen mag, so bleibt doch anderseits die Tatsache,
daß sie, aus Volksnotstand geboren, in einmaliger Weise dem Schutze des
Volkes Rechnung tragen und die Bedeutung und Notwendigkeit einer
starken und schlagkräftigen Strafrechtspflege sowie die für eine solche
gegebenen Möglichkeiten besonders eindringlich erkennen lassen.
Landgerichtsdirektor B u r c z e k , Berlin.
Die Erpressungskriminalität im Bezirk des Landgerichts Wuppertal in
den Jahren 1927 bis 1937. Von R. Schuster. Untersuchungen zur
Kriminalität in Deutschland. Herausgegeben von Prof. Dr. von Weber.
Heft 8. Jena 1940. Verlag der Fromannschen Buchhandlung Walter
Biedermann. 72 Seiten. Preis 3,80
Die vorliegende Arbeit über die Erpressungskriminalität im Land¬
gerichtsbezirk Wuppertal, dessen Bevölkerung sich auf ca 800 000 vor¬
wiegend in der Industrie beschäftigte Einwohner beziffert, ist auf den
Ergebnissen der Praxis aufgebaut und als ein weiterer Stein in dem
Mosaik der kriminalsoziologischen Einzelforschungen umso interessanter,
als es sich bei der behandelten Erpressung in ihren drei Formen, d. h. die
einfache Erpressung (§253 RStGB.), schwere Erpressung (§254) und die
räuberische Erpressung (§ 255) nicht um ein Delikt handelt, das sich ein
seitig gegen die Person oder gegen das Vermögen richtet, sondern — wenig¬
stens in sehr vielen Fällen — um ein Roheitsdelikt, das Vermögen und
Freiheit verletzt oder verletzen will.
Nach den zusammenfassenden Ergebnissen dieser Untersuchung, die
in vier Hauptteilen die Tat der Erpressung, ihre Ursachen, die Täter der
Erpressungen und die Strafen behandelt, hatten auf den Verlauf der
Erpressungskriminalität während des elfjährigen Beobachtungszeitraums
von 1927 bis 1937 einmal die Arbeitslosigkeit in den Jahren 1929 bis
1932, sodann die nationalsozialistische Revolution entscheidenden Einfluß.
Die Einwirkung der Wirtschaftslage auf die Erpressungskriminalität ist
unverkennbar, denn das Hauptmotiv im Wuppertaler Bezirk, das 48 Täter
von 114 Erpressern, deren erpresserische Motive bekannt waren, zur Er¬
pressung trieb, ist die unverschuldete, mit der Wirtschaftslage in engem
92
Zusammenhang stehende Notlage. Und so läuft auch die Zahl der Täter
parallel zur Arbeitsziffer dieses Bezirks. Dem Hauptmotiv folgen — nach
der Häufigkeit des Vorkommens geordnet — die Arbeitsscheu (46 Täter),
die Gewinn- und Genußsucht (22), der Leichtsinn (19) und die Rachsucht,
Eifersucht usw. (18).
Die Ursachen der Erpressung sind in Umwelt und Anlage zu suchen.
Bei den Tätern, die aus unverschuldeter Not die Erpressung begangen
haben, waren fast ausschließlich Umweltseinflüsse die Ursache, bei den
anderen Tätern hauptsächlich die Anlage. Das zeigt sich schon darin,
daß von den 48 Nottätem nur — und zwar mit ganz geringen Strafen —,
zehn vorbestraft sind, während z. B. die arbeitsscheuen oder aus Geld- und
Genußsucht handelnden Täter durchweg erhebliche Vorstrafen aufzu¬
weisen haben.
Was die Begehungsarten anbetrifft, ist die beliebteste und ertrag¬
reichste — am stärksten vertretene — Erpressungsart die Drohung mit
sexuellem Hintergrund, in der die ganze Schmutzigkeit und Hinterhältig¬
keit des Erpressers zum Ausdruck kommt. Es folgt die Erpressung mit
politischem Hintergrund. Diese beiden Erpressungsarten stellen die
meisten Vorbestraften, nämlich 41 von insgesamt 58.
Aus der Fülle des gebotenen statistischen Materials, das äußerst
verständnisvoll verarbeitet und durch interessante Ausführungen inter¬
pretiert ist, seien noch die Angaben über die Höhe der durch Erpressungen
entstandenen Vermögensschäden erwähnt, die oft recht beträchtlich waren.
In einem Erpressungsfall mit sexuellem Hintergrund erreicht der Schaden
einen Betrag von 15 000 0H(,\ r> r> o i-
ORR. Dr. R o e s n e r, Berlin.
IHe Eideskriminalität im Landgerichtsbezirk Duisburg von 1906 bis 1936.
Von Friedrich Schmitz. Untersuchungen zur Kriminalität in
Deutschland. Herausgegeben von Prof. Dr. von Weber. Heft 10.
Jena 1941. Verlag der Fromannschen Buchhandlung- Walter
Biedermann, 62 Seiten und 21 Zahlentafeln. Preis 3,60 0H(,.
Obwohl der Eid und eidesgleiche Beteuerungen im Verfahrensrecht
eine überragende Bedeutung haben und die Rechtspflege sich deshalb
auf die Richtigkeit beschworener Aussagen weitgehend verlassen muß,
sind praktische Untersuchungen über Meineide und Meineidige, die einen
Einblick in die Rechtsbrüche auf diesem Gebiete gewähren, noch kaum
erfolgt. Es sind in dieser Richtung eigentlich nur die Arbeit von
Teich mann über „Meineidige und Meineidssituationen“ (siehe Heft XXI
der von Prof. Exner herausgegebenen „Kriminalistischen Abhandlungen“)
sowie 'die 1939 als Heft 3 der vorliegenden Schriftenreihe erschienene
Untersuchung „Die Eidesverletzungen im Landgerichtsbezirk Eisenach
in den Jahren 1900 bis 1936“ von Dr. Hillmann zu nennen. Allein
schon aus diesem Grunde ist die Aufgabe, die Dr. Schmitz sich gestellt und
äußerst geschickt gelöst hat, aufs lebhafteste zu begrüßen.
Die Arbeit umfaßt fünf, zum Teil äußerst reich untergliederte Haupt¬
teile. Nachdem im Abschnitt A die Aufgabe, der untersuchte Bezirk,
das bearbeitete Material und die Gesetzesbestimmungen besprochen sind,
befaßt sich der Hauptteil B zunächst mit den Taten und behandelt im
einzelnen den zeitlichen Verlauf der Eideskriminalität, die soziale Be¬
deutung der Eidespflichtverletzungen sowie die Einstellungen und Frei¬
sprüche. Abschnitt C ist den Strafen find der Strafverbüßung gewidmet,
während im' Teil D die Täter Gegenstand der Untersuchung sind.
93
Das im letzten Abschnitt E zusammengefaßte Ergebnis der Unter¬
suchung über die Eideskriminalität im Landgerichtsbezirk Duisburg, der
im Jahre 1936 rund 889 000, vorwiegend in der Industrie oder im Bergbau
als Arbeiter oder Bergmann tätige Gerichtseingesessene zählte, kann,
wie der Verfasser mit Recht hervorhebt, natürlich nur als Baustein im
Rahmen weiterer Untersuchungen und der Reichskriminalstatistik ge¬
wertet werden, die schließlich insgesamt erst Aussagen über das Gesicht
der Eideskriminalität in Deutschland gestatten.
Bei den meisten der in dem rund dreißigjährigen Beobachtungs¬
zeitraum abgeurteilten Täter, deren Gesamtzahl sich auf rund 300 be¬
läuft, handelte es sich nach den Feststellungen des Verfassers nicht um
einen Hang zur Kriminalität; zum großen Teil sind Eidespflichtverlet¬
zungen Konfliktskriminalität. Der Asoziale und Lügner, die als Täter¬
typen eine besondere Darstellung fanden (vgl. D, II, 1 und 4) stellen das
eigentlich kriminelle Element, bei denen trotz Eides- oder „Ehren“notstand
in der Mehrzahl, nur der vom Gesetz angedrohte hohe Zuchthausstrafrahmen
die richtige Sühne für Tat und Täter ist.
Anderseits dürfte das Untersuchungsmaterial bereits Bestre¬
bungen von Wissenscheift und Rechtsprechung unterstützen, die beim
Meineid zwingend vorgeschriebene Zuchthausstrafe abzulösen durch eine
freiere richterliche Strafzumessung, zumal die von E x n e r in seinen
„Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte“ (Krim.
Abhandlungen, Heft XVI, S. 81 ff.) angedeutete Folge einer Aufhebung
der Strafmindestgrenze, die eine weitere — vielleicht ungerechtfertigte —
Strafmilde nach sich zöge, nach den Untersuchungsergebnissen beim Mein¬
eid nicht zu befürchten sein dürfte. Bewegten sich doch die ausge¬
sprochenen Strafen vielfach entfernt von dem Strafminimum und geben
.somit die Auffassung der Gerichte zu erkennen, die die Bedrohung der
Rechtspflege und des Ansehens der Gerichte durch Eidesverletzungen
nicht verkannten. Diese Meinung vermöchte wohl auch das Fortfallen
der Strafmindestgrenze nicht zu ändern. „Wohl aber wäre eine gerechtere
Würdigung der einzelnen Straftaten nach ihrer Wertigkeit möglich“.
Auf den aus 21 Zahlentafeln bestehenden Anhang mit durchweg
äußerst instruktivem Datenmaterial sei besonders verwiesen, aus denen
die Tafel 18 über „die Motive der Tat“ den Referenten besonders inter¬
essiert hat, da die Motivenstatistik im allgemeinen in der kriminal¬
statistischen Praxis leider noch recht vernachlässigt ist.
ORR. Dr. R o e s n e r , Berlin.
Das Gnadengesuch. Von Wolfgang Menschell. Gemeinverständliche
Einführung in die Praxis des Gnadenrechts und des Rechts des Straf¬
registers und der polizeilichen Führungszeugnisse. Deutscher Rechts¬
verlag Berlin — Leipzig — Wien 1940. — 66 Seiten, DIN A 5, 2,40.0?Ä.
Wer nur gelegentlich mit Behörden zu tun hat, geht meistens mit
einer gewissen Unsicherheit an die Bearbeitung seines Falles, da
ihm die gesetzlichen Bestimmungen und die sich in der Praxis heraus¬
gebildeten Grundsätze nicht bekannt sind. Oder aber er bringt seinen
Antrag so unbeschwert von Sachkenntnis ein, daß seine Bemühungen von
vornherein zum Scheitern verurteilt sind oder doch wenigstens viel Zeit
und Mühe verschwendet werden. Solche Gefahren treten insbesondere
dann auf, wenn jemand mit Strafverfolgungsbehörden zu tun hat und als
94
Verurteilter den Gnadenweg beschreiten will. Für diesen Fall will das
Buch allen Volksgenossen ein Helfer sein. Es gibt Antwort auf die Frage,
ob und welche Möglichkeit besteht, ein Gnadengesuch einzureichen.
Das handliche Buch enthält in gemeinverständlicher Form alle Vor¬
schriften, die man für diesen Zweck braucht. So behandelt es im ersten
Abschnitt den Personenkreis, der ein Gnadengesuch stellen kann. Im
zweiten Abschnitt erörtert der Verfasser eingehend die Möglichkeiten
eines Gnadengesuches bei dem jeweiligen Stande des Strafverfahrens.
Welche Gnadenbitte bei den einzelnen Strafarten ausgesprochen werden
kann, wie das Gesuch aussehen und wie man es nicht machen soll, geht
sehr einleuchtend aus den beiden folgenden Abschnitten hervor. An¬
schließend werden die Gnadenbehörden aufgeführt, die in den einzelnen
Fällen zuständig sind. Die Darstellung über die Besonderheiten von
Gnadengesuchen in Dienststrafsachen sind vor allem für den Beamten
sehr aufschlußreich.
Wie und in welchen Fällen die Wirkung in Strafregistersachen
gnadenweise gemildert werden und wer ein strafvermerkfreies polizei¬
liches Führungszeugnis erhalten kann, wird auf Grund der neuesten Vor¬
schriften am Schlüsse der Arbeit dargestellt.
Der Verfasser schöpft aus mehrjähriger praktischer Erfahrung und
trägt den Stoff in grosser Anschaulichkeit und klar gegliedert vor. Aus
diesem Grunde wird das Buch in erster Linie für den Laien bei der Ein¬
reichung von Gnadengesuchen willkommen sein. In gleicher Weise wird
es von Wert sein für alle mit der Fürsorge Beauftragten, die jederzeit
in die Lage kommen können, einen Gesuchsteller zu beraten. Schließlich
ist das Buch von besonderem Wert für diejenigen, die von Amts wegen
zu Gnadengesuchen Stellung zu nehmen haben, und sich über die Zu¬
ständigkeit der Gnadenbehörden unterrichten wollen.
Oberlehrer Düllmann, Berlin.
Tannhäuser, Der Ermittlungsdienst der Verwaltungsbehörde. Ver¬
lag von W. Kohlhammer, Stuttgart und Berlin 1939. 74 Seiten.
Der Sachbearbeiter in Ermittlungsangelegenheiten findet hier ein
Fachlehrbuch vor, das anschaulich und erschöpfend alle Möglichkeiten bei
Aufklärung von Tatbeständen behandelt. Es zeigt die Verfahrens- und
Verhaltensweise, die — im Gegensatz zum Kriminalbeamten und Privat¬
detektiven — der seitens einer Verwaltungsbehörde mit der Ermittlung
Beauftragte zu beachten hat. Die langjährigen Erfahrungen im Er¬
mittlungsfache, wobei der Auftrag z. B. auf Klarstellung der Wohn-,
Einkommens- und Vermögensverhältnisse, des Lebensaufwandes und der¬
gleichen lautet, hat der Verfasser zusammengestellt und hieraus die Me¬
thode der Erkundigungstechnik im Verwaltungsdienst entwickelt. Es
werden aber nicht nur praktische Hinweise für die außendienstliche Be¬
tätigung des Ermittelnden gegeben, es wird auch gezeigt, welche Erforder¬
nisse im Innendienst, vor allem an Form und Inhalt der Ermittlungsbe¬
richte und Verhandlungsniederschriften gestellt werden.
Das Buch, das im flüssigen Stil geschrieben und mit zahlreichen Bei¬
spielen versehen ist, füllt eine Lücke im Schrifttum aus und wird als wert¬
voller Leitfaden für die Praxis nicht nur von im Ermittlungsfache beruflich
Tätigen, wie Beamten, Fürsorgern und anderen Angestellten, sondern
auch von den ehrenamtlichen Helfern in der Ermittlungshilfe und der
NSV. begrüßt werden. i i „ r> i-
° Oberlehrer Düllmann, Berlin.
95
Das Recht der Arbeit. Systematische Zusammenstellung der wichtigsten
arbeitsrechtlichen Vorschriften von Prof. Dr. Wolfgang Sichert.
Deutscher Rechtsverlag. Berlin — Leipzig — Wien. 204 Seiten.
DIN A 5. Kart. 3,30 m.
Die 64 wichtigsten arbeitsrechtlichen Vorschriften sind im Wort¬
laut oder auszugweise abgedruckt. Das Büchlein ermöglicht einen
bequemen Überblick über das gesamte Sachgebiet und enthält für
die praktische Arbeit alles Wesentliche. Als Einleitung ist eine durch
Kürze und Klarheit ausgezeichnete Übersicht über den Ausbau und die
Gliederung des Arbeitsrechts und der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung vor¬
ausgeschickt. ORR. Dr. S t r u b e , Berlin-Moabit.
Polizeiverwaltungsgesetz mit den preußischen und reichsrechtlichen Vor¬
schriften des Polizei Verwaltungsrechts. Textausgabe mit Verweisungen
und Sachverzeichnis. 6., neubearbeitete Auflage. 190 Seiten Taschen¬
format. Kartoniert MM, 1,60. Verlag C. H. Beck, München und Berlin.
Der Verlag bittet uns um Mitteilung, daß eine neue Auflage erschienen
Auf die Besprechung der 5. Auflage im 5. und 6. Heft des 71. Bandes
ist
wird verwiesen.
Die Schriftleitung.
Zeitschriften
Ausland
Italien
Rivista di diritto penitenziario, studi teorici e pratici. Herausgeber:
Dr. Giovanni Novelli, Rom. Jahrgang XII Heft 1 (Januar —
Februar 1941).
Der Herausgeber der Zeitschrift Dr. Giovanni Novelli, der Chef
der italienischen Strafvollzugsverwaltung, widmet Herrn Reichsjustiz¬
minister Dr. Gürtner einen Nachruf, der zeigt, ein wie hohes Ansehen
Minister Dr. Gürtner auch unter den Rechtswahrem des verbündeten
Italiens genoß.
Der erste Originalartikel von Kassationsrat Musillami behandelt
das freie Ermessen des Strafrichters. Der Verfasser geht von der Bedeu¬
tung des Ermessens für die zur Rechtsanwendung berufenen Organe im
allgemeinen aus und weist dann auf die besondere Bedeutung der Ermessens¬
entscheidungen des Richters und namentlich des Strafrichters hin. Gerade
auf dem Gebiete des Strafrechts zeige das richterliche Ermessen von der
wissenschaftlichen wie auch von der gesetzgeberischen Seite her die
Tendenz zu einer noch weiteren Entfaltung, was u. a. auch bei der Aus¬
gestaltung der sichernden Maßregeln im Kampfe gegen das gefährliche
Gewohnheitsverbrechertum sowie überhaupt bei der Berücksichtigung der
Persönlichkeit des Verbrechers und der fortschreitenden Individualisierung
hervortrete.
Professor C a v a 11 o schreibt über die Rechte des Verletzten im
Strafverfahren, ein Problem, das in den letzten Jahren gerade auch in der
deutschen Strafrechtswissenschaft und -reform besondere Beachtung gefun¬
den hat. Diese Frage sollte auch auf dem XII. Kongreß der Internationalen
Strafrechts- und Gefängnis-Kommission behandelt werden. Cavallo legt die
italienische Regelung unter rechtspolitischen Gesichtspunkten dar und
bringet Reformvorschläge.
Im Anschluß an die Originalartikel wird das italienische Gesetz vom
27. 12 1940 über Strafvorschriften betreffend die Produktion und die Ver¬
teilung lebenswichtiger Verbrauchsgüter nebst Begründung hierzu abge¬
druckt. Diese weist darauf hin, daß die Bevölkerung im allgemeinen ein
diszipliniertes Verhalten an den Tag gelegt habe, und daß die Kriminalität
auf diesem Gebiet in keiner Weise zu irgendeiner Beunruhigung Anlaß gebe.
Bei der Wichtigkeit der Verbrauchsregelung seien aber die gesamten ein¬
schlägigen Vorschriften^ überprüft worden, wobei im Interesse einer noch
wirksameren Vorbeugung eine Intensivierung des strafrechtlichen Schutzes
doch angebracht erschienen sei. Für eine Reihe einschlägiger Straftatbe¬
stände des bisherigen Rechts wurden die Strafen erheblich erhöht. Für
das Beiseiteschaffen und Zurückhalten größerer Mengen von Verbrauchs-
gütem ist unter näherbezeichneten Voraussetzungen sogar Todesstrafe
angedroht. Dasselbe gilt für schwerere Fälle des Vemichtens von Roh¬
stoffen, Erzeugnissen und Produktionsmitteln. Diese Tatbestände können
als Parallele zu unserem § 1 Abs. 1 der Kriegswirtschaftsverordnung vom
4. September 1939 angesehen werden. Beachtung verdient die Übertragung
der schwersten Kriegsverbrechen auf das Sondergericht zur Verteidigung
des Staates, das etwa unserem Volksgerichtshof entspricht, wodurch zum
Ausdruck gebracht werden soll, daß es sich um Volksverräter handelt.
Im übrigen entscheiden über Kriegsverbrecher die landgerichtlichen Straf¬
kammern (in der üblichen Besetzung von drei Berufsrichtem) im Schnell¬
verfahren. Zur praktischen Anwendung des erwähnten Gesetzes wie auch
des Gesetzes vom 16. Juni 1940 über die Strafverschärfung für Verbrechen
und Vergehen, die unter Ausnutzung von Umständen begangen worden
sind, die mit dem Kriegszustand im Zusammenhang stehen (vgl. Blätter
für Gefängniskunde, Band 71 S. 256), ist ein Runderlaß des Justizministers
vom 8. Januar 1941 ergangen (Italienisches Justizministerialblatt 1941
Nr. 2 S. 21).
Ein Aufsatz von Roberto V o z z i, Richter im italienischen Justiz¬
ministerium, über das deutsche Jugendstrafrecht und den Jugendarrest
zeigt die große Beachtung, welche die Reformen, die in Deutschland in
der letzten Zeit auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts verwirklicht worden
sind, in Italien gefunden hat. Im Anschluß an den Aufsatz werden die
Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4. Oktober 1940
sowie die zur Ausführung ergangenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften
in italienischer Übersetzung wiedergegeben.
Der Oberlandesgerichtsrat Semeraro bringt einen ausführlichen
Bericht über das italienische Strafregisterwesen im ersten Jahrzehnt der
neuen Strafgesetzgebung. Die Materie ist in Italien in der Strafproze߬
ordnung (Artikel 603 ff.) geregelt, zu der ergänzend die Strafregisterver¬
ordnung vom 18. Juni 1931 ergangen ist.
Unter den kleineren Mitteilungen verdient eine Notiz über das beträcht¬
liche Ansteigen der Kriminalität der weiblichen Jugend in England hervor¬
gehoben zu werden. Landgerichtsrat Dr. D a 11 i n g e r , Berlin.
Herausgeber und Hauptschriftleiter i. N.: Oberregierungsrat Dr. W. Strube,
Berlin-Moabit. — Verlag: Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidel¬
berg, Lutherstr. 50. — Bruck: Strafgefängnis Berlin-Tegel, Scidclstr. 39.
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Preise der erschienenen Hefte
Von den Bänden 1 bis 26 sind einige Hefte vergriffen. Im Bedarfs¬
fälle wird um Nachfrage beim Verlag gebeten. Das Generalregister
zu Band 1 bis 26 kostet 2.50 0HL
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Inhaltsverzeichnis
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1,60 „
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2,40 „
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Es erscheinen
noch
zwei
Doppelhefte, im Novemb.
1941 und März 1942.
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Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
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Blätter für
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Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube
Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizminiateriam, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band
Drittes und Viertes Heft
August — November 1941
H 1<: 1 D E L B E R G 19 4 1
Verlag Carl Winters Universitätsbuchhandlung
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Preise der erschienenen Hefte
Von den Bänden 1 bis 26 sind einige Hefte vergriffen. Im Bedarfs¬
fälle wird um Nachfrage beim Verlag gebeten. Das Generalregister
zu Band 1 bis 26 kostet 2.50 MK
Bd.:
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Preis:
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Das 5. Heft erscheint als
Sonderheft im Januar
! und das 6. Heft im März
i 1942.
Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
Blätter
für
Gefängniskunde
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube, Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band
Drittes und Viertes Heft / August—November 1941
Heidelberg 1941 / Verlag Carl Winters Universitätsbuchhandlung
Inhalt
des 3. und 4. Heftes des 72. Bandes:
Abhandlungen Seite
Dr. R o e s n e r , Wesen und Forschungsziel der Kriminal¬
statistik, sowie ihre Technik und Nutzbarmachung im
Deutschen Reich . 99—132
Dr. T i g g e s , Zur Schockwirkung des Jugendarrestes . 132—140
Dr. S t r u b e , Die Straffälligenbetreuung in den preußisch¬
deutschen Strafvollzugsanstalten . 140—147
Weigel, Wasser und Wäsche — ein volkswirtschaftliches
Problem . 147—152
Aus der Gefängnisverwaltung
Allgemeine Verfügungen des RJM. 152—155
Personalien . 155-;-157
Schrifttum
Bücher — Inland . 157—159
Zeitschriften — Ausland . 159—160
Die SchrifUeitung der ,,Blätter für Gefängniftkunde** befindet sich Berlin W 9, Leipziger
Platz 15 — Fernsprecher: 12 70 76 — Der Zahlungsverkehr läuft unter der Anschrift:
».Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde in der Akademie für Deutsches Hecht" --
Bankkonto: 3676S bei der Bank der Deutschen Arbeit in Berlin C2 ~ Postscheck-
konto: 1764 92 Berlin — Die i>er8Önlichc Anschrift des Herausgebers lautet:
Oberregierungsrat Dr. Strube. Berlin NW40. Alt-Moabit 12a — Die ..Blätter für Gefängnis¬
kunde" erscheinen alle zwei Monate — Jeder Band umfaßt sechs Hefte —Wissenschaftliche
Abhandlungen größeren Umfangs erscheinen in Sonderheften.
99
Wesen und Forschungsziel
der Kriminalstatistik,
sowie ihre Technik und Nutzbarmachung
im Deutschen Reich
von Oberregierungsrat Dr. E. Roesner, Berlin
1. Wesen und Forschungsziel der Kriminalstatistik
Nach den einleitenden Worten eines — nachstehend in erweiterter
Form wiedergegebenen — Vortrages, den ich über das obige Thema auf
besonderen Wunsch der Presseabteilung der Reichsre¬
gierung am 27. Mai d. J. vor den Vertretern der Berliner und auswärti¬
gen Presse gehalten habe, gehört zu dem umfangreichen Gebiet der Moral¬
statistik i), die wieder eine Teildisziplin der Kulturstatistik 2) ist, als ein
besonderes und äußerst bedeutsames Kapitel auch die Kriminalstatistik.
Da nach der Begriffsbestimmung Georg von Mayrs, des Altmeisters
der deutschen Statistik, die Kriminalstatistik alles zu erforschen hat, was
an Bestands-, vor allem aber an Bewegungsmassen auf dem Gebiete des
„crimen“, d. h. des Verbrechens (im weiteren Sinn), durch die statistische
Beobachtung insbesondere der Tätigkeit und Tätigkeitserfolge öffentlicher
Behörden irgendwelcher Art zur Feststellung kommt 3), es sich hierbei
also um die zahlenmäßige Ermittlung unmoralischer Handlungen und ihrer
Täter als asoziale Elemente der Volksgemeinschaft handelt, stellt die
Kriminalstatistik — ebenso wie auch beispielsweise die Statistik
der Selbstmorde 4), der Ehescheidungen 5), der FHirsorgeerziehung, der
Prostitution6) oder der Geschlechtskrankheiten'^) — im speziellen eine
Statistik der negativen und anormalen Moralität dar.
1) Vgl. F. T ö n n i e H . Artikel ,,Moralstatistik". Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften. Jena 1926. VI. Bd. — G. von Mayr. ,.Moralstatistik mit Einschluß
der Kriminalstatistik“. Tübingen 1917 — R. Korherr. ,,Moralstatistik". Die Stati¬
stik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. Herausgegeben von F. Burgdörfer.
Berlin 1940. Bd. I. S. 465. — E. Roesner. Artikel ,.Moralstatistik“. Handwörterbuch
der Kriminologie. Berlin 1936. Bd. II.
2) Vgl. F. Zahn. ..Internationale Kulturstatistlk”. Etudes dedidiöcs ä la Memoire
d'Andröadös. Athen 1939. — Ferner J. Müller. ..Deutsche Kulturstatistik". Grund¬
riß der deutschen Statistik. IV. Teil. Jena 1928. — Nach der Systematisierung von
Zahn, des Seniors der deutschen Statistik, bildet die Kulturstatistik mit der Bevölkerungs¬
statistik und der Wirtschaftsstatistik das Gesamtgebiet der praktischen Statistik.
3) Vgl. G. von Mayr. ..Moralstatistik mit Einschluß der Kriminalstatistik“.
Tübingen 1917. S. 405.
4) Vgl. E. Roesner. ..Selbstmord (C. Statistik)“. Handwörterbuch der Krimi¬
nologie. Berlin 1936. Bd. II.
5) Vgl. F. Hage. ..Die Statistik der gerichtlichen Ehelbsungen“. Die Statistik
ln Deutschland nach ihrem heutigen Stand. Herausgegeben von F. Burgdörfer.
Berlin 1940. Bd. I. S. 264.
6) Vgl. M. Hageraann. Artikel ..Prostitution (A. Wesen. Problem und
Lösungsversuche)“. Handwörterbuch der Kriminologie. Berlin 1936. Bd. II.
7) Vgl. E. Roesner. Artikel ..Prostitution (B. Statistik der Geschlechtskrank¬
heiten)“. Handwörterbuch der Kriminologie. Berlin 1936. Bd. II.
100
Bei der Kriminalstatistik unterscheidet man zunächst eine Kriminal¬
statistik im weiteren Sinne und eine solche im engeren Sinne.
Zu der Kriminalstatistik im weiteren Sinne rechnen
außer der letzteren die Polizeistatistik, die Statistik der Strafgerichts¬
organisation, die Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen sowohl auf dem
Gebiete der Staatsanwaltschaft wie auch der Gerichtsbehörden, die Aus¬
lieferungsstatistik, die Strafvollzugsstatistik, die Strafregisterstatistik,
die Begnadigungstatistik sowie die Statistik der Straffälligenbetreuung.
Die Aufgabengebiete aller dieser kriminalstatistischen Teildisziplinen
hier auch nur anzudeuten, verbietet leider die Raumfrage. Ich darf daher
auf meine ausführlichen Darlegungen an anderer Stelle 8) verweisen.
Lediglich das Wesen und Ziel, sowie die Technik und Nutzbarmachung
der Kriminalstatistik 9) im engeren Sinne als wichtigster und wohl zeitlich
auch ältester Zweig im Rahmen des Gesamtsystems der Kriminalstatistik
soll der Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.
Allgemein gesehen ermittelt die Kriminalstatistik im engeren
Sinne — in der Fachliteratur gelegentlich auch als Statistik der Krimi-
nalitätiö) oder materielle Kriminalstatistiki*) bezeichnet—erstens den zahlen¬
mäßigen Umfang und die Art der durch die jeweilige Strafgesetzgebung um¬
grenzten strafbaren Handlungen sowie die Zahl ihrer Täter nach der
Art ihrer Aburteilungen (d. h. Verurteilungen, Freisprechungen, Einstel¬
lungen des Verfahrens durch das Gericht). Sie gibt zweitens Aufschluß
über die wichtigsten natürlichen, sozialen und speziell kriminellen Merk¬
male (wie Geschlecht, Alter, Familienstand, Beruf, Religion, Bildungsgrad,
Nationalität, Gebürtigkeit, Vorstrafen, insbesondere Rückfälligkeit) der
Delinquenten und beschäftigt sich schließlich mit der Art und Zahl der
erkannten Strafen.
Das Aufgabengebiet der Kriminalstatistik ist infolgedessen
sehr vielseitig. Ihre Daten sind einmal für die präventiven und repres¬
siven Maßnahmen der Gesetzgebung wie der Strafrechts¬
pfleg e 12) von großer Wichtigkeit. Als Erkenntnisquelle für die Krimi-
nalätiologie,d. h. die Lehre von den Verbrechensursachen, eine Termi¬
nologie van Hamels'ä), stellt Franz von Liszt i^) an die Kriminal¬
statistik die Forderung, die Kriminalität nicht nur zu beschreiben, sondern
sie auch zu erklären, wie das seit einigen Jahren auf internationaler Basis
in den durch Ervin Hacker, Professor an der Rechtshochschule in
8) VkI. E. RoeBner. Artikel „PolizeistaüsUk“. Handwörterbuch der Krimi¬
nologie. Berlin 1936. Bd. II. — Derselbe: Artikel ..Rechtspflegestatiatik". Handwörter¬
buch der Rechtswissenschaften. Berlin 1931. 1. und 2. Ergänzungsband. — Derselbe:
..Auslieferungsstati.stik des In- und Auslandes und ihre Veieinheitiichung“. Zeitschrift
f. d. ges. Strafrechtswis.senschaft. Berlin 1933. 63. Bd. S. 532 ff. — Derselbe: ..Die
Aufgaben der Strafvollzugsstatistik“. Allgemeines Statistisches Archiv. Jena 1935.
25. Bd. S. 27 ff. — Derselbe: „Die Behandlung der Vorbestraften und Rückfälligen in
der Kriminalstatistik”. Ebenda 27. Bd. S. 28 8^.
9) Vgl. E. Roesner. Artikel „Kriminalstatistik“. Handwörterbuch der Krimi¬
nologie. Berlin 1936. Bd. II.
10) Vgl. Hesse. Artikel ,,Kriminalstatistik". Handwörterbuch der Staatswissen¬
schaften. Berlin 1925. Bd. VII.
11) Vgi. E. M i s c h I e r. ..Die Kriminalstatistik als Erkenntnisquelle". Handbuch
des Gefängniswesens. Hamburg 1888. Bd. I. S. 56.
12) Vgi. E. M i s c h 1 e r. a. a. O. S. 61.
13) Vgl. Zeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft. Berlin 1901. 21. Bd.
S. 345.
14) Vgl. ..Zur Vorbereitung des Strafgesetzentwurfs". Festschrift für den XXVI.
deutschen Juristentag. Berlin 1902. S. 61.
101
Miskolc (Ungarn), herausgegebenen „Kriminalstatistischen und Kriminal¬
ätiologischen Berichten“ geschieht. Als beschreibende Wissenschaft hat
sie die Kriminalität zahlenmäßig darzustellen, und als erklärende Wissen¬
schaft „soll sie das Problem der Kriminalität kausal stellen und lösen und
die Ätiologie des Verbrechens liefern“. Ein ebenso unentbehrliches Hand¬
werkzeug wie für die kriminalätiologische Forschung ist die Kriminal¬
statistik aber auch für die Kriminalsoziologie. Ihr soziologischer
Erkenntniswert wird von dem italienischen Kriminologen Enrico
F e r r i >5) durch folgendes, der medizinischen und Naturwissenschaft
entlehntes Beispiel in treffender Weise illustriert, wenn er von der Kriminal¬
statistik sagt: „Talchö la statistica criminale 6 alla soziologia criminale
ciö che l’istologia e alla biologia; indicando essa nelle condicioni elementi
individual! si plasma l’organismo colletivo le ragioni fondamentali del
delitto, come fenemeno soziale“ 16). Die Kriminalstatistik bietet ferner
wichtige Grundlagen für die Aufgaben der Kriminalpsychologie 17)
und anderer Teilgebiete der K r i m i n a 1 b i o 1 o g i e *6), wie sie endlich
einen nicht minderen Wert für die Schlüsse auf dem Gebiet der Sozial-
ethikiä), der Moralphilosophie, der Kulturgeschichte
und der Sozialpolitik20) darstellt.
Wie die gesamte Statistik, so strebt selbstverständlich auch die
Kriminalstatistik nach der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit unter strengster
Beobachtung des methodischen Grundprinzips: des Gesetzes der großen
Zahl 21), das auf unseren speziellen Fall angewandt, eine möglichst
lückenlose Erfassung der kriminellen Tatsachen und Erscheinungen voraus¬
setzt, worauf neuerdings erst K r u g 2l a) wieder nachdrücklich hingewiesen
hat. Es verlangt aber auch eine gewisse Gleichartigkeit der Erscheinungen.
Sofern die Statistik sich mit offenkundigen Vorgängen befassen kann,
ist eine erschöpfende Erfüllung ihrer Aufgaben möglich. Dagegen ist die
Kriminalstatistik im Hinblick auf ihren später noch näher zu erläuternden
sekundären Charakter nicht in der Lage, alle jene Gesetzesverletzungen
zu erfassen, die ungesühnt oder sogar unbekannt bleiben. Es dürften in
18) VgrI. „Sociologia criminale". Terza editione. Torino 1892. S. 204.
16) d._ h.: „Sie ist für die Soziologie, was die Histologie für die Biologie ist:
denn sie zeigt in den Zuständen der individuellen Elemente des (lesamtorganismus die
Faktoren des Verbrechens als einer soziologischen Erscheinung".
17) Vgl. H. W. G r u h 1 e . ,,Aufgaben der Kriminalpsychologie". Zeitschrift f. d.
gesamte Strafrechtswissenschaft. Berlin 1931. 61 Bd. S. 470 ff.
18) Vgl. F. E X n e r. ..Kriminalbioloirie". Hamburg 1939. S. 20.
IO) Vgl. A. von Oettingen. „Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine
Socialethik". Erlangen 1882. 3. Aufl. S. 449.
20) Vgl. P. F. A 8 c h r o 11 . „Erhebung und Verwertung statistischer Daten
auf dem Gebiete der Strafrechtsiiflege mit besonderer Rücksicht auf Deutschland". Zeit¬
schrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft. Berlin 1885. 6. Bd. S. 340.
21) Nach dem ,,Gesetz der großen Zahl", dem Fundament der statistischen Methode,
ergibt erst die Zusammenfassung sehr vieler Einzelfälle gewisse Regelmäßigkeiten und
charakteristische Werte, die sich bei Betrachtung nur weniger Einzelfälle nicht erkennen
lassen. Genauer: Alle statistischen Zählungen solcher Tatbestände und Vorgänge, die
sowohl von allgemeinen als auch von individuellen oder zufälligen Bedingungen abhängen,
führen solange zu annähernd gleichen Ergebnissen, als die allgemeinen Bedingungen des
Geschehens dieselben bleiben und die Zählung eine genügend große Anzahl von Einzel¬
fällen erfaßt. Dem Gesetz der großen Zahl, dessen Grundlagen Bernouili (vgl.
sein posthum 1713 erschienenes Werk ,,de arte conjectandi") gefunden hat, vertraut z. B.,
wer erwartet, daß eine Münze, wiederholt auf den Tisch geworfen, etwa ebenso oft Zahl
wie Adler ersehen läßt. Zu welchem Ergebnis der Einzelwurf führt, kann man im Voraus
nicht sagen. Auf die Dauer aber, so darf man erwarten, werden sich die Zufallseinflüsse aus-
gleichen und die Ergebnisse sich der aprlori-Wahrscheinlichkeit von M nähern. (Vgl.
hierzu z. B. O. Donner. ,,Statistik". Hamburg 1936. S. 13; ferner: P. Flas-
k ä m p e r . ,,Die Statistik und das Gesetz der großen Zahlen". Allgemeines Statistisches
Archiv. Jena 1927. 16. Bd. S. 601).
21a) Vgl. J. Krug. ,,60 Jahre Frauenkriminalität in Deutschland 1882—1932".
Staatawlssenschaftllehe Dissertation. München 1937. S. 1.
102
vielen Fällen aber gerade die gewiegtesten Verbrecher sein, die dem Auge
des Gesetzes — und damit auch der Statistik — zu entgehen wissen.
So verstehen es beispielsweise Erpresser, ihr dunkles Gewerbe lange Zeit
hindurch auszuüben, ohne mit den Gerichten in Konflikt zu kommen, wie
anderseits der geringste Teil der Diebstähle und Unterschlagungen etwa von
Hausangestellten zur gerichtlichen Aburteilung gelangt. Wie der bekannte
Kirchen- und Moralstatistiker K r o s e 22) zutreifend betont, beweisen
höhere Kriminalitätsziffem in einem bestimmten Jahr, einem bestimmten
Verwaltungsbezirk, einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zwar, daß mehr
Delikte entdeckt und abgeurteilt, aber noch nicht, daß mehr verübt wurden
als zu anderer Zeit und an anderem Ort. K o r h e r r 23) weist daher mit
Recht darauf hin, daß die Kriminalstatistik in weitem Maße nur eine
Erfolgsstatistik der Kriminalpolizei ist.
Damit komme ich zu der Frage der „Dunkelziffer“, einer erstmals
von dem japanischen Staatsanwalt Shigama Oba24) geprägten Be¬
griffsbezeichnung, unter der man alle im Dunkeln bleibenden kriminellen
Vorkommnisse, d. h. die Zahl der unbekannten Verbrechen bzw. unbekannten
Täter zu verstehen hat. Diese Dunkelziffer, die sich nur durch Schätzungen
— und auch das nur in gewissen Fällen — ermitteln läßt, ist nach der
langjährigen kriminalistischen Praxis bei den einzelnen strafrechtlichen
Tatbeständen z. T. recht verschieden groß. So sind Mord, Totschlag
und schwere Körperverletzung z. B. Verbrechen, die in der Regel kaum
unbemerkt bleiben können und bei denen allem Anschein nach der Prozent¬
satz der nicht zur gerichtlichen Aburteilung gelangenden relativ konstant
ist. Besonders gering ist die Dunkelziffer vor allem beim Widerstand
gegen die Staatsgewalt, da sich diese Straftat direkt unter den Augen
der Staatsgewalt vollzieht und sich gegen sie richtet. „Sie ist also nicht
bloß der Entdeckung und der Verfolgung sicher, es sind auch fast immer
zuverlässige Beweismittel für diese Delikte vorhanden“ 25). Andere Delikte
dagegen — in erster Linie schwerwiegenderen Charakters — wie Meii.eid,
Päderastie, Blutschande, Exhibitionismus, Kuppelei und sonstige der
Sexualsphäre angehörende Handlungen, vor allen Dingen aber Brand¬
stiftung und Abtreibung, für welche meist keine oder nur höchst unsichere
Beweismittel vorliegen, weisen eine besonders hohe Dunkelziffer auf. Über
das von der kriminalstatistischen Forschung bisher noch völlig vernach¬
lässigte Problem der Dunkelziffer ist nunmehr die an dieser Stelle schon
früher (vgl. Bl. f. Gfk. 71. Bd. S. 10) angekündigte Arbeit „Die unbestraften
Verbrechen. Eine Untersuchung über die sogenannte Dunkelziffer in der deut¬
schen Kriminalstatistik“ als Heft 47 der „Kriminalistischen Abhandlungen“
erschienen, deren instruktive Ergebnisse auch für den Strafvollzugsprak¬
tiker von großem Werte sind. Der Verfasser dieser Abhandlung, Leutnant
Dr. Kurt Meyer, hat ihren Erfolg nicht mehr erlebt; er ist am 30. Juni
1941 in den Kämpfen bei Bialystock für Führer und Reich gefallen.
Nach dem zu Beginn des vorangegangenen Abschnittes Gesagten liegt
es für die Kriminalstatistik also außerhalb des Bereichs der Möglichkeit,
den zahlenmäßigen Umfang der wirklich begangenen strafbaren
Handlungen zu ermitteln, die F e r r i 28) bei der Gliederung der
22) Vgl. Kirchliches Jahrbuch 1934. S. 114.
23) Vgl. ..Die Moralität der barerisrhen Bevölkerung". Zeitschrift des Bayerischen
Statistischen Landesamtes. München 1935. 67. Jg. S. 184.
24) Vgl. ..Unverbesserliche Verbrecher und ihre Behandlung". Berlin 1908. S. 28.
25) Vgl. Langer. ..Kriminalstatistik und Strafrechtsreform". Preußische Jahr¬
bücher. Berlin 1903. Bd. 133. S. 58.
26) Vgl. ..Studi r>i11b crimlnalitA in Francia dal 1826 al 1878". Anali dl Stalistica.
Roma. Serie 2a. Vol. 21. 1881 S. 163.
103
Kriminalität als „criminalitä reale“ bezeichnet. Als weitere Kriminalitäts¬
stufe unterscheidet er dann die „ criminalitä apparente“, d. h. die entdeck¬
ten, angezeigten oder auf sonstige Weise den staatlichen Behörden
bekanntgewordenen strafbaren Handlungen, deren Zahl in der Regel
durch die polizeiliche Anzeigenstatistik festgestellt wird, während die
dritte Gruppe — die „criminalitä legale“ — diejenigen Gesetzesver¬
letzungen umfaßt, die zu einer strafgerichtlichen Aburteilung, insbesondere
Verurteilung der Täter geführt haben und deren statistische Erfassung
durch die Kriminalstatistik im engeren Sinne erfolgt. Ihre Ergebnisse,
speziell über die Zählung der rechtskräftigen Verurteilungen — wie es
bei den Kriminalstatistiken der meisten Kulturstaaten geschieht — kann
man aber ohne Bedenken als Repräsentant der Kriminalität gelten lassen,
da nach einem Wort Georg von Mayrs in diesem .Fall „durch eine
feierliche bis zum Schluß durchgeführte Aktion der Strafrechtspflege in
objektiver und subjektiver Beziehung die Tatsache eines Einbruchs in die
Strafrechtsordnung festgestellt wird“ 27), Anderseits scheidet eine nicht
unerhebliche Zahl von strafbaren Handlungen, die zwar zur Kenntnis der
Gerichte gelangt sind, aus der Kriminalstatistik aus, wenn diese infolge
Zurücknahme des Strafantrages, Selbstmord, natürlichen Todes oder Flucht
des Angeklagten die Strafverfahren nicht zur rechtskräftigen Erledigung
bringen können.
Bei der Bestimmung der Kriminalitätsfrequenz werden in gewissem
Grade aber auch die Freisprechungen Berücksichtigung finden
müssen, weil sie durchaus nicht immer als Schuldloserklärungen anzusehen
sind 28). Stehen doch neben zahlreichen Freisprechungen wegen erwiesener
Unschuld noch mehr Freisprüche wegen Mangels an Beweisen. „Wie oft
liegt nicht die strafbare Handlung selbst klar zutage", schreibt hierzu Mül¬
ler (a. a. 0. S. 210), „aber es kann z. B. keiner der beiden Personen, die als
Mörder in Frage kommen, der Mord einwandfrei nachgewiesen werden,
oder es kann bei entgegengesetzter Aussage unter Eid nicht festgestellt
werden, wer von den beiden Eidespflichtigen den Meineid geleistet hat,
u. a. m., und es muß daher Freispruch erfolgen, trotzdem ganz zweifelsfrei
das zur Verhandlung stehende Verbrechen begangen worden ist“.
Die Zahl der kriminalstatistisch erfaßten Aburteilungen wiederum
wird durch Vorgänge mannigfacher Art beeinflußt, die mit der Kriminali¬
tät der Bevölkerung in gar keinem Zusammenhang stehen und ihre Ursache
in außermoralischen Gründen der verschiedensten Art haben. So ist
beispielsweise die Jahreszahl der Aburteilungen einerseits von dem Grad
der Neigung der Bevölkerung zu Anzeigen, Strafanträgen oder Priv’at-
klagen, bei denen in vielen Fällen die Kostenfrage eine entscheidende Rolle
spielt, d. h. von der „kriminellen Reizbarkeit“ (Seuffert) abhängig,
anderseits wird sie von der größeren oder geringeren Verfolgungsintensität
der Strafju.stizbehörden beeinflußt. Gibt doch H e i n d 129) unter Zitierung
eines kriminalstatistischen Gewährsmannes das Verhältni s der zur Aburteilung
gelangenden Verbrechen und Vergehen zu den tatsächlich verübten oder
versuchten Delikten für das erste Jahrzehnt nach dem Weltkrieg mit
schätzungsweise 1 :300 an; eine Quote, die im Hinblick auf das wohl noch
allzu gut bekannte, laxe Vorgehen der Polizei im Weimarer Staat keines¬
wegs verwunderlich erscheint. Da aber heute die Polizei gegenüber der
27) Vgl. „Wesen und Ziele der KriminalstatisUk". Jahrbücher für Kriminalpolitik
und Innere Mission. Halle a. S. 1895. Bd. I. S. 264.
28) Vgl. H. von Hentig. „Strafrecht und Auslese“. Berlin 1914. S. 146, 198.
29) Vgl. „Der Berufsverbrecher“. Berlin 1927. 5. Auflage. S. 220/221.
104
Systerazeit durch schärfstes Vorgehen wesentlich mehr Fälle ermittelt,
ja viele, noch aus den Jahren vor der Machtübernahme stammende Ver¬
brechenskomplexe mitunter erst jetzt aufgedeckt werden, ergpbt sich bei
gewissen Delikten zwangsläufig eine Erhöhung in der Verurteiltenzahl,
ohne daß eine tatsächliche Kriminalitätsverschlechterung auf diesen Ge¬
bieten eingetreten ist. Man spricht dann von einer unechten Kriminalitäts¬
steigerung in der Statistik.
Ein besonders typisches Beispiel hierfür ist die Abtreibung 30), die
nach den Ergebnissen der Reichskriminalstatistik in den meisten Jahren
nach der Machtübernahme weit höhere Verurteilungsziffem aufweist als
während der Systemregierung. Um aber diese zunächst etwas unverständ¬
liche Erscheinung richtig zu verstehen, müssen wir uns einmal in die Zeit
von 1932 und früher zurückversetzen. Wir werden uns dann erinnern,
daß damals die Abtreibung als verhältnismäßig leichtes Delikt angesehen
wurde und daß auch die Strafzumessungspraxis bei der Abtreibung äußerst
milde gehandhabt wurde. Sollten nun aber im nationalsozialistischen
Staat, in dem die Strafbestimmungen für Verbrechen gegen das keimende
Leben verschärft sind und die öffentliche Meinung sie verfemt, die Zahl
der Abtreibungen tatsächlich gestiegen sein? Mitnichten! Diese kriminal¬
statistische Steigerung bei der Abtreibung erklärt sich einzig und allein
daraus, daß die heutige ernste Betrachtung dieses Deliktes viele Personen
dazu veranlaßt, derartige Fälle unverzüglich zur Anzeige zu bringen,
die sich in früheren Jahren hierzu nicht entschlossen hätten, weil sie der
Auffassung sein mußten, Staat wie Behörden nähmen dieses Delikt leicht.
Daß aber die Zahl der Abtreibungen in Wirklichkeit zurückgegangen
sein muß, zeigt die seit 1933 festzustellende Abnahme der Fehlgeburten
auf Grund der seit kurzem aufgenommenen Reichsstatistik der Fehlgeburten
sowie die wesentliche Geburtenzunahme von 993 000 Lebendgeborenen im
Jahre 1932 auf 1,408 Millionen im Jahre 1939,
Auch die Schaffung neuer Strafgesetze oder die Er¬
weiterung krimineller Tatbestände einerseits, die Ein¬
schränkung der Strafgesetzgebung anderseits haben
naturgemäß — statistisch gesehen — oft eine erhebliche, aber unechte
Erhöhung oder Senkung der Kriminalitätszahlen zur Folge. Es versteht
sich eigentlich von selbst, daß im Netz der Strafgesetze, das umfang¬
reicher und engmaschiger geworden ist, eine Kriminalität entstehen muß,
die sich nicht aus dem gestiegenen Kriminalitätsgrad einer Bevölkerungs¬
schicht erklärt, sondern eben aus der gesteigerten Möglichkeit, eine
Gesetzesverletzung zu begehen (GleitzeSl)* Her Einfluß der Ver¬
mehrung der Verfehlungsmöglichkeiten auf das zahlenmäßige Kriminal-
tätsbild läßt sich — was deutsche Verhältnisse anbetrifft — allein schon
daraus erkennen, daß die Zahl der von der Reichskriminalstatistik er¬
faßten Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze von 142 Num¬
mern im Jahre 1882, dem Anfangsjahr der kriminalstatistischen Er¬
hebungen für das gesamte Reichsgebiet, auf 660 im letzten Jahr vor
Ausbruch des Weltkrieges und seitdem infolge der durch die jeweiligen
Zeitverhältnisse bedingten umfangreichen Strafgesetzgebung bis gegen¬
wärtig auf mehr als 1200 angewachsen ist. Zwei besonders charakte¬
ristische Beispiele für die Einschränkungen in der Zahl der Kriminellen
sind aus letzter Zeit einmal das Jugendgerichtsgesetz vom Jahre 1923,
30) Vgl. E. Roesner. ,,Dle kriminalpolitische und demographische Bedeutung
der Abtreibung im Spiegel der Statistik". Kriminalistische Monatshefte. Berlin. Jg. 1936,
Beilage zu den Heften VII/X.
31) Vgl. „Die Konjunkturkrlminalität". Stuttgart u. Berlin 1941. S. 6.
106
welches die untere Grenze des relativen Strafmündigkeitsalters vom
vollendeten 12. auf das 14. Lebensjahr heraufsetzte, sowie das Gaststätten¬
gesetz vom 28. 4. 1930. Da nach dessen Bestimmungen die Überschreitung
der Polizeistunde nicht mehr als ein Vergehen, sondern nur noch als
Übertretung geahndet wird, verschwand aus dem kriminalstatistischen
Zählungsbereich eine Deliktsart, die im Jahre 1927 noch über 50 000 Ver¬
urteilungen aufzuweisen hatte, denn Übertretungen werden von der
Kriminalstatistik nicht erfaßt. Ebenso führen Amnestien zu einer
mitunter wesentlichen Beeinträchtigung der kriminalstatistischen Ergeb¬
nisse, da durch solche Straffreiheitsgesetze eine nicht unbeträchtliche
Zahl von strafbaren Handlungen unabgeurteilt bleibt.
Neben der Schaffung und Gestaltung der Gesetze ist ihre Hand¬
habung, also vor allem die Gerichtspraxis, für die Zahlen der
Kriminalstatistik von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So wird nach
K o r h e r r 32) der Bauer als Geschworener über Eigentumsdelikte
schärfer urteilen als der Städter und dieser bei Delikten gegen die Person
wieder strenger als der Bauer. Auch die verschiedene Wertung der
Gesetze spielt hierbei eine wesentliche Rolle. So ist beispielsweise unter
dem Weimarer System das Gesetz zum Schutz der Republik in Bayern
nicht so scharf gehandhabt worden wie der Abtreibungsparagraph,
während es in Preußen und besonders dem einstmals roten Berlin um¬
gekehrt war, zwei Argumente, die bei einer retrospektiven Betrachtung
der kriminalstatistischen Zahlenreihen entsprechend zu beachten sind.
Weiterhin kann infolge gerichtsorganisatorischer Ma߬
nahmen eine Vermehrung der Verurteiltenzahl von einem zum andern
Jahr eintreten, wenn bei einem Gericht eine neue Strafkammer eingerichtet
wird, was vor allem bei regionalen Vergleichen ins Gewicht fällt. Es
ist in einem solchen Falle dann ganz naturgemäß, daß nunmehr vor dem
betreffenden Gericht im Laufe des Geschäftsjahres eine größere Anzahl
von Strafsachen zur Erledigung kommt, wodurch füglich auch die Zahl
der Verurteilten steigen muß. Hierauf hat Aschrott 33) seiner Zeit schon
hingewiesen. Die Erhöhung dieser Zahl ist dann nicht auf eine Steigerung
der Kriminalität in dem nämlichen Jahr zurückzuführen, vielmehr liegt
regelmäßig die Kriminalitätszunahme eine ganze Reihe von Jahren zurück;
sie ist es, die ein Anschwellen der Geschäftstätigkeit des Gerichts herbei¬
geführt hat, zu dessen Bewältigung dann die Errichtung der neuen
Strafkammer erfolgte. Die Bildung der neuen Kammer führt bei durchaus
gleichbleibender Kriminalität folglich dazu, daß bei dem Gericht die
Strafsachen schneller erledigt werden, und daß dadurch die Zahl der am
Jahresschluß unerledigten Sachen zurückgeht. Dies aber kann daim in
dem folgenden Jahr, in dem weniger Reste aufzuarbeiten sind, wieder
zur Folge haben, daß die Zahl der abgeurteilten Strafsachen und damit
die Zahl der Verurteilten geringer ist, ohne daß deshalb ein Kriminalitäts¬
rückgang vorzuliegen braucht.
Ebenso vermögen Schwankungen in dem Bevölke¬
rungsstand, z. B. durch Eintritt geburtenstarker oder geburten¬
schwacher Jahrgänge in das straf mündige Alter, auf das statistische
Entwicklungsbild der Straffälligkeit von Einfluß zu sein. So kann bei
einer Zunahme in der Verurteiltenzahl — sagen wir einmal beim Dieb¬
stahl — nur dann von einer Verstärkung der Diebstahlskriminalität die
32) a. a. O. S. 184.
33) Vgl. ,.Dreißig Jahre deutscher Kriminalstatistik“. Zeitschrift f. d. gesamte
Strafrechtswissenschaft. Berlin 1913/14. 8S. Bd. S. 611.
106
Rede sein, wenn die straffähige Bevölkerung nicht im gleichen Verhältnis
zugenommen hat, umgekehrt kann bei einer Verminderung in der Zahl
der verurteilten Spitzbuben nicht von einem Nachlassen ihrer kriminellen
Betätigung gesprochen werden, wenn die Bevölkerungszahl entsprechend
gesunken ist.
Ein zuverlässiger und brauchbarer Gradmesser für die tatsächlichen
kriminalistischen Verhältnisse läßt sich daher nur durch die Berechnung der
sogenannten „Kriminalitätsziffer“ finden, indem man die für
einen begrenzten Zeitabschnitt ermittelte Tätermasse zu einer bestimmten
Anzahl (üblicherweise 100 000) der Bevölkerung in Beziehung setzt. Die
gebräuchlichste Kriminalitätsziffer stellt der Vergleich der Kriminellen
zu den Kriminalfähigen dar, d. h. das Verhältnis der Verurteilten zur
jeweiligen strafmündigen Zivilbevölkerung.
Alle diese und auch noch andere Faktoren, auf die hier nicht näher
eingegangen werden soll, weil sie z. T. auch nur akuter Art sind und sich
aus den jeweiligen Zeitumständen, wie z. B. dem Weltkrieg 34) und auch
dem jetzigen Kriegers) ergeben, müssen aber bei der Wertung und Be¬
urteilung der durch die Kriminalstatistik ermittelten Gesamtergebnisse
wie auch der Einzeldelikte entsprechend berücksichtigt werden.
Wenn also das — einst von einem Kriminalisten geprägte — Wort:
„Die Statistik ist eine gefährliche Wissenschaft“ irgendwie Geltung hat,
dann gilt es aus den besagten Gründen besonders für die Kriminalstatistik.
Trotz dieser Vorbehalte und Schwierigkeiten, die notabene mehr oder
weniger jeder Statistik anhaften, ist der Erkenntniswert der Kriminal¬
statistik von namhaften Vertretern der kriminologischen Wissenschaft
und Praxis immer und immer wieder betont worden. So sprechen ihr —
um nur einige Beispiele zu nennen — Aschrott 36) und vonWeber37)
einen symptomatischen Charaker zu, während Georg von Mayr38) der
Deliktsstatistik als Massenerscheinung sogar „repräsentative“ Bedeutung
beilegt, wie überhaupt die Kriminalstatistik nach Grävell39) für die
Anwendung der sogenannten „repräsentativen Methode“, welche die Durch¬
führung nicht aller, aber doch vieler Einzelfälle vorsieht, mithin eine ab¬
gekürzte statistische Erhebung und Aufbereitung voraussetzt, ein sehr
erfolgreiches Forschungsfeld darstellt. Zudem sind die Zahlen der Krimi¬
nalstatistik im allgemeinen wie auch im besonderen doch durchweg recht
groß und gestatten bei der erforderlichen Vorsicht und Kritik immerhin
Schlüsse, deren Allgemeingültigkeit sich durchaus erwiesen hat. Und
wenn sich aus den absoluten Zahlen auch nicht alles herauslesen läßt,
wollen wir in Anbetracht der schon erwähnten vielseitigen Aufgaben der
Kriminalstatistik auf den Gewinn verzichten, den das große und viel¬
seitige Forschungsgebiet der Kriminologie aus ihnen ziehen kann? Aller-
31) Vgl. F. Zahn. ..KrieKskriminalität“. Sehmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. München, Leipzig. 192'1. 47. Jg.
S. 243.
35) Vgl. E. R o e s n e r . ,,Krieg und Kriminalität im Spiegel der Statistik".
Blätter für Gefängniskunde. 71. Bd. 1940. 1. u. 2. Heft. S. 3 (T. — Derselbe: ,.Die Krimi¬
nalität im Deutschen Reich im ersten Kriegsjahr 1939". Deutsche Justiz 19ri. 103. Jg.
Nr. 12. S. 379.
36) a. a. O. S. 523.
37) Vgl. ,,Kriminalsoziologlsche Einzclforschungen". Untersuchungen zur Krimi¬
nalität in Deutschland. Jena 1939. Heft 1. S. 7.
38) Vgl. ,.KrimlnaIstatlstik und >Kriminalätiologie<". Monatsschrift für Kriminal-
psychologie und Strafrechtsreform. Heidelberg 1911/12. 8. Jg. S. 335.
39) Vgl. „DierepräsentativeMethode". Deutsches Statistisches Zentralblatt. Leipzigl923.
16. Jg. S. 12; ferner E. Hacker. ,,Dle Anwendung der repräsentativen Methode in
der Kriminalätiologie”. Leipzig 1932. 24. Jg. Spalte 185 ff.
107
dings lehren die — oftmals in einer Fülle von Tabellen zusammengestellten
— den Nichtfachmann nur allzu nüchtern anmutenden, toten Zahlen nicht
viel. Sie gewinnen vielmehr erst dann LAen, wenn man den Zahlennach¬
weisungen eingehende textliche Erläuterungen ^0) beifügt, die neben einer
Beschreibung der kriminalstatistischen Methode noch über besondere,
während der jeweiligen Berichtsperioäe eingetretene Änderungen in der
materiellen wie verfahrensrechtlichen Strafgesetzgebung, desgleichen in
der Polizeiorganisation berichten und außerdem über Umstände speziell
politischer oder wirtschaftlicher Art, die das Kriminalitätsbild im Zählungs¬
zeitraum zu beeinflussen geeignet sind, Aufschluß geben. Eine derartige
Beigabe interpretierender Bemerkungen, wie das in der Kriminalstatistik
des Deutschen Reichs im Gegensatz zu den meisten Kriminalstatistiken
des Auslandes schon seit vielen Jahren geschieht, erweist sich um so
notwendiger, da die nackten Zahlen nach einem bildlichen Vergleich des
französischen Kriminologen T a r d e mit der Eigenart der orientalischen
Sprachen nur die Konsonanten der kriminalstatistischen Arbeit darstellen
und diese erst durch Vokale, d. h. durch eingehende deskriptive Erläute¬
rungen zu siimgemäßen und verständlichen Wortgebilden ausgefüllt werden
müßten.
Ich glaube, damit — wenigstens in der großen Linie — einen allge¬
meinen Einblick in das Wesen und die Forschungsziele der kriminal¬
statistischen Wissenschaft vermittelt zu haben, und komme nunmehr zu dem
speziellen Teil meiner Darlegungen, der Grundlage und Technik der amt¬
lichen deutschen Kriminalstatistik und den verschiedenen Möglichkeiten
ihrer wissenschaftlichen Ausbeutung.
2. Grundlage und Technik der Reichskriminalstatistik
Mit Ablauf dieses Jahres sind es genau 60 Jahre 42) her, daß
eine Kriminalstatistik für das gesamte Deutsche
Reich bearbeitet wird, denn durch § 563 der Bundesratsprotokolle vom
5. Dezember 1881 wurde die „Herstellung einer Statistik der rechtskräftig
erledigten Strafsachen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichs¬
gesetze“ beschlossen. Die Durchführung dieser Statistik wurde der
statistischen Zentralbehörde des Deutschen Reichs, dem damaligen Kaiser¬
lichen Statistischen Amt, dem jetzigen Statistischen Reichsamt, übertragen.
Ihre Bearbeitung ist seitdem Jahr für Jahr im großen und ganzen zwar
nach derselben Methode fortgesetzt worden, wobei sich allerdings die
40) Vgl. hierzu E. Schäfer. „Directives pour l'elaboration des statistlque»
criminelles dans les divers pays". Rapport au nom de la Commission mixte constltu^e par
■'Institut International de Statistique et la Commission Internationale Fenale et Pdniten-
tiaire. Revue de 1‘Institut International de Statistique. Berne. Jg. 1936. S. 195 tf.
41) Vgl. I. R. B. de R o o s. ..Consonnes et voyelles". BiiileUn de l’Institut
International de Statistique. 1928. XXIII, 2. S. 1.
42) Vgl. G. Lindenberg. ..Die Ergebnisse der deutschen Kriminalst.atistik
1882—1892". Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Jena 1894. III. Folge.
8. Bd. S. 688 IT. — H. von Scheel. ..Die Ergebnis.se der deutschen Kriminalstatistik
1882—1899". Ebenda 1901. III. Folge. 22. Bd. S. 123. — P. Frauenstaedt.
..Zwanzig Jahre Kriminalstatistik". Zeitschrift für Sozialwissenscbaft. Berlin 1905.
VIII. Jg. S. 346 ff. — K. Krüger. ..Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen
Reich 1882—1910". Jahrbücher der Nationalökonomie und Statistik. 1914. 102. Bd. S. 668.
— H. Seuffert, ..Die Bewegung im Strafrechte während der letzten dreißig Jahre“.
Dresden 1901. — Asch rott. ..Dreißig Jahre deutscher Kriminalstatistik". Zeitschrift
f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft. Berlin 1913/14. 35. Bd. S. 507 ff. — ..Die Ent¬
wicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882". Anlage 11 zum Entwurf eines
allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs. Drucksachen des Reichstags. III 1924/27 Nr.339o
sowie Bd. 370 der Statisük des Deutschen Reichs. S. 31 ff. — E. R o e s n e r. „Fünfzig
Jahre deutsche Kriminalstatistik". Allgemeines Statistisches Archiv. Jena 1934. 23. Bd.
S. 843 ff.
108
Aufgaben im Laufe der Zeit wesentlich vermehrt haben, so daß durch das
hierbei erstellte riesige Zahlenmaterial bereits eine stattliche Reihe von
dickleibigen Folianten angefüllt* worden ist.
Durch diese — vor nunmehr sechs Dezennien getroffene — Ma߬
nahme wurde die Loslösung der Kriminalstatistik von der bisherigen
allgemeinen Verwaltungsstatistik der Justizbehörden, im besonderen von
der im Reichsjustizamt geführten ,Justizgeschäftsstatistik“ vollzogen.
Die Reichsstatistik war mit diesem Schritt dem Muster der Preußischen
Statistik gefolgt, deren damaligem Leiter Emst Engel das große Ver¬
dienst zukommt, daß er mit der Bearbeitung der ,Josgelösten“ ^3) Statistik
für ^as Jahr 1881 ^4) den Anfang zur Verselbständigung der Kriminal¬
statistik gemacht hat.
Die deutsche Kriminalstatistik ist ihrem Gegenstände nach
eine Statistik der Abgeurteilten, denn sie zählt die An¬
geklagten, gegen die in dem jeweiligen Berichtszeitraum ein bei einem
deutschen Gericht anhängiges Strafverfahren durch Verurteilung, Frei¬
sprechung oder Einstellung des Verfahrens rechtskräftig erledigt worden
ist. Das Verfahren muß sich grundsätzlich auf ein Verbrechen oder Ver¬
gehen gegen Reichsgesetze beziehen. Alle Landesgesetze, ebenso die
Übertretungen bleiben sonach außer Betracht. Eine Ausnahme von den
letzteren machen seit 1934 diejenigen Übertretungen, in denen die Unter¬
bringung des Angeklagten gemäß § 42 d RStGB. in einem Arbeitshaus
rechtskräftig angeordnet worden ist; diese Fälle werden vom 1. Januar 1934
kriminalstatistisch miterfaßt.
Wenn wir nun einmal eine Zeitung, z. B. die Abendausgabe des „Ber¬
liner Lokalanzeigers“ vom 9. Januar 1941 aufschlagen, so ersehen wir
aus einem Artikel, daß im Jahre 1939 nach den Feststellungen der Reichs¬
kriminalstatistik die Zahl der im Deutschen Reich wegen Verbrechen und
Vergehen gegen Reichsgesetze rechtskräftig verurteilten Personen sich
auf rund 335 000 beziffert und damit um 12 % niedriger ist als im Vorjahr,
und daß weiterhin die schweren Delikte gegenüber dem letzten Jahr vor
der Machtübernahme unter dem Einfluß des nationalsozialistischen
Kampfes gegen das Verbrechertum um über 60 % zurückgegangen sind.
Der geschätzte Leser wird das seinerzeit sicherlich mit Befriedigung auf¬
genommen haben, sich aber unter dem Eindruck der für ihn zweifellos
meist wohl weit interessanteren zahlreichen politischen Tagesfragen und
der Schnellebigkeit der heutigen Zeit kaum Gedanken gemacht haben,
wie eigentlich diese ihm in seinem Blatt gebotenen kriminalstatistischen
Zahlen zustande gekommen sind, vor allem aber, welche Mühe und welchen
Arbeitsaufwand — von der finanziellen Seite ganz abgesehen — es ge-
kof5tet hat, bis sie zur Veröffentlichung reif waren.
4.^) Unter einer ..losgelösten“ oder ..aiisgelösten" Statistik versteht man diejenige
amtliche Statistik, die von einer selbständigen statistischen Behörde ausgeführt wird.
In Deutschland z. B. die HandelsstatisÜk, die Statistik der Bevölkenmgsbewegung (d. h.
EheschlieOungen, Geburten und Sterbefälle) und auch seit 1882 die Kriminalstatistik.
Im Gegensatz zur ausgelösten Statistik wird die nichtausgelöste Statistik von
einer nichtstatistischen Behörde nebenbei geführt, z, B. die Poststatistik vom Reichspost¬
ministerium, die Patentstatistik vom Reichspatentamt.
44) Vgl. Allgemeine Verfügung vom 22. Dezember 1880 — betreffend die Herstellung
einer Statistik der Strafrechtspflege — (Justiz-Ministerialblatt 1880. S. 337) sowie ,,Die
Ergebnisse der Strafrechtspflege im Königreiche Preußen". XIV. Ergänzungsheft sui
Zeitschrift des Kgl. Freuß. Statistischen Bureaus. Berlin 1883.
109
Es erscheint daher angezeigt, einen — wenn auch nur kurzen — Ein¬
blick in die Technik und Werkstatt der deutschen Kriminalstatistik
zu vermitteln.
Hierbei entsteht zunächst die berechtigte Frage nach der Gewin¬
nung des Urmaterials. Sie erfolgt in ihrer ersten Phase
durch Zählkarten, die von der Strafvollstreckungsbehörde für jede einzelne
— innerhalb des jeweiligen Berichtsjahrs — rechtskräftig abgeurteilte Per¬
son auf Grund der Aufzeichnungen in den Strafakten ausgestellt werden.
Dieser Erhebungsmodus bringt den Vorteil mit sich, daß eine solche — nach¬
stehend abgebildete — Zählkarte für Angeklagte durch die Feststellung der
Art der strafbaren Handlung und der deswegen erkannten Strafe einerseits,
ihre individuellen und sozialen Merkmale anderseits zunächst einmal auch dem
Nichtfachmann ein Miniaturbild von dem Charakter und der Schwere des
jeweiligen Verbrechens oder Vergehens, sowie der Person des Täters ver¬
mittelt, aus der aber im speziellen die bearbeitende statistische Behörde
sowie der zuständige Sachbearbeiter nach Bedarf entnehmen kann, was
im Hinblick auf das kriminalstatistische Forschungsziel aus der Fülle der
Daten für die Auswertung notwendig erscheint; d. h., daß unter Umständen
bei der Zusammenstellung der Angaben alles fortfallen kann, was im
Augenblick für unwesentlich erachtet wird, umgekehrt aber die tabel¬
larische Aufbereitung so durchgeführt werden kann, wie es dem Zweck der
Arbeit am meisten entspricht.
Diese in einem Monat ausgefüllten Zählkarten über die bei den zur
Zeit im Altreichsgebiet vorhandenen 1 666 Amtsgerichten und 155 Land¬
gerichten anhängig gewesenen Strafsachen werden bei den Staatsanwalt¬
schaften der Landgerichte gesammelt und von diesen monatlich direkt an
das Statistische Reichsamt eingesandt. Da hierdurch die Bearbeitung der
Kriminalstatistik, und zwar schon seit ihrem Beginn im Jahre 1882,
zentralisiert ist, handelt es sich bei ihr im Rahmen der Organisation der
amtlichen Statistik um eine unmittelbare Reichsstatistik, die damit
zu den ältesten amtlichen Statistiken dieser Art gehört. Und da sich
weiterhin — wie eben erwähnt — die Gewinnung des kriminalstatistischen
Zählkartenmaterials auf Aktenaufzeichnungen stützt, die in allererster
Linie im Interesse der Rechtspflege und der Rechtspolitik, nicht aber der
Statistik halber erfolgen, die kriminalstatistischen Feststellungen sich also
nur auf vorangegangene, aktenmäßige Vorgänge aufbauen, so ist die Krimi¬
nalstatistik, wie vorhin schon angedeutet wurde, eine sekundäre Sta¬
tistik, ebenso wie beispielsweise auch die Statistik der Bevölkerungsbe¬
wegung, die ihre Unterlagen über die Zahl der Geburten, Eheschließungen
und Sterbefälle erst aus den Aufzeichnungen der Standesämter erhält.
Eine Statistik wird dagegen als primäre bezeichnet, wenn Feststellungen
sozialer Massentatsachen aus statistischem Selbstzweck und unmittelbar
von der statistischen Behörde aus vorgenommen werden. Das ist z. B.
bei der Volks- und Berufszählung der Fall.
Die deutsche Kriminalstatistik ist somit ihrer Form
nach eine ausgelöste, unmittelbare, sekundäre Reichs¬
statistik 46).
45) VkI. H. von Scheel. ..Zur Technik der KriminalBtatietik in Deutnchiand und
Italien". Alliremeines StatietischeB Archiv. TübinKen 1890 u. 1891. 1. Jir. S. 468 ff. —
E. Roesner. ..Fünfzig Jahre deutache Kriminalstatistik". Ebenda. Jena 1984. 25. Bd.,
insbesondere S. 354 ff.
40) Vgl. F. i i i e k. „Grundriß der Statistik". München und Leipzig 1923. S. 287.
110
Wir kommen nun zum zweitenArbeitsgang. Das beim Stati¬
stischen Reichsamt von den Justizbehörden eingegangene Zählkartenmate¬
rial, das sich in den letzten Jahren auf durchschnittlich 400 000 bis 600 000
Formulare belief, im Hauptinflationsjahr 1923 mit der bisher
beobachteten stärksten Kriminalität weit über eine Million Karten um¬
faßte, wurde seit der Inangriffnahme der Kriminalstatistik (1882) bis
zum Jahre 1935 ausschließlich im sogenannten manuellen Ver¬
fahren bearbeitet. Im näheren will das besagen, daß sowohl die Aus¬
zeichnung der einzelnen Zählkartenangaben nach bestimmten Kennziffern
oder Kennworten wie auch die Auszählung und anschließende Konzentra¬
tion der Einzelergebnisse und der Gesamtsumme nur durch Hand¬
arbeit erfolgte. Vom Jahre 1936 ab wird jedoch nach der AV. des
Reichsministers der Justiz vom 18. Dezember 1935 (II a 1457) — Deutsche
Justiz S. 1867 — zum Zwecke einer schnelleren Feststellung der kriminalstati¬
stischen Ergebnisse, und zwar nicht mehr nur für das ganze Jahr, sondern
auch für die einzelnen Vierteljahre das Zählkartenmaterial im
elektrisch-maschinellen Lochkartenverfahren47) nach
dem auf amerikanischen Patenten beruhenden äußerst komplizierten „Hol¬
lerithsystem“ 48) aufbereitet, das wie andere Verfahren ähnlicher Art
(z. B. Power) zweckmäßig dort seine Anwendung findet, wo es darauf
ankommt, große Mengen von Erhebungseinheiten, insbesondere bei stati¬
stischen Arbeiten in möglichst kurzer Zeit aufzuarbeiten.
So wurde z. B. die vorletzte Volkszählung für Preußen im Jahre 1933,
die rund 41 Mill. Lochkarten umfaßte, innerhalb von 10 Monaten von Be¬
ginn der Ablochung fertiggestellt.
Im Statistischen Reichsamt 49) werden an größeren Erhebungen die
Handelsstatistik, die verschiedenen Finanz- und Steuerstatistiken mit rund
84 Mill. Lochkarten, von denen auf die Lohnsteuerstatistik allein 25 Mill.,
auf die Einkommensteuerstatistik 16 Mill. entfallen, sowie auch eine
ganze Reihe kleinerer Erhebungen, unter diesen neuerdings auch die Krimi¬
nalstatistik, nach dieser Methode bearbeitet. Kleinere Erhebungen wie
die letztere bringen insbesondere dann Vorteile gegenüber dem obener¬
wähnten manuellen Verfahren, wenn die Erhebungseinheiten nach ver¬
schiedenen Gesichtspunkten oder die Erhebungsmerkmale nach mehrfachen
Kombinationen, wie z. B. Geschlecht und Vorbestrafungen der Verurteilten
kombiniert mit ihrem Alter oder Familienstand ausgewertet werden müssen.
Da wohl angenommen werden darf, daß ebenso wie in der Allgemein¬
heit auch in dem Leserkreis der „Blätter für Gefängniskunde“ kaum eine
be-stimmte Vorstellung über die Art der maschinellen Aufarbeitung, in
concreto der Kriminalstatistik, herrscht, erscheint es gerechtfertigt, das
Grundprinzip des Lochkartenverfahrens und seine verschiedenen technischen
Vorgänge nachstehend etwas näher aufzuzeigen.
47) VkI. u.a. A. Madie. „Die Maschinenverwendung in der Statistik“. Die
Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. Herausgegeben von F. Burg-
d ö r f e r. Berlin 1940. Bd. I. S. 137. — Ferner: P. Q u a n t e. ..Die Erfahrungen mit
elektrischen Zählmaschinen ln Preußen bei der Volks- und Berufszählung vom
16. Juni 1925”. Allgemeines Statistisches Archiv. Jena 1930. 20. Jg. S. 82 ff. —
A. Busch. ..Zur Frage der Verwendung von Lochkartenraaschinen". Ebenda S. 260. —
Ph. Schwartz. ..Zur Frage der Anwendbarkeit der mechanischen Auszählung bei
statistischen Erhebungen“. Ebenda S. 266.
48) Der Erfinder und erste Konstrukteur brauchbarer Lochkai-tenmaschinen war der
Deutsch-Amerikaner Dr. Hermann Hollerith; seine Vorfahren stammen aus der Pfalz.
49) Vgl. F. B i e h I c r . ..Das Hollerithverfahren. Sein Einsatz im Statistischen
Reichsamt". Nationalsozialistische Beamtenzeitung. Der Deutsche Verwaltungsbeamte.
7. Jg. Nr. 10 vom 16. Mal 1938. S. 326.
111
Unter dem Lochkartenverfahren versteht man die Über¬
tragung von Zahlen der Erhebungspapiere, im speziellen also von
den Zählkarten für Angeklagte, auf Lochkarten und ihre Aus¬
wertung mit Hilfe von besonderen, für diese Zwecke konstruierten
Maschinen. Voraussetzung hierfür ist jedoch zunächst die handschriftliche
Umwandlung der verschiedenen Zählkartenangaben in — nach einem
bestimmten Plan festgelegte — Schlüsselzahlen. An Stelle dieser Schlüssel¬
zahlen treten Lochungen, die mit einer Lochmaschine vorgenommen werden.
Daher die Bezeichnung Lochkarte, die aus dem noch heute beim Legever¬
fahren ^O) verwendeten Zählblättchen 5*) für statistische Aufbereitungen
hervorgegangen ist. Diese Karten lassen sich nach bestimmten Begriffen
ordnen, wozu die Sortiermaschine dient, sodann auszählen bzw. aufrechnen,
was mit Hilfe der Tabelliermaschine erfolgt.
Das Lochkartenverfahren setzt sich mithin aus drei verschiede¬
nen Elementen zusammen und zwar:
1. aus der Lochkarte,
2. der Sortiermaschine und
3. Tabelliermaschine.
Das Grundelement, die Lochkarte, besteht aus einem besonderen,
elektrisch nicht leitfähigen, steifen Blatt von bestimmter Stärke und Größe,
in das mit Hilfe einer — meist magnetischen — Lochmaschine alle Er¬
hebungsmerkmale der betreffenden Statistik vorwiegend in Zahlen —
seltener in Buchstaben — niedergeschrieben, d. h. die Löcher in die Karte
gestanzt werden. Die Lochkarte zeigt 60 oder 80 Längsspalten, von
denen jede in die Zahlenreihe 0—9 geteilt ist. Jede Zahl bedeutet eine
Lochstelle. Mehrere Längsspalten werden jeweils zu einem Lochfeld
zusammengefaßt, dessen Bedeutung im Kartenkopf vorgeschrieben werden
kann. Das ist aus dem Muster der auf S. 112 abgedruckten kriminal¬
statistischen Lochkarte zu ersehen, deren Lochungen den Angaben der
Zählkarte für Angeklagte auf S. 113/114 entsprechen. Man vergleiche
hierbei die einzelnen Lochungen mit den Schlüsselzahlen in der rechten
Spalte, insbesondere der Vorderseite der Zählkarte. Wenn die im Auf¬
bereitungsverfahren zeitlich der Ausfertigung der Zählkarte folgende
Lochkarte der ersteren hier vorangestellt worden ist, geschah dies lediglich
zur Vereinfachung der Vergleichsmöglichkeiten beider Formulare.
Die in die Lochfelder gestanzten Angaben lassen sich in zwei Gruppen
unterscheiden:
a) Ordnungsfelder, nach denen die Karten zu ordnen (sor¬
tieren) sind, und
b) Addierfelder, deren Angaben aufzurechnen (tabellieren)
sind.
Die gelochten Karten werden anschließend durch die Sortier¬
maschine in die gewünschte Ordnung gebracht, d. h. nach Feldern
sortiert, welche den für die Gruppierung der statistischen Erhebungs¬
merkmale jew'eils gewählten Gesichtspunkt enthalten. Bei diesem tech¬
nischen Vorgang gleiten die Karten aus einem Magazin der Sortiermaschine
50) Das Lepreverfahren ist das bei der statistischen Aufbereitung am häufigsten
angewendete Bearbeitungsverfahren, bei dem das Erhebungsmaterial nach den gewünschten
Gruppen auseinandergelegt (,,sortiert") und die einzelnen Päckchen gezählt werden.
51) Zählblättchen nennt man die beim Legeverfahren (s. vorstehende Anmerkung)
in vielen Fällen nötigen Formulare. Auf ihnen werden alle für die Bearbeitung wichtigen
Angaben der ursprünglichen Erhebungsformulare fcstgehalten. und zwar meist, um die
Schreibarbeit zu verringern, in abgekürzter Form und — im Fall, daß eine Auszeichnung
des Erhebungsmaterials stattgefunden hat — unter Verwendung der betreffenden Sig¬
naturen (Buchstaben oder Ziffern),
112
113
Muster einer kriminalstatistisdien Zählkarte
Originalgröße Din A 4 (21 cm X 297 cm).
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6t(9'B. on^uführen. Snjulüljren finb oueb Im ^Ue ihrer Sniotnbung ble §§ 2a. 27a. 51 Sb(. 2.
b 58 Sbf. 2 Bei SbeaKourartens <§ Ts 6t®B) Ifi nur bo» angeiDenbete 6trofgefei(, bei
arairantorren) (§§ 74tt. 6i(BB 1 nur bie mit ber fditoerflen Etrofe bcbrobie ü^onblung anjugeben.
9fl ber Sngrfloglc nc<b § 30a 6i(3B a(» ein gefäbrlicber (Benobnt)«lieDerbred)er oervitclU »orben,
(o Ift S onjutübren (BigebenenfaUft Ift oud) bir BO. }um gegen iugenb(id)i 6i0a>er*
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Rüdiseite der kriminalstatistisdien Zählkarte
115
automatisch an einer Kontaktbürste vorbei, die auf die gewählte Sortier¬
spalte eingestellt ist. Sobald die Bürste ein Loch trifft, schließt sich ein
Stromkreis und öffnet gleichzeitig den Weg zu demjenigen Kartenfach,
das dem Ziffemwert des Loches in dieser Spalte entspricht. Die Karten
müssen die Maschine so oft durchlaufen, wie das Feld, nach dem sortiert
werden soll, Spalten besitzt. Sie sind dann der Reihe nach geordnet. Die
Zahl der einzelnen Sortierungen beläuft sich bei der Kriminalstatistik z. Z.
auf 3,5 Mill. Kartendurchgänge. Die Stundenleistung der Sortier¬
maschine beträgt 16 000 bis 24 000 Karten.
In dem dritten und letzten maschinellen Arbeitsgang werden
dann die sortierten Karten durch die schreibende Tabelliermaschine
geschickt, die durch entsprechende Schaltung die gewünschte Rechenarbeit
ausführt und die Ergebnisse nebst der Bezeichnung des betreffenden
Ordnungsbegriffes in der Schlüsselsprache, also in Zahlen nieder schreibt.
Die Karten können einzeln abgeschrieben werden, und zwar mit oder
ohne Addition der in den Rechenfeldem abgelochten Werte. Die Stunden¬
leistung der Tabelliermaschine beträgt in diesem Falle etwa 4 500 Karten
einer Gruppe. Interessieren dagegen nur die Endsummen von Karten¬
gruppen, so können im sogenannten Sammelgang rund 9 000 Karten einer
Gruppe in der Stunde ausgewertet werden.
Für die maschinelle Aufbereitung des kriminalstatistischen Zählkarten¬
materials beispielsweise aus dem ganzen Jahr 1940 waren 10,4 Mill. Sor¬
tiergänge und 2,8 Mill. Durchgänge durch die Tabelliermaschine erforderlich.
Den Beschluß des technischen Teils der Aufbereitung
bildet die Übertragung der Auszählungsergebnisse, die durch die Tabellier¬
maschine auf sogenannte „Rechen“- oder „Lesebänder“ geschrieben werden,
auf vorgeschriebene Tabellenformulare und die Konzentration der Ergeb¬
nisse, d. h. ihre Zusammenziehung nach bestimmten statistischen Ober¬
begriffen, z. B. Altersgruppen der Verurteilten, Deliktsgattungen, Summe
der Verbrechen und Vergehen gegen das Strafgesetzbuch einerseits, sonstige
Reichsgesetze anderseits u. ä.
Die so gewonnenen Angaben werden in dem kriminalstatistischen
Tabellenwerk dargestellt, das sich aus einer Reihe von Haupttabellen
zusammensetzt. Einige von diesen mit zahlreichen Kombinationen von
Erhebungsmerkmalen der Verurteilten wde Geschlecht, jugendliches Alter,
Vorstrafen, die einzelnen Strafarten und Maßregeln der Sicherung und
Besserung werden nach dem sogenannten „Ausführlichen Verzeichnis der
von der Kriminalstatistik erfaßten strafbaren Handlungen gegen Reichs¬
gesetze“ aufgestellt. Es umfaßt gegenwärtig 1 200 Verbrechen und Ver¬
gehen gegen Reichsgesetze, deren Zahl erklärlicherweise von der jeweiligen
Ausweitung oder Einschränkung der Strafgesetzgebung in starkem Maße
abhängig ist. Die Aufstellung anderer Tabellen wiederum, die über das
Alter, den Familienstand, die Religionszugehörigkeit der Verurteilten sowie
über ihren Beruf zur Zeit der Tat unterrichten, geschieht nach dem „Ab¬
gekürzten Verzeichnis der von der Kriminalstatistik erfaßten strafbaren
Handlungen gegen Reichsgesetze.“ In ihm sind Gruppen von artgleichen
strafbaren Handlungen jeweils unter einer Nummer vereinigt. Dadurch
werden die schon genannten 1 200 Nummern und Untemummem des „Aus¬
führlichen Verzeichnisses“ in 95 Deliktsgruppen eingeordnet. So zählte
im letzten Jahr vor dem Weltkrieg dieses Verzeichnis — wie oben schon
erwähnt wurde — nur 550 Tatbestände, im Anfangsjahr der Kriminal¬
statistik, also 1882, sogar bloß 142 Positionen.
2 »
116
Die Veröffentlichung der kriminalstatistischen Vierteljahres¬
ergebnisse sowie auch der vorläufigen Jahresergebnisse geschieht zunächst
in der vom Statistischen Reichsamt herausgegebenen Halbmonatszeit¬
schrift „Wirtschaft und Statistik“, die Publikation der ausführlichen und
endgrültigen Jahresergebnisse in Gestalt eines umfangreichen Tabellenwerkes
unter Beigabe eingehender textlicher Erläuterungen und instruktiver g^ra-
phischer Schaubilder in dem amtlichen Quellenwerk „Statistik des Deutschen
Reichs“, das seit geraumer Zeit anhangsweise auch statistisches Material
über die Kriminalität im europäischen wie außereuropäischen Ausland oder
periodische Sonderuntersuchungen z. B. auf dem Gebiete der Mordstatistik
sowie jeweils die neusten Jahresergebnisse der „Auslieferungsstatistik“
enthält.
3. Die Nutzbarmachung der Reichskriminalstatistik.
Nach dieser technisch-informatorischen Exkursion in die Werk¬
statt der Kriminalstatistik möchte ich nunmehr in dem dritten und
letzten Kapitel meines Berichtes noch auf die praktische Seite
meines Themas, d. h. auf die Verw’ertung der kriminalstati¬
stischen Daten zu sprechen kommen.
Da nach meinen einführenden Darlegungen die Feststellung der Zahl
der begangenen strafbaren Handlungen und ihrer Täter Aufgabe der
Kriminalstatistik ist, ermöglichen ihre Ergebnisse einmal die Erkenntnis
von dem Umfang und der Struktur der Straffälligkeit in einem bestimmten
Jahr, anderseits die Beobachtung der Kriminalitätsschwankungen während
einer längeren Zeitstrecke. Ich könnte daher aus dem mir zur Verfügung
stehenden unermesslichen Zahlenmaterial ohne weiteres, wenn auch aus
Raumgründen nur die wichtigsten Daten namhaft machen. Da aber er¬
fahrungsgemäß mit dem Wort Statistik bei allen Nichtfachleuten, zu
denen ich in überwiegendem Maße wohl auch die Leser der „Blätter für
Gefängniskunde“ rechnen darf, stets der Gedanke an eine Fülle von Zahlen
und Tabellen verknüpft i.st und ich aus eigener Praxis weiß, daß wohl
nichts ermüdender wirkt als eine endlose Aufzählung von .statistischen
Angaben, will ich deshalb gewissermaßen als ein optisches Hilfsmittel
die bedeut.samsten Ergebnisse unserer Kriminalstatistik aus Vergangenheit
und Gegenwart an Hand von einigen Schaubildern zur Darstellung
bringen.
Und zwar handelt es sich hierbei um eine Auswahl aufschlußreicher
Feststellungen auf dem Gebiete der Verbrechenskausalität, da
die Kriminalstatistik vor allem auch ein unentbehrliches Hilfsmittel zur
Erforschung der Kriminalitätsursachen ist.
Einige dieser nun folgenden Schaubilder dienten mir bereits als illustra¬
tives Beweismittel meines Referates ^2) über die Zusammenhänge zwischen
Wirtschaftslage und Kriminalität, die Einwirkungen des Alkohols auf das
kriminelle Verhalten der Bevölkerung und den saisonmäßigen Verlauf
gewisser krimineller Erscheinungen, das ich als Regierungsvertreter auf
dem X. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongreß in Prag im
Jahre 1930 bei den Verhandlungen zur Herbeiführung einer zwischenstaat¬
lichen Zusammenarbeit zur Beobachtung der Schwankungen der Kriminali¬
tät und zur Erforschung ihrer Ursachen sowie einige Zeit später (1. 12.1930)
62) VkI. E. R o e 3 n e r. ,,Une Cooperation internationale en vue de l'observation
des chaneements dans la criminalit^ et de I'examen de leurs causea est-il possible et
dans quelleB conditions?“ Actes du Congr^e Final et Pinitentiaire International de
Frage. Aoüt 1930. RapiKjrt sur les questions du Programme de la troisiime seclion: Pri-
vention. Berne 1930. Volume la. S. 239 11; ferner Volume IV. S. 229 fr.
117
auf breiterer Basis auf der Jahresversammlung der „Zentralstelle für das
Gefangenenfürsorgewesen der Provinz Brandenburg“ 53) gehalten habe.
In dem Schaubild Nr. 1 sind die Zusammenhänge zwischen
R o g ge n p r e i s e n und den Beeinträchtigungen des
Eigentums — umfassend Diebstahl, Unterschlagung, Raub und Er¬
pressung einerseits und der Bettelei anderseits — im damaligen
Königreich Bayern für die Jahre 1835—1861 dargestellt. Zwar
sind solche Einwirkungen der Schwankungen der Lebensmittel- und
besonders der Getreidepreise vornehmlich auf die Häufigkeit der Ver¬
brechen gegen das Vermögen, wie das auch aus diesen Kurven ersichtlich
ist, schon von vielen Kriminalisten und Kriminalstatistikem im In- und
Ausland festgestellt worden. Niemand aber hat es verstanden, dieses
mit größerer Überzeugungskraft zu machen, als der damals noch junge
Georg von Mayr^l), der bereits in den .sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts diese für die Erforschung der Verbrechenskausalität äußerst
wichtigen Ergebnisse gefunden hat und hierbei zu folgendem, seitdem in
der kriminalätiologischen Literatur zum geflügelten Wort gewordenen
Schluß gekommen war, welches besagt, „daß so ziemlich jeder Sechser,
Sdiaubild 1
&.S) Vgl. E. RoeHnor. ..Der Einfluß von Wirtschaftelage, Alkohol und Jahies-
zeit auf die Kriminalität". Bericht der Zentralstelle für das Gefangenenfürsorgewesen
der Provinz Brandenburg. Gedruckt Strafgefängnis Berlin-Tegel 1931.
54) Vgl. ..Statistik der gerichtlichen Polizei im Königreich Bayern und in anderen
Ländern". XVI. Heft der ..Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern". München 1867.
118
um den das Getreide im Preise gestiegen ist, auf je 100 000 Einwohner
im Gebiete des Königreichs Bayern einen Diebstahl hervorgenrfen hat,
während anderseits das Fallen des Getreidepreises um einen Sechser je
einen Diebstahl bei der gleichen Zahl von Einwohnern verhütet hat“.
Dieser verderbliche Einfluß der Preissteigerung erhärtet auch — das
sei schon an dieser Stelle gesagt — die kriminalitätsvorbeugende Bedeu¬
tung der Preisregelung aus dem Geiste nationalsozialistischer Wirtschafts¬
führung. Der Parallelismus der einzelnen Vorgänge während der ganzen
26jährigen Beobachtungsperiode kommt in der graphischen Darstellung mit
einer derartigen Deutlichkeit zum Ausdruck, daß es sich erübrigt, ihren
Verlauf noch näher zu besprechen.
Aber noch eine andere soziale Erscheinung stand nach den Unter¬
suchungen von M a y r ’s sowohl mit der Bewegung der Getreidepreise
einerseits, wie mit den Schwankungen der Kriminalität anderseits in
engster Wechselbeziehung. Das sind die Auswanderungen 55), deren Ver¬
lauf in dem Schaubild Nr. 1 ebenfalls wiedergegeben ist, und der sich in
völliger Übereinstimmung mit der Kriminalitätskurve wie mit der Preis¬
kurve vollzieht.
„Dieselbe Ursache, die in Zeiten der Nahrungserschwerung je ein
Indi\üduum zum Dieb werden ließ“, so erklärt von Mayr die Zusammen¬
hänge in den Schwankungen der Diebstähle, Roggenpreise und Auswande¬
rungen, „trieb je ein anderes übers Meer. Die Bewegung der Auswande¬
rung muß aber wieder eine unmittelbare Rückwirkung auf die Kriminalität
einer Bevölkerung ausüben, denn diese wird sich umso günstiger gestalten,
je mehr ein Land von Elementen gereinigt wird, die dem wirtschaftlichen
Verfall nahe sind, während bei geringerer Abwanderung und noch mehr
bei erheblichem Zuzug wirtschaftlich unselbständiger Individuen die Krimi¬
nalität eines Landes steigen muß“.
Schaubild Nr. 2 zeigt unter Zugrundelegung der Ergebnisse der
Reichskriminalstatistik die Wechselbeziehungen zwischen
den Indexziffern der L e b e n s m i 11 e 1 p r e i s e und der
Industriestoffpreise mit der Diebstah1sfrequenz im
Deutschen Rei c h während der letzten dreißig Jahre vor dem Weltkrieg.
Der Kurvenlauf läßt folgendes erkennen: Dem Rückgang der Lebens¬
mittel- und Industriestoffpreise bis 1886 folgt eine Verminderung der Dieb¬
stahlskriminalität. Das erneute Anziehen der Lebensmittelpreise bis zum
Jahre 1891, in dem bekanntlich eine Mißernte war, hat eine Steigerung
der Diebstähle zur Folge. Im weiteren Verlauf zeigen sich dann gewisse
Sonderbewegungen. So findet die Spitze der Diebstahlskriminaltät im
Jahre 1898 wohl ihr Gegenstück in einer Spitze der Lebensmittelpreise
im gleichen Jahr, dagegen nicht bei den Industriestoffen.
Umgekehrt geht der gesteigerten Diebstahlskriminalität in den Jahren
1901 und 1902 eine starke Erhöhung der Industriestoffpreise im Jahre
1900 voraus, aber keine entscheidende Veränderung der Lebensmittelpreise.
Auf die beiden Preisspitzen des Jahres 1907 folgt die Kriminalitätsspitze
1908, und auch in den späteren Jahren lassen sich ähnliche Zusammenhänge
feststellen. Diese Tatsachen zeigen, daß wenigstens in den letzten Jahr¬
zehnten des vorigen Jahrhunderts die von den Ernteerträgen abhängigen
Verändeiningen der Getreidepreise nicht mehr ausschließlich als ein krimi-
65) Vgl. E. H a c k e r. ..Kriminalitas es Bevandoilas” (ungarisch: d. h. „Kriminali¬
tät und Einwanderung“.) P6c» 1929. — Derselbe: „Kriminalität und Einwanderung“.
Blätter für Gefängniskunde. Heidelberg 1926. 57. Bd. S.27 ff.
119
nogener Faktor anzusehen sind, daß vielmehr seit dieser Zeit den in¬
dustriellen Konjunkturschwankungen, die in diesem Schaubild durch die
Bewegung der Industriestoffpreise repräsentiert werden, ein zunehmender
Einfluß auf die Höhe der Kriminalität zuzusprechen ist.
Sdiaubild 2
Im Verlaufe weiterer Forschungen über das gleiche Problem hat sich
dann aber mit fortschreitender Industrialisierung eine Disharmonie in
dem bisherigen Parallelismus zwischen Diebstählen und Getreidepreisen
ergeben, dagegen immer deutlicher eine zunehmende Abhängigkeit der
konjunkturreagiblen Delikte wie Diebstahl, Hehlerei, Raub u. a. von dem
Wechsel zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit bemerkbar gemacht.
Das zeigt sich aus dem Schaubild Nr. 3, in dem ich die Korrela¬
tion zwischen Kriminalität und Arbeitslosigkeit in
der nachinflationistischen Zeit^C) darzustellen versucht habe und aus dem
sich der Diebstahl in seiner einfachen und schweren Erscheinungsform,
ferner Hehlerei sowie Raub, aber auch Abtreibung und Kuppelei als von
der Depression besonders begünstigte Delikte offenbaren.
In dem Schaubild Nr. 4 auf S. 122 soll zunächst der Verlauf der
Kriminalitätskurvedes Diebstahls und anderer wirtschafts¬
abhängiger Vermögensdelikte in den Krisenjahren vor der Macht¬
übernahme und nach der nationalsozialistischen
Revolution bis zum Jahre 1939 an Hand der absoluten Zahlen verfolgt
werden, damit die praktische Kriminalstatistik bei dem ihr gewidmeten
Referat nicht ganz zu kurz kommt.
Für die Leser der „Blätter für Gefängniskunde“ bedeutet dieses
Diagramm ebenso wie auch ein Teil seiner inhaltlichen Erläuterung aller¬
dings eine Wiederholung aus Heft 5/6 des vorigen 71. Bandes. Das war
aber bei dem Thema und dem Zweck dieses Vortrages leider nicht zu ver¬
meiden, da sich meine seinerzeitigen Ausführungen bekanntlich an die
30) VkI. E. R o e 8 n e r. Artikel ,,Wirtschaftslage und Straffälligkeit". Hand¬
wörterbuch der Kriminologie. Berlin 1936. Bd. II. S. 1094 ; — neuerdings a. B. G 1 e i t z e.
,,Die Konjunkturkriminalität". Stuttgart und Berlin 1941.
120
Schaubild 3
121
Vertreter der Berliner und auswärtigen Presse, also an einen ganz anderen
Interessentenkreis, richtete, denen ich diese Kurven einmal wegen ihrer
Aktualität sowie vor allem wiegen ihrer besonders schlagenden Beweiskraft
für die Wechselbeziehung zwischen Straffälligkeit und Arbeitslosigkeit
einerseits und den kriminalitätsmindemden Einfluß des WHW. anderseits
durch Lichtbilder mittels Epidiaskop „ad oculos“ demonstrieren wollte.
Ihre nachhaltige Wirkung auf die Hörer ist auch nicht ausgeblieben. Hier¬
für spricht allein folgender Satz, der sich — um nur ein Beispiel aus den
Pressestimmen anzuführen — in der Berliner Börsen-Zeitung (Nr. 245
V. 28. Mai 1941) findet, wo es heißt: „Mit dem Rückgang der Arbeits¬
losigkeit ist die Kurve vor allem bei den Eigentumsdelikten zu einem jähen
Absturz gebracht. Unvergessen sei in diesem Zusammenhang der nicht
abzuschätzende Anteil des Winterhilfswerks am Rückgang der Kriminali¬
tät“. Ähnlich äußert sich auch die auswärtige Presse, so die Rheinisch-
Westfälische Zeitung (Nr. 280 vom 5. Juli 1941).
Damit ist aber eines meiner wesentlichsten Vortragsziele, durch die
Tagespresse die breiteste Öffentlichkeit auf die Bedeutung der Kriminal¬
statistik für die Erforschung der Verbrechensursachen aufmerksam zu
machen, erreicht. Allein schon aus diesem Grund bitte ich, der nochmaligen
Veröffentlichung meiner seinerzeitigen bildlichen und textlichen Darle¬
gungen das entsprechende Verständnis entgegenzubringen.
Da im Rahmen der Gesamtkriminalität von jeher der Diebstahl am
häufigsten verübt wird, gibt er dem Verlauf der Kurve der Gesamtkrimi¬
nalität das Gepräge. Während mit zunehmender Arbeitslosigkeit die Zahl
der wegen Diebstahls Verurteilten von 91100 im Jahre 1929, das bekannt¬
lich die größte wirtschaftliche Scheinblüte aufzuweisen hatte, um fast 25 %
auf 112 570 im Jahre 1932, das im Jahresdurchschnitt 5,6 Mill. Arbeitslose,
mit der „unsichtbaren“ Arbeitslosigkeit sogar fast 7 Millionen zählte,
gestiegen ist, setzt nach der Machtergreifung ein Rückgang ein, der sich
unter geringfügigen Schwankungen bis zum Jahre 1939 in immer stärkerem
Ausmaße fortgesetzt hat, so daß sich die Zahl der wegen Diebstahls Be¬
straften seit 1933 von 101 600 um weit mehr als 40 % bis auf 58 330 im
letzten Jahr dieser Kurvendarstellung vermindert hat. Es bedarf eigentlich
keiner besonderen Erklärung, daß auch die Hehlerei als „Schatten“ des
Diebstahls, ebenso die beiden anderen bedeutsamen Vermögensdelikte,
nämlich die Unterschlagung und der Betrug, in ihrer Entwicklung während
dieser Beobachtungsperiode fast die gleiche Tendenz aufweisen wie die
Diebstahl skriminalität.
Der allgemeine Rückgang der Vermögenskriminalität seit 1933 zeigt
sich ferner in der Höhe der Schadenssummen bei einfachen und schweren
Diebstählen. Wenn hierüber bisher keine statistische Erfassung für das ge¬
samte Reichsgebiet vorgenommen worden ist, so läßt sich der Beweis für
das Absinken doch an den durch schwere und einfache Diebstähle in Groß-
Berlin verursachten Schäden führen, die von der seit dem Jahre 1935 vom
Reichskriminalpolizeiamt bearbeiteten „Polizeilichen Kriminalstatistik für
das Deutsche Reich“ ermittelt werden. Es handelt sich dabei um eine
das ganze Reichsgebiet umfassende Anzeigenstatistik, die jedoch keines¬
wegs mit der hier zur Debatte stehenden, die Aburteilungen erfassenden
Reichskriminalstatistik zu verwechseln ist. Haben nach den Feststellungen
der genannten Polizeistatistik schon in den Jahren 1935 bis 1937 die
Schadensummen infolge der wirtschaftlichen Besserung durch die Behe¬
bung der Arbeitslosigkeit nur einen Bruchteil der im Jahre 1932 verur-
122
Sdiaubild 4
KRIMINALITÄT, ARBEITSLOSIGKEIT
UND WINTERHILFSWERK
IM DEUTSCHEN REICH 1929 BIS 1939
.1 I. I I I I I -I .Hl I
1929 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
DR.ROESNER I94i
128
sachten Schäden betragen, so war im Jahre 1939 — nach den zuletzt
vorliegenden Angaben — noch ein weiterer Rückgang festzustellen, sodaß
auch in diesem Jahre wieder erheblich mehr Volksgut vor dem Verlust
geschützt werden konnte. Die in Groß-Berlin durch schwere und einfache
Diebstähle hervorgerufene Gesamtschadensumme betrug nur noch etwas
mehr als 1 Mill. 01^.
Welch eine bedeutsame Wendung, wenn man sich noch der Wildwest¬
zustände in dem einstmals roten Berlin erinnert und es damals keineswegs
verwunderlich zu hören war, daß im Jahre 1932 allein in der Reichshaupt¬
stadt lediglich durch schwere und einfache Diebstähle der Bevölkerung
ein Schaden von 8,4 Mill. 0ii(, entstanden war. Ein Betrag, von dem sämt¬
liche Kosten hätten bestritten werden können, um rund 130 000 schaffenden
Volksgenossen der Stirn und der Faust mit der NS.-Gemeinschaft „Kraft
durch Freude“ eine Norwegen-Fahrt zu ermöglichen. So könnte beispiels¬
weise für diese Summe die ganze Bevölkerung der 1938 wieder ins Reich
heimgekehrten Donaustadt Linz auf den Schiffen der „Kraft durch Freude“-
Flotte durch die Nordsee nach den norwegischen Schären und Fjorden
dampfen.
Nächst der seit 1933 erfolgten Neuausrichtung der deutschen Straf¬
gesetzgebung mit ihrem verschärften Kampf gegen das Verbrechertum,
insbesondere mit den durch die Praxis der Gerichte verwirklichten nach¬
drücklichen Strafdrohungen und der davon ausgehenden allgemein wie
speziell kriminalitätsmindemden Wirkung, sind es vor allem zwei Faktoren
wirtschaftlicher Art, die in erster Linie die Vermögenskriminalität, da¬
neben aber auch andere strafbare Handlungen bedeutend herabgedrückt
haben. Erstens ist es die Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch die
großzügigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unserer Regierung, wodurch
Millionen deutscher Volksgenossen wieder zu Lohn und Brot verholfen
wurde. Von nicht minder großem Einfluß auf die Kriminalitätsgestaltung
auf dem Gebiete der Vermögensdelikte seit der Machtübernahme ist aber
auch das vom Führer bereits im Herbst 1933 geschaffene und dem Ober¬
befehlsleiter Pg. Hilgenfeldt zur Durchführung übertragene „Winter¬
hilfswerk für das deutsche Volk“, dessen Leistungen — durch die konträr
zur Diebstahlskurve verlaufende Kurve dargestellt — seit seinem Bestehen
von 350 Mill. 01H, im Winter 1933/34 um fast 60 % auf 554 Mill. im
letzten Friedenswinter gestiegen sind.
Durch die Geld- und Sachleistungen dieses größten sozialpoli¬
tischen Hilfswerkes aller Zeiten, die in den durch die Opferfreudigkeit
des gesamten deutschen Volkes aufgebrachten Beträgen von insgesamt
2,5 Milliarden den in der Systemzeit unverschuldet in Not und Elend
geratenen Volksgenossen zugeführt wurden, sind mithin sicherlich eine
große Anzahl von kriminell Schwachen davor bewahrt worden, mit den
Strafgesetzen in Konflikt zu kommen.
Liegt die Verurteiltenzahl bei diesen Vermögensdelikten im Jahre 1939
wie etwa bei der Unterschlagung schon bis zu fast 70 % unter dem ent¬
sprechenden Stand im letzten Jahr des Weimarer Parteienstaates, so haben
zwei weitere kriminalpolitisch bedeutsame Straftaten in demselben Zeit¬
raum die gleiche oder eine noch wesentlich stärkere Abnahme aufzuweisen.
Das ist einmal die ebenfalls zu der Gruppe der Verbrechen und Vergehen
gegen das Vermögen gehörende vorsätzliche Brandstiftung, sodann die
Geldfälschung, die allerdings nach der Systematik unseres Strafgesetzbuchs
ein Verbrechen gegen den Staat darstellt.
124
Nach dem Schaubild Nr. 5 hat sich die Zahl der wegen vorsätz¬
licher Brandstiftungö7) rechtskräftig verurteilten Personen in
der Zeit von 1932 bis 1939 um fast 50 % verringert, eine in wirtschaft¬
licher Hinsicht äußerst beachtenswerte Entwicklung, da früher jährlich
viele Millionen deutschen Volksvermögens durch die vorsätzliche Brand¬
stiftung der Vernichtung anheimfielen.
Schaubild 5
Wegen Geldfälschung und vorsätzlicher Brandstiftung
rechtskräftig verurteilte Personen 1932 bis 1939
Personen Personen
wu St. to
Eine wie bedeutsame Rolle aber früher die sogenannten „Konjunk¬
turbrände“ speziell in der Landwirtschaft spielten, geht aus einer Unter¬
suchung von E c k e r 58) hervor, der für die Jahre 1881—1912 die Ernte¬
brandschäden in Preußen berechnet und dabei die gesamten Verluste an
Emte auf Grund des jeweiligen Roggenpreises auf Tonnen Roggen um¬
gerechnet hat.
Das nach E c k e r s Feststellungen gezeichnete Schaubild Nr. 6 zeigt
im einzelnen, daß in dieser 30jährigen Periode zur Zeit des niedrigsten
Preisstandes der Tonne Roggen (124 M.) im Durchschnitt der Jahre
1893/96 die größte Menge landwirtschaftlicher Produkte (947 000 t) ver¬
nichtet wurde, und daß im allgemeinen bei einer Preissteigerung die Ernte¬
brandschäden abnehmen, bei einer Preissenkung dagegen ansteigen, eine
Erscheinung, welche wohl den berechtigten Schluß zuläßt, daß hier mei¬
stenteils Brandversicherungsbetrug vorliegt.
Von entsprechender wirtschaftlicher Bedeutung wie das Nachlassen
der vorsätzlichen Brandstiftungen i.st auch die günstige Gestaltung der
Münzkriminalität, da bei den Geldfälschungen seit 1933, wenn
wir das Schaubild Nr. 5 nochmals betrachten, sogar eine Abnahme um
96 % eingetreten ist, denn es wurden im Jahre 1939 nur noch 27 Falsch¬
münzer von der Kriminalstatistik verzeichnet gegen 778 im Jahre 1933.
57) Vfrl. ,.Wirtschaft und Statistik“. 20, Jpr. 1940. Nr. 24. S. 558.
58) Vjfl. ..Der Brandschaden an der landwirtochafttichen Produktion und seine Be¬
deutung; für die Volksernährunpr“. Mitteilun^ren für die öffentlichen Feuerversicherunars-
an.stalten. Berlin 1915. 47. Jg. S. 267.
r
125
Sdiaubild 6
Brandschäden und Roggenpreise in Preußen ‘1881-1912
Der Grund für diese, in dem Kriminalitätsverlauf ohne Beispiel
dastehende Erscheinung ist in der Hauptsache darin zu suchen, daß die in
der Systemzeit von Jahr zu Jahr anschwellende Arbeitslosigkeit und die
damit vorhandene wirtschaftliche Not vor allem bisher unbescholtene
Graveure, Lithographen, Buchdrucker, Photographen und andere Personen
mit den erforderlichen chemischen oder technischen Spezialkenntnissen
häufig zu Falschmünzern werden ließ, die nunmehr nach der Machter¬
greifung durch die umfangreichen nationalsozialistischen Arbeitsbeschaf¬
fungsmaßnahmen und die zunehmende Wirtschaftstätigkeit in ihren ehe¬
maligen Berufszweigen wieder geordnete Arbeit mit auskömmlichen
Löhnen gefunden haben.
Ebenso überzeugend wie die in den bisherigen Schaubildern gezeigten
Zusammenhänge zwischen Getreidepreisen, Beschäftigungsgrad und Krimi¬
nalität lassen sich auch die Auswirkungen des A 1 k o h o 1 s 53) auf gewisse
Gewalt- und Roheitsdelikte nachw'eisen, der sich auf Grund der kriminal¬
ätiologischen Forschung nächst dem jeweiligen Beschäftigungsgrad als
ein ebenfalls recht bedeutsamer Kriminalitätsfaktor gezeigt hat.
Wie bei den vorausgegangenen Untersuchungen über den Einfluß der
Wirtschaftslage auf die Kriminalität muß sich auch in diesem Falle die
Beweisführung auf die „indirekte“ Methode — auch Methode der
„konkurrierenden Veränderungen“ genannt — stützen, die nach ^ i i e k
(a. a. 0. S. 184) bei der statistischen Feststellung kausaler Zusammenhänge
dann ihre Anwendung findet, wenn die direkte Zerlegung der betreffenden
gesamten Erhebungsmasse in die nach Maßgabe des kausalen Momentes in
Frage kommenden Teilmassen nicht möglich ist, d. h., ob z. B. die wegen
Diebstahls Verurteilten die strafbare Handlung aus wirtschaftlicher Not —
bedingt durch Arbeitslosigkeit — verübt haben. Ein solcher Vergleich
zeitlicher Reihen wird besonders durch graphische Darstellung der frag¬
lichen Reihen (Diebstahl- und Arbeitslosenziffem oder Gewalttätigkeits-
59) S. oben Anmerkung 63) a. a. ü. S. 67 ff. — Ferner G. Stark. ,,Kriminalität
und Alkohol“. Wlsi^enachaftllohe Veröffentlichungen zur Alkoholfrage. Heft 10. Berlin 1934.
126
delikte und Alkoholkonsum) wesentlich erleichtert. Zeigen sich parallele
oder antagonistische Schwankungen in beiden Reihen, so liegt offenbar
eine Korrelation vor, die allerdings stärker oder schwächer sein kann. Zu
beachten ist, daß manchmal zwischen dem Eintreten der Ursache und der
Wirkung ein gewisser Zeitraum zu verstreichen pflegt; dann korrespon¬
dieren nicht die gleichzeitigen Bewegungen der beiden Kurven, sondern
die durch den betreffenden Zeitraum voneinander getrennten Kurventeile.
So hat eine 1918 erschienene Untersuchung über das Landstreicher- und
Bettlertum in Preußen (Frankfurter Dissertation von Kunreuther)
ergeben, daß dort jede Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt
mit einem gewissen Zeitabstand eine Zunahme der Landstreicher zur Folge
batte.
Dem gegenüber steht die „direkt e“ Differenzmethode, bei welcher
man bei der statistischen Kausalitätsfor.schung z. B. Männer und Frauen,
die Angehörigen zweier Berufe, Stadt und Land hinsichtlich der Sterblich¬
keit, der Selbstmord- oder Verbrechenshäufigkeit gegenüberstellt. Unter¬
scheiden sich diese letzteren Häufigkeiten, so können wir unter Umständen
im Geschlecht, Beruf, dem Wohnort und anderen von der Statistik direkt
erfaßten individuellen Merkmalen wie Alter oder Familienstand einen kau¬
salen Faktor erblicken.
Schaubild 7
127
Der Einfluß des Alkoholkonsums der Bevölkerung im allgemeinen
auf bestimmte Delikte, wie Körperverletzung, Widerstand gegen die
Staatsgewalt, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung, die erfahrungs¬
gemäß im Zustand der Trunkenheit begangen werden, tritt in seinem
Grundzug in dem Schaubild Nr. 7 hervor, das ich zum Nachweis über den
Parallelismus dieser beiden Erscheinungen für meine seinerzeitigen Aus¬
führungen als Kommissar der Reichsregierung und kriminalstatistischer
Sachverständiger bei den Beratungen des Reichstags über den Entwurf
eines Gaststättengesetzes 60) konstruiert habe.
Mit einer Steigerung des Bierverbrauchs je Kopf der Bevölkerung,
der sich 1882, dem ersten Jahr dieser Beobachtungsperiode, auf 80 1 stellte,
zeigt sich unter Schwankungen eine stets zunehmende „Alkoholkriminali¬
tät“, die um die Jahrhundertwende bei einer Kopfquote des Bierverbrauchs
von 118 1 ihren Kulminationspunkt erreicht und dann mit einer Abnahme
des Bierkonsums bis zum letzten Jahr vor Ausbruch des Weltkrieges gleich¬
falls ständig sinkt. Bis zum Jahre 1913 hatte sich der Bierverbrauch je
Kopf der Bevölkerung wieder auf rund 100 1 vermindert.
Haben wir bisher ausschließlich die Dynamik (Bewegung) der Krimi¬
nalität betrachtet, so wollen wir uns bei der Erörterung der Alkohol¬
kriminalität auch etwas mit ihrer Statik (Zustand) befassen, und
zwar mit dem regionalen Vorkommen der gefährlichen Körper¬
verletzung im Deutschen Reich vor dem Weltkrieg.
Bei dem Schaubild Nr. 8 fallen sofort drei Gebiete auf.
Schaubild 8
60) Vgl. „Bericht des 8. Ausschusses (Volkswiidschaft) über den Entwurf eines
Schankst&ttengesetzes". Drucksachen des Reichstages. IV. Wahiperiode 1928. Nr. 347.
S. 7 sowie 68—71.
128
Schau bild 9
in denen die gefährliche
Körperverletzung domini-
rend ist. Es sind dies
die Rheinpfalz mit ihren
Nachbargebieten. Die Er¬
klärung für diese geographi¬
sche Verteilung der gefähr¬
lichen Körperverletzungskri¬
minalität liegt wohl nahe.
Sie tritt verhältnismäßig am
stärksten in den alkoholpro¬
duzierenden Gegenden auf.
Im Osten des Reichs herrscht
durch den überwiegenden
Kartoffelanbau die Brannt¬
weinproduktion vor, Bayern
ist das Hauptzentrum der
deutschen Bierproduktion,
während die Pfalz sowie die
anderen weinbauenden Ufer¬
gebiete des Rheins durch
ihren reichlichen und billigen
Wein eine Vorzugsstellung
einnehmen.
Die Alkoholkrimi¬
nalität ist aber auch
zeitlich - periodisch
bedingt. Auf Grund einer
Sonderauszählung, die ich
seinerzeit über die Vertei¬
lung einiger Alko¬
hol d e 1 i k t e auf die ein¬
zelnen Wochentage im
Jahre 1928 in BerlinWa)
habe durchführen lassen,er¬
gibt sich die aus dem Schau¬
bild Nr. 9 ersichtliche Säu¬
lendarstellung. Die Zeich¬
nung umfaßt stets die Wer¬
te von zwei Wochen, um den
Rhythmus der Bewegung
über den Wochenanfang
oder das Wochenende be¬
sonders deutlich in Er¬
scheinung treten zu lassen.
Wenn ein, Teil der hier dar¬
gestellten strafbaren Hand¬
lungen auch durch andere
Ursachen hervorgerufen sein
mag, so ist doch der Ein¬
fluß des Alkoholgenusses
60a) Vgl. Kriminalstatistik für
das Jahr 1928. Statistik des Deut¬
schen Reichs Bd. 384. S. 42.
RohtfitdtKkte an dtn Wochentagan fri Bariin
im Jahre 1928
Schemst/sche Zwe/i¥ochen&9rst9//tmff
So Mo Di Mi Do Fr Sa So Mo 01 Mi Do Fr Sa
129
auf die wöchentliche Gestaltung der Roheitskriminalität unverkennbar:
denn die vorwiegend im Rauschzustand begangenen Roheitsdelikte häufen
sich namentlich an den Tagen, an denen verhältnismäßig am meisten
getrunken wird. Es sind dies die Freitage mit den jetzt üblichen Lohn¬
zahlungen sowie die Tage um das Wochenende, und hier wieder die Sonn¬
tage mit ihrer vergrößerten sozialen Reibungsfläche. Aber auch an den
Montagen, an denen unter den Nachwirkungen dieser Vortage erfahrungs¬
gemäß „blau gemacht“ wird, ist noch eine ziemlich umfangreiche Alkohol¬
kriminalität festzustellen.
Dieses Schaubild ist aber gleichzeitig auch ein Repräsentant für die
graphische Darstellung zeitlich-periodischer Einwirkungen (wie Jahres¬
zeiten, Monate, Wochentage, Tagesstunden) 6*) auf die Kriminalitätsver¬
änderungen, die ich als einen weiteren beachtlichen Kriminalitätsfaktor
aus räumlichen Gründen leider ebenso wenig behandeln kann wie noch
andere verbrechensfördernde Umwelteinflüsse, so — um nur einige Bei¬
spiele zu nennen — den OrtderTat^^) und die kriminellen Häufigkeits¬
beziehungen von Stadt und Land*>3) als lohnenswerte Forschungs¬
gebiete der Kriminalitätsgeographie oder die Stellung im BerufW) als
soziologisches Moment der Verbrechens genese.
Soviel über die Nutzbarmachung der Kriminalstatistik zum Nachweis
der Kriminalitätsbeeinflussung durch exogene Ursachen*®). Ihr
Zahlenmaterial gibt natürlich in gleicher Weise Aufschluß über die krimino¬
gene Bedeutung der zahlreichen endogenen Faktoren wie Ge¬
schlecht, Alter, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Bildungsgrad, Religi¬
onszugehörigkeit, Rasse, Volkstum u. a. Auf eine entsprechende Darstellung
der letzteren muß hier leider verzichtet werden. Ich verweise daher auf die
einschlägigen Untersuchungen z. B. von Exner®**), Hoffnerß'?), Kril-
le68)j Krug63), Mezger^O), 0 1 b e r m a n n’?*), Rompe'^ä)^
S c h m i t z 73) und T i m c k e 74) sowie auf meine eigenen Darstellungen 75)
über eine Reihe dieser individuellen Merkmale in anderen Quellen.
61) Vgl. E. Roeäner. Artikel ,,Jahreszeiten". Handwörterbuch der Krimi¬
nologie. Berlin 1933. Bd. I.
62) Vgl E. Roesner. „Die örtliche Verteilung der Kriminalität im Deutschen
Reich”. Monatsschr. f. Kriminnlbiol. u. Strafrechtsref. München 1937. 28. Jg. S. 305.
63) Vgl. H. H. Burchardt. „Die Kriminalität in Stadt und Land". Ab¬
handlungen des Kriminalist. Instit. a.d. Univ. Berlin. 4.F. 4.Bd. l.H. Berlin u. Leipzig 1936,
64) Vgl. M. Hagemann. Artikel „Beruf“. Haddwörterbuch der Kriminologie.
Berlin u. Leipzig 1933. Bd. I.
65) Vgl. E. Roesner. „Die Ursachen der Kriminalität und ihre statistische
Erforschung". Allgemeines Statistisches Archiv. Jena 1933. 23. Bd. S. 19 ff.
66) Vgl. „Kriminalbiologie". Hamburg 1939.
67) Vgl. ..Kriminalität und Schule". Kriminalist. Abhandl. Leipzig 1932. Heft XVII.
68) Vgl. ..Weibliche Kriminalität und Ehe". Kriminalist. Abhandl. Leipz. 1931. H. XV.
69) Vgl. ..50 Jahre Frauenkriminalität in Deutschland 1882 bis 1932". Staats-
wissenschaftliche Dissertation. München 1037.
70) Vgl. ..Kriminalpolitik“. Stuttgart 1934.
71) Vgl. ..Kriminalität des alternden Menschen". Juristische Dissertation. Bonn 1936.
72) Vgl. ..Criminaliteit en Kergenootenschaap". Nijmegen 1938.
73) Vgl. ..Die Kriminalität der Frau". Bochum-Langendi'eer 1937.
74) Vgl. ..Rasse. Volk und Kriminalität“. Ein Beitrag zur Frage der Rassenein¬
flüsse auf die Art und Neigung zum Verbrechen". Hamburg 1940.
75) Vgl. E. Roesner. Artikel ..Alter und Straffälligkeit“. ..Ausländer". ..Bil¬
dungsgrad". ..Familienstand" sowie ..Geschlecht und Straffälligkeit". Handwörterbuch
der Kriminologie. Berlin 1933. Bd. I.
3
132
selbst als in ihren Uniweltverhältnissen liegen. Ihnen gilt daher der
Kampf und die Erziehungsarbeit der HJ., für die sowohl die Polizeiver¬
ordnung zum Schutz der Jugend sowie der Jugendarrest wichtige Hilfs¬
mittel sind.
Der rückläufigen Tendenz der Gesamtkriminalität entsprechend haben
auch die in der Tabelle aufgeführten, durch Schwere, Zahl oder Eigenart
besonders bemerkenswerten Einzeldelikte durchweg in mehr oder
weniger starkem Umfange abgenommen. Relativ am stärk.sten ist die Ver¬
minderung um rund 67 % bei den vorsätzlichen Körperverletzungen, was
sich in der Hauptsache aus der Abwesenheit des größten Teils der aktiven,
zu Gewalttätigkeiten neigenden Männer erklärt.
Die hier gezeigte Aufgliederung der Ge.samtkriminalität in die krimi¬
nalpolitisch wichtigsten Tatbestände läßt vor allem aber erkennen, daß
der Rückgang in der Gesamtzahl der wegen Verbrechen und Vergehen
gegen Reichsgesetze rechtskräftig verurteilten Personen nicht etwa aus¬
schließlich auf das schon erwähnte, im September 1939 ergangene Amnestie¬
gesetz zurückzuführen ist, denn es haben auch diejenigen Delikte, bei
denen dieses Gesetz keine Straffreiheit gewährt, eine zum Teil wesentliche
Abnahme und damit eine tatsächliche, und zwar weitere Kriminalitäts¬
besserung auch während des Krieges aufzuweisen. So sind dem
Berichtszeitraum von 1939/40 gegenüber 1938/39 die beiden Kapitalver¬
brechen, Mord und Totschlag, um 40 %, schwerer Diebstahl, auch im
wiederholten Rückfall, um ein Viertel, Erpressung sogar um mehr als
die Hälfte zurückgegangen.
Damit halte ich meine Aufgabe, einen Überblick über das Wesen
und Ziel sowie die Technik und Nutzbarmachung der Kriminalstatistik
zu geben, für beendet. Meine Ausführungen möchte ich mit einem, schon
längere Zeit vor dem Weltkrieg von unserem Berliner Strafrechtler Graf
G1 e i s p a c h 77) geprägten Wort beschließen, welches besagt: „In der ge¬
samten Statistik liegen große Schätze, die erst gehoben werden müssen“.
Soweit es sich hierbei um die Kriminalstatistik handelt, ist auf diesem
Gebiet schon viel geschehen und es wird auch künftig — seitens der an
ihrer Bearbeitung beteiligten Behörden, insbesondere vom Statistischen
Reichsamt — alles getan werden, um immer neue statistische Erkenntnis¬
quellen für die zielbewußte nationalsozialistische Kriminalpolitik und
Verbrechensbekämpfung zum Schutze und Wohl unserer Volksgemeinschaft
zu erschließen!
Zur Schockwirkung des Jugendarrestes
von Amtsgerichtsrat Dr. Tigges in Pudewitz (Wartheland)
Mit dem 4. Oktober 1941 hat sich der Erlaß der VO. des Ministerrates
für die Reichsverteidigung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts gejährt,
durch die der Jugendarrest eingeführt worden ist. Mit außergewöhnlicher Tat¬
kraft ist diese Neuerung trotz der besonderen Schwierigkeiten des Krieges
von allen Beteiligten aufgegriffen und innerhalb des verflossenen Jahres
in die Wirklichkeit umgesetzt. Wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, ist der
Jugendarrest zum Mittelpunkt des ganzen Jugendstrafrechts geworden.
Die Praxis des vergangenen Jahres hat bewiesen, daß der Jugendarrest
eine besonders während des Krieges empfindliche Lücke des Jugendstraf-
Vjfl. ,,t)ber Kindesmord“. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik.
1907. lid. 27. S. 269.
133
rechts zu schließen geeignet ist. Andererseits ist ein endgültiges Urteil über
den Jugendarrest an Hand kaum einjähriger Erfahrungen verfrüht. Eben¬
so wie über das Jugendgerichtsgesetz von 1923 erst in den letzten Jahren
ein abschließendes Urteil möglich geworden ist, ist ein sicheres Urteil
über die kriminalpolitischen Folgen des Jugendarrestes erst zu einem Zeit¬
punkt möglich, zu welchem sich nachprüfen läßt, ob die Rückfälligkeit der
straffällig gewordenen Jugendlichen abgenommen hat und die Jugend¬
kriminalität allgemein gesunken ist. Während des Krieges ist der Jugend¬
arrest aber schon als ein Erfolg zu betrachten, wenn er den im Weltkrieg
beobachteten radikalen Anstieg der Jugendkriminalität verhindert.
Voraussetzung einer solchen Femvdrkung des Jugendarrestes ist die
Beurteilung der der bisherigen Erfahrung eher zugänglichen Sofortwirkung
des Arrestes, seiner sogenannten Schockwirkung. Diese Schockwirkung
ist der Angelpunkt des ganzen Jugendarrestes. Sie kann bei empfindlichen
Jugendlichen schon mit dem Eindruck der Verurteilung hervorgerufen
werden und bei schwerfälligen, nicht beeinflußbaren Jugendlichen über¬
haupt ausbleiben. Bei der Mehrzahl der durch den Jugendarrest gegangenen
Jugendlichen ist aber jedenfalls eine nach der Eigenart des’einzelnen mehr
oder weniger intensive Wirkung zu beobachten. Im einzelnen zeigt sich,
daß der Grad der Intensität der Schockwirkung bei den einzelnen Jugend¬
lichen erheblich von der Dauer und daneben von der besonderen Ausgestaltung
des Arrestes abzuhängen scheint. In der Regel wird freilich die Dauer
des Jugendarrestes nach Art und Schwere der Tat abgestuft. Indessen
gilt nirgends so sehr wie im Jugendstrafrecht der Satz: Nicht die Tat,
sondern der Täter ist zu bestrafen. Demgemäß hat das RG. (Dt. Just. 1941,
S. 813) für die Wahl zwischen Gefängnis und Jugendarrest mit Recht für
ausschlaggebend erklärt, ob der Täter aus schlechter Veranlagung oder
gemeinschaftswidriger Gesinnung oder nur aus jugendlicher Unbesonnenheit
gehandelt hat. Dementsprechend ist erwünscht, auch die Dauer des
Jugendarrestes innerhalb des zur Verfügung stehenden Strafrahmens nicht
von Art, Umfang und Folgen der Tat, sondern von der günstigsten Einflu߬
möglichkeit auf den Jugendlichen abhängig zu machen. Hierbei ist zu
beachten, daß die Intensität des erstrebten Schockes nicht mit der Dauer
des Arrestes zu wachsen braucht. Insbesondere kann ein mehrfacher
Wochenendkarzer, der den Jugendlichen um die ersehnte Freizeit bringt,
einen wesentlich intensiveren Eindruck ausüben als ein mehrwöchiger Dauer¬
arrest. Besonders in den Fällen, in denen die Anstalt zum Vollzüge des
Dauerarrestes vom Wohnort des Jugendlichen weit entfernt oder infolge der
kriegsbedingten Einschränkung der Verkehrsmittel schwer zu erreichen ist,
ist manchmal die Gefahr mannigfaltiger Ablenkungen und ungünstiger Ein¬
drücke auf der Hinreise zum Antritt des Arrestes und erst recht bei der Rück¬
kehr größer als der ganze Erziehungseinfluß des Arrestes. Sofern eine
solche Gefahrenquelle besteht, ist es wünschenswerter, mehrfachen Wochen¬
endkarzer am Wohnort als Dauerarrest in der entfernten Anstalt zu voll¬
ziehen. Denn daß der Jugendliche zur Arrestanstalt hingebracht und auch
wieder abgeholt wird, ist unter den Kriegsverhältnissen nur selten möglich.
Durchschnittlich dürfte die Intensität des Schockes, insbesondere der
strengen Tage, meist bei 3 Wochen, je nach der Eigenart des
Jugendlichen auch früher oder später erreicht werden. Vor diesem Zeit¬
punkt, insbesondere bei nur einwöchiger Dauer, wird die Strenge des
Arrestes in seinem vollen Umfange noch nicht fühlbar. Nach diesem
Zeitpunkt tritt sehr leicht schon eine gewisse Gewöhnung auch an die
strengen Tage ein und ist die erste erzieherische Einwirkung vorgenommen.
134
Die Sofortwirkung des Arrestes nimmt daher von dieser Zeit an eher ab
als zu, ohne daß eine Femwirkung an die Stelle tritt, wie sie in der Für¬
sorgeerziehung und im Jugendgefängnis durch eine planmäßig auf einen
langen Zeitraum abgestellte Erziehungsarbeit erreicht werden kann. Bei
widersetzlichen und hartnäckigen Naturen tritt freilich die Schockwrkung
auch nach einmonatiger Dauer nicht ein, wie sich oft schon während des
Vollzuges durch schlechte Führung des Jugendlichen oder in ähnlicher
Weise zeigt.
Beim Wochenendarrest hat sich die Bestimmung der Jugendarrest¬
ordnung als zweckmäßig erwiesen, daß bei schlechter Führung der Wochen¬
endkarzer als nicht verbüßt erklärt werden kann. Soweit nicht der Hinweis
auf diese Bestimmung genügt, ist ihre Anwendung geeignet, die Schock¬
wirkung im Hinblick auf begangene Vollzugsverstösse zu unterstreichen
und die Unerbittlichkeit der staatlichen Autorität zu demonstrieren. Für
den Dauerarrest wäre zunächst eine analoge Bestimmung in der Art
zweckmäßig, daß dieser bei schlechter Führung in bestimmten Grenzen
verlängert werden kann. Dies gilt umso mehr, als eine Verhängung der
in der Jugendarrestordnung aufgeführten Hausstrafen nicht immer an¬
gebracht ist, da z. B. die zusätzliche Verhängung strenger Tage gesund¬
heitsschädlich sein kann, eine Entziehung der Beleuchtung nach der Jahres¬
zeit nicht in Frage kommt und die Entziehung von Lesestoff mangels
hinreichenden Interesses fruchtlos ist. Bei Verurteilungen zur Höchststrafe
von 1 Monat ist freilich eine derartige Zusatzstrafe ausgeschlossen, solange
nicht in solchen Fällen die Höchstgrenze von einem Monat überschritten
werden kann. Wie aber beim Wochenendkarzer von vier Wochenenden
die Verfallerklärung eines verbüßten Wochenendes notwendig die tat¬
sächliche Verbüßung von mehr als vier Wochenenden zur Folge hat, so ist
auch die Überschreitung des bisherigen Höchstmasses von 1 Monat im
Einzelfall unbedenklich, sofern sichergestellt wird, daß gesundheitliche
Schäden nicht eintreten.
Unter diesen Umständen erscheint erwägenswert, ob dem Vollzugs¬
leiter nicht in besonderen Fällen das Recht der Verlängerung und bei
ersichtlicher Sofortwirkung auch der Abkürzung des Arrestes gewährt
werden kann. Durch die VO. vom 19. 9. 1941 über die unbestimmte Ver¬
urteilung Jugendlicher (RGBl. I S. 567) ist dem Leiter des Vollzuges
maßgeblicher Einfluß auf die Vollzugsdauer eingeräumt worden. Natürlich
ist es nicht angebracht, die unbestimmte Verurteilung, die nur für lange
Freiheitsstrafen zweckmäßig ist, auch für den Dauerarrest einzuführen.
Vielmehr würde genügen, dem Vollzugsleiter das Recht einzuräumen, im
Bedarfsfälle einen Teil des im Urteil festgesetzten Arrestes (ohne Be¬
währungsfrist) zu erlassen oder als unangerechnet für verfallen zu er¬
klären.
Für die Intensität der Schockwirkung hat die Handhabung der
strengen Tage entscheidende Bedeutung. Denn gerade die Verminderung
oder Vermehrung der strengen Tage ist je nach der Führung der Jugend¬
lichen ein überaus wirksames Erziehungsmittel, soweit sie die Kost¬
beschränkung betreffen. Wenn aber aus gesundheitlichen Gründen darauf
verzichtet werden muß, wäre das Recht, den Arrest bei schlechter Führung
für verfallen zu erklären, um so wünschenswerter. Soweit die strengen
Tage die Zuweisung eines harten Lagers enthalten, wird dagegen durch sie
ein besonderer Eindruck meist nicht erzielt, weil die Jugendlichen durch
die Erziehung der HJ. in Lagern, auf Wanderungen und Fahrten dagegen
abgehärtet .sind.
135
Da durch den allgemein schon verschärften Vollzug die Auswahl
der Disziplinarmittel beschränkt ist, wird verschiedentlich die Einführung
der Prügelstrafe befürwortet. Diese Strafe ist zweifellos das intensivste
Schockihittel. Nicht im richtigen Falle, im rechten Augenblick und im
rechten Maße angewandt, vermag sie auf die Dauer eine Trotzstimmung
zu erzeugen und möglicherweise zwar die äußere Widerspenstigkeit zu
brechen, die innere Ablehnung aber nur zu verschärfen und die aufrichtige
Einsicht des Jugendlichen vollends zu verschütten. Sie ist daher, solange
nicht pädagogisch absolut zuverlässige und geschulte Kräfte für den Arrest¬
vollzug zur Verfügung stehen, nicht zu befürworten. Denn es ist besser,
von ihr keinen Gebrauch als falschen Gebrauch zu machen.
Neben der Dauer des Arrestes ist die Art des Vollzuges für die
Intensität der Schockwirkung ausschlaggebend. Hierbei wird das Problem,
ob der Jugendliche durch Untätigkeit oder durch harte Arbeit zur Einsicht
gebracht werden soll, meist in der Weise gelöst, daß nur die eine oder die
andere Lösung als erstrebenswert angesehen wird. Als allgemein gültig für
jeden Jugendlichen kann lediglich der Grundsatz angesehen werden, daß
der Jugendliche mit oder ohne Arbeit von den übrigen Insassen getrennt
zu halten ist, damit er in der Einsamkeit über den Zweck seiner Bestrafung
nachdenken kann. Die zahlreichen Versuche der Jugendlichen, diesen
Grundsatz der Absonderung bei gemeinsamen Außenarbeiten oder anderen
gemeinschaftlichen Verrichtungen zu durchbrechen, beweisen deutlich die
Entbehrung der gewohnten Gemeinschaft. Im übrigen muß die Zuteilung
von Arbeit, ihrer Art und ihres Umfanges sich nach den Verhältnissen
richten, aus denen der Jugendliche kommt. Im Dauerarrest ist eine den
Jugendlichen besonders anspannende Tätigkeit erwünscht. Aber nicht
etwa in der Art und dem Umfang, wie er es von zu Hause aus gewöhnt ist.
Denn deren blosse Fortsetzung in der Arrestanstalt wird ihn kaum be¬
eindrucken. Harte körperliche Außenarbeit ist für den ein geeignetes
Zuchtmittel, der sie von Haus aus nicht gewöhnt ist. Für denjenigen, der
schwere körperliche Arbeit in der Landwirtschaft oder sonst draußen
gewöhnt ist, ist dagegen eine intensive Innenarbeit wesentlich schwerer
erträglich und dementsprechend eindrucksvoller. Die Auswahl einer für
den Jugendlichen nach Anlage und Gewohnheit besonders fühlbaren Arbeit
ist in der Praxis nur sehr schwer durchführbar, weil verschiedene Arbeiten
nur selten zur Auswahl stehen und sie bei kleinen Anstalten abgesehen
von ihrer Unwirtschaftlichkeit zu Schwierigkeiten der Aufsicht und anderen
Unzuträglichkeiten führen. Ihre richtige Auswahl bleibt jedoch für die
Stärke der Schockwirkung entscheidend, da eine dem Jugendlichen un¬
gewöhnliche und unangenehme Arbeit die beste Möglichkeit bietet, ihn
wachzurütteln und ihn vor einem Rückfall in der Zukunft zu bewahren.
Andernfalls besteht die große Gefahr, daß der Jugendarrest der kurz¬
fristigen Gefängnisstrafe der Vergangenheit gleichbleibt, die auf den
Jugendlichen häufig genug keinen nachhaltigen Eindruck zu geben ver¬
mochte und ihn gegenüber der Gefahr erneuter Bestrafung in der Zukunft
gleichgültig gemacht hat. Daß neben der Art der Arbeit die Disziplin
und die Exaktheit ihrer Durchführung für die Schock^virkung des Jugend¬
arrestes ausschlaggebend ist, ist selbstverständlich, bedarf aber der be¬
sonderen Hervorhebung, da dieser Gesichtspunkt für die Auswahl des Auf¬
sichtspersonals ausschlaggebend sein muß und trotz des durch den Krieg
bedingten Personalmangels nur solche Beamte zur Beaufsichtigung heran¬
gezogen werden dürfen, die über die notwendigsten pädagogischen Fähig¬
keiten verfügen und durch energisches und strenges Auftreten dem Vollzug
den erforderlichen Nachdruck zu verleihen vermögen.
130
Eine der wichtigsten Voraussetzungen der Schockwirkung ist, daß
der Vollzug des Arrestes der Tat oder wenigstens dem Urteil auf dem
Fuße folgt. Durch die Zulassung des beschleunigten Verfahrens in § 2 der
Verordnung v. 4. 10. 1940 ist hierzu vom Gesetzgeber die Möglichkeit
gegeben. Es ist erwünscht, daß von dieser in der AV. des RJM. v. 6. 11.
1940 nochmals hervorgehobenen Möglichkeit nicht nur im Ausnahme-,
sondern im Regelfall Gebrauch gemacht wird. Da die mei.sten Jugendlichen
auf Grund eigenen Geständnisses verurteilt werden, könnte, in der weit
überwiegenden Zahl der Fälle die sofortige Vollstreckung an die Urteils¬
verkündung angeschlossen w’erden. Schwierigkeiten bereitet dies Ver¬
fahren nur insofern, als der erkennende Jugendrichter nach § 2 Abs. 2
der VO. vom 4. 10. 1940 die sofortige Vollstreckung des Jugendarrestes
nur für zulässig zu erklären vermag, Vollstreckungsbehörde aber, falls die
Arrestanstalt nicht am Orte des Gerichtes ist, nach der AV. des RJM.
V. 8. 2. 1941, (Dt. Just. S. 222) der als Leiter des Vollzugs zuständige
Jugendrichter des anderen Bezirks ist, dem die Akten zur Einleitung des
Vollzugs zuzuleiten sind. Hierdurch entstehen bis zum Arrestantritt
oft erhebliche Verzögerungen, die durch Raummangel der Anstalt noch
verschärft werden können. Leistet der Jugendliche nun der Aufforderung
des vollstreckenden Jugendrichters zum Arrestantritt nicht freiwillig
Folge und wird seine zwangsweise Vorführung notwendig, so wird die
Pause zwischen Urteil und Arrestantritt so groß, daß der Jugendliche
einerseits die Strafgewalt des Staates nicht mehr für so ernst ansieht,
anderseits sich mit dem Gedanken der Arrestverbüssung vertraut macht
und schließlich einen Schock während seiner Einsperrung kaum noch emp¬
findet. Zur Beschleunigung der Vollstreckung erscheint daher erwünscht,
daß der erkennende Jugendrichter auch dann Vollstreckungsbehörde bleibt,
wenn er mit dem als Leiter des Vollzugs zuständigen Jugendrichter nicht
identisch ist und die sofortige Vollstreckung des Urteils in der Hand behält.
Erforderlichenfalls wird er sich zweckmäßig schon vor der Urteilsfällung
mit dem Vollzugsleiter der Arrestanstalt in Verbindung setzen, ob die
sofortige Aufnahme des Jugendlichen gesichert ist. Solange Urteil und
Vollzug nicht Schlag auf Schlag folgen können, vermag ein an Ort und
Stelle vollziehbarer mehrfacher Wochenendkarzer eine weit nachhaltigere
Wirkung zu erzielen als ein Dauerarrest, der erst wochenlang nach dem
Urteilsspruch vollzogen wird.
Da die Erzielung eines Schockes voraussetzt, daß der Verhängung
des Jugendarrestes der Vollzug stets umgehend folgt, ist eine Aussetzung
des Arre.stes durch § 4 der Durchführungverordnung v. 28. 11. 1940 u.
Ziffer 6 der AV. des RJM. vom 6. 11. 1940 (Dt. Just. 1243) mit Recht als
unzulässig erklärt worden. Bei der grundsätzlichen Abkehr von dem bis¬
herigen Prinzip der bedingten Strafaussetzung war dieses generelle Verbot
jeglicher Aussetzung unbedingt erforderlich, um ein Abgleiten der Praxis
zu der alten Übung zu verhindern. In außergewöhnlichen Notfällen ver¬
bleibt dem Jugendrichter immerhin das Recht, den Vollzug gemäß §§ 455,
456 StPO, aufzuschieben. Denn § 4 der VO. v. 28. 11. 1940 erklärt nur
die Aussetzung der Vollstreckung nach §§ 10 bis 13 und 15 des Jugend¬
gerichtsgesetzes für unzulässig. Dementsprechend kann die AV. v. 6. 11.
1940 ebenfalls nur die Aussetzung i. S. dieser Vorschriften betreffen.
Soweit eine derartige Aussetzung oder eine andere Vergünstigung, die
nicht durch den Strafaufschubsgrund der §§ 455, 456 StPO, gedeckt ist,
erstrebt wird, ist sie dem Gnadenerweis des Reichsministers der Justiz
Vorbehalten.
187
Eine Ausnahme hat die sofortige Vollstreckung des Jugendarrestes
gemäß der AV. des RJM. v. 30. 6. 1941 (Dt. Just. S. 744) allerdings
gefunden, falls ein verurteilter Jugendlicher vor Einleitung des Vollzugs
zum Reichsarbeitsdienst einberufen wird. In diesem Falle soll die Voll¬
streckung auf Anregung des Reichsarbeitsdienstes für die Dauer des
Arbeitsdienstes und, falls der Verurteilte in unmittelbarem Anschluß an
diesen seiner Wehrpflicht genügt, auch für die Dauer des Militärdienstes
zurückgestellt und nach Beendigung der Dienstzeit die Gewährung eines
Gnadenerweises geprüft werden. Bei geringfügigen Straftaten ist ein
derartiger Verzicht auf die Vollstreckung des Jugendarrestes uneinge¬
schränkt zu befürworten, weil durch den Arbeitsdienst eine vorbildliche
Aufsicht und disziplinierte Erziehung sichergestellt ist und diese durch die
Vollstreckung eher gestört als gefördert werden könnte. Nachdem sich
aber der Jugendliche im Arbeitsdienst und gegebenenfalls im Wehrdienst
bewährt hat, besteht zu einer Vollstreckung erst recht kein Bedürfnis
mehr. Bei gewichtigeren Straftaten ist ein solch allgemeiner Verzicht auf
die Vollstreckung des Jugendarrestes und sejne Schockwirkung allerdings
bedenklich. Denn hierdurch könnte der Eindruck entstehen, als könne
sich der Jugendliche durch den Eintritt in den Arbeitsdienst der Unerbitt¬
lichkeit der staatlichen Autorität entziehen und werde seine Tat vom
Arbeitsdienst nicht so streng angesehen wie von der sonst keine Aussetzung
duldenden zivilen Justiz. Anderseits ist es regelmäßig nicht erwünscht,
den im Arbeitsdienst bereits befindlichen Jugendlichen einer Jugend¬
arrestanstalt zur Vollstreckung zur Verfügung zu stellen, weil der Vollzug
in der Arrestanstalt nicht gerade auf den Dienst im Reichsarbeitsdienst
abgestimmt ist, sondern meist Jugendliche betrifft, an die im bisherigen
Leben die Anforderungen des Arbeitsdienstes noch nicht gestellt sind.
Um den Vollzug von dem sonstigen Dienste genügend abzuheben und eine
nachhaltige Schockwirkung zu erreichen, scheint es daher zweckmäßig,
daß der Arbeitsdienst, gegebenenfalls auch die Wehrmacht, den Vollzug
selbst übernimmt.
In Frage gestellt wird die Schockwirkung des Jugendarrestes auch
durch eine etwa vorhergegangene Untersuchungshaft. Denn diese pflegt
bereits eine Schockwirkung herbeizuführen, die durch den Jugendarrest
nicht beliebig zu verstärken ist. Oft hat sie bereits ihre volle Wirkung getan,
sodaß zur Verhängung des Jugendarrestes ein Bedürfnis nicht mehr besteht.
Trotzdem ist der Richter nach herrschender Auffassung (vgl. Bericht des
ORR. Mielke auf der Jugendrichtertagung im RJM. vom 6./7. 11. 1941)
nicht in der Lage, den an sich verwirkten Jugendarrest durch die erlittene
Untersuchungshaft als verbüßt anzurechnen. Zur Begründung wird an¬
geführt, daß nach § 60 StGB. Untersuchungshaft nur auf die im Urteil
erkannte „Strafe“ angerechnet werden dürfe, der Jugendarrest aber keine
Strafe, sondern — wie § 1 und 2 der Durchführungsverordnung v. 28. 11.
1940 ausdidicklich hervorhebe — ein Zuchtmittel sei. Diese formale Aus¬
legung des § 60 StGB, wird dem Sinn des neuen Jugendstrafrechts nicht ge¬
recht. Wenn die DurchführungsVO. v. 28. 11. 1940 dem Jugendarrest Straf¬
charakter abspricht, so geschieht dies zu dem Zwecke, um den Jugendlichen
vor den bisherigen Konsequenzen der Kriminalstrafe zu schützen. Daher
ist der Jugendarrest, wie die VO. hervorhebt, „insbesondere nicht im Sinne
der Vorschriften über den Rückfall und das Strafregister .sowie anderer
Vorschriften, die Rechtsnachteile an eine straf gerichtliche Verurteilung
knüpfen“, eine Strafe. Die Vorschrift dient aber nicht dem Zwecke, den
mit Arre.st bedachten Jugendlichen gegenüber dem zu krimineller Strafe
138
Verurteilten zu benachteiligen. Bei diesem kann der Richter die Strafe
durch die Untersuchungshaft in vollem Masse als verbüßt erklären, wenn
durch sie der Strafzweck bereits erfüllt ist. Es wäre ungerecht, diese
Vergünstigung dem an sich für den Jugendarrest geeigneten Jugendlichen
zu verweigern, wenn durch die Untersuchungshaft die Schockwirkung voll
erzielt ist. Andernfalls würde der Richter, der einen weiteren Jugendarrest
für unnötig oder gar schädlich hält, gezwungen, unter Anrechnung der
Untersuchungshaft Gefängnisstrafe zu verhängen oder sich auf eine Ver¬
warnung zu beschränken. Die erste Lösung würde doch gerade die Rechts¬
nachteile der kriminellen Strafe herbeiführen, die der Jugendarrest ver¬
hindern will. Die zweite Lösung, eine Verwarnung zu erteilen, würde bei
einer späteren neuen Verurteilung des Jugendlichen die Kenntnis der Tat,
die bei Verurteilungen zu Jugendarrest durch die AV. des RJM. v. 9. 12.
1940 durch entsprechende Vermerke bei dem Strafregister sichergestellt
ist, den Gerichten vorenthalten, obwohl dies bei den Taten, die eine Ver¬
haftung des Jugendlichen notwendig gemacht haben, regelmäßig erforderlich
wäre. Der Richter muß daher für befugt gehalten werden, die Unter¬
suchungshaft in entsprechender Anwendung des § 60 StGB, auf den Jugend¬
arrest anzurechnen, wenn durch die Untersuchungshaft der dem Jugendarrest
vorbehaltene Erziehungszweck in derselben Weise erfüllt ist wie bei der
kriminellen Strafe der Strafzweck. Es liegt demnach im Ermessen des
Jugendrichters, ob er die Untersuchungshaft ganz oder teilweise anrechnet*).
Zu einer teilweisen Anrechnung der Untersuchungshaft wird allerdings
kaum ein praktisches Bedürfnis bestehen. Denn bei der Bemessung des
Jugendarrestes ist der Richter in der Lage, die bereits verbüßte Unter¬
suchungshaft zu berücksichtigen. Jedenfalls ist es unzulässig, die Unter¬
suchungshaft auf einen Dauerarrest in der Weise anzurechnen, daß der
zu vollstreckende Rest auf weniger als eine Woche herabsinkt. Denn hier¬
durch wird das in § 1 Abs. 2 der VO. v. 4. 10. 1940 bestimmte Mindestmaß
zwar nicht im Urteilsausspruch, wohl aber im Vollzug unterboten. Sinn
dieses gesetzlichen Mindestmaßes aber ist es gerade, nicht auf dem Papier,
sondern im tatsächlichen Vollzug des Dauerarrestes ein gewisses Mindest¬
maß der Einwirkungsmöglichkeit zu gewährleisten.
Darüber hinaus ist ganz allgemein die Aufeinanderfolge von Jugend¬
arrest auf Untersuchungshaft nicht unbedenklich. Sofern der Arrest mit
seinen strengen Tagen unmittelbar auf eine längere Untersuchungshaft
folgt, ist die Gefahr einer Gesundheitsschädigung akut. Davon abgesehen
ist eine Beeinträchtigfung der Schockwirkung durch die Verbindung der
beiden wesentlich von einander verschiedenen Arten der Freiheitsent¬
ziehung zu befürchten, sofern die Untersuchungshaft mehrere Wochen oder
gar Monate betragen hat. Die durch die längere Untersuchungshaft regel¬
mäßig eingetretene Schockwirkung kann durch einen anschließenden Dauer¬
arrest — der Wochenendkarzer wird nach verhängter Untersuchungshaft
nicht in Frage kommen — meist nur verwischt werden, da der Vollzug des
Jugendarrestes trotz seiner Strenge jugendgemäßer als die gewöhnliche
Untersuchungshaft ist und dem Jugendlichen daher meist leichter er¬
scheinen w’ird. Dies um so mehr, wenn die strengen Tage mit ihrer vollen
Schärfe nach der Untersuchungshaft aus Gesundheitsgründen nicht an¬
gewandt werden können. Nichts ist aber verhängnisvoller, als in dem
Jugendlichen das Gefühl wach werden zu lassen, daß der Arrest milder
sei als die Untersuchungshaft. Denn hierdurch wird er dazu verführt,
den Arrest zu leicht zu nehmen und seinen Emst zu verkennen. Der
>) So neuerdings auch das Kcichsgerieht (Dt. Just. 1941 S. 9C3)
189
Erfolg des Jugendarrestes steht und fällt aber damit, daß er den jugendlichen
Rechtsbrecher in seiner ganzen Persönlichkeit erschüttert. Dies kann er
aber nur dann, wenn er in seiner Art und der Strenge seiner Durchführung
für den Jugendlichen neuartig und erstmalig ist. Eine nicht nur wenige
Tage lange Untersuchungshaft macht daher regelmäßig erwägenswert,
den zu verhängenden Jugendarrest durch dieUntersuchungshaft als verbüßt
anzurechnen oder, falls diese nicht wirksam genug erscheint, zu einer
nachhaltigen Gefängnisstrafe überzugeheiv In den Fällen, in denen ein
zusätzlicher Denkzettel notwendig erscheint, ohne daß eine kriminelle
Strafe erforderlich ist, ist es empfehlenswert, den Jugendarrest erst
nach vorübergehender Freilassung des Jugendlichen zu vollstrecken, um
ihn auf diese Weise für die Zwecke des Arrestes zugänglich zu machen
und ihn ohne Einschränkungen zur Anwendung bringen zu können. Ist
die Schockwirkung in diesem Falle durch die vorhergegangene Freiheits¬
entziehung auch abgeschwächt, so vermag der Vollzug doch eher einen
dauernden Eindruck zu hinterlassen.
Schließlich kann die Schockwirkung des Jugendarrestes durch seine
Verbindung mit Fürsorgeerziehung eine Beeinträchtigung erleiden. Hierbei
ist der Fall, daß Jugendarrest während der Fürsorgeerziehung zu ver¬
hängen ist, von dem Fall zu unterscheiden, daß zusätzlich zum Jugendarrest
noch Fürsorgeerziehung notwendig erscheint. Im ersten Fall ist eine
Schockwirkung des Jugendlichen möglich, wenn sich sein Vollzug von der
Fürsorgeerziehung für den Jugendlichen durch fühlbare Verschärfung
abhebt. Dies ist jedoch nicht ohne weiteres sicher, weil der Vollzug in der
Jugendarrestanstalt auf Jugendliche zugeschnitten ist, die bisher keine
oder jedenfalls keine ernstliche Freiheitsentziehung kennengelemt haben.
Der normal vollzogene Jugendarrest wird daher auf den Fürsorgezögling
einen weit geringeren Eindruck machen. Eine Sonderbehandlung der Für¬
sorgezöglinge mit besonderer Strenge stößt in der Arrestanstalt auf
organisatorische Schwierigkeiten. Außerdem ist weder der Vollzugsleiter
noch der Aufsichtsbeamte zu einer zweckentsprechenden Behandlung des
Fürsorgezöglings in der Lage, weil sie die bisherige Erziehungsarbeit
nicht kennen. Davon abgesehen bildet die Aufnahme von Fürsorgezög¬
lingen in die Arrestanstalt trotz des Einzelvollzuges stets eine Gefahren¬
quelle für die übrigen Jugendlichen, die zum ersten Male straffällig ge¬
worden sind und sich im übrigen einwandfrei geführt haben. Diese Be¬
denken gegen die Anwendung des Jugendarrestes gegen Fürsorgezöglinge
fallen weg, wenn der Arrest gegen diese in der Fürsorgeerziehungsanstalt
selbst vollzogen wird. Dort kann der Arrest in einer den Bedürfnissen
der Fürsorgeerziehung angepaßten Weise ohne Hin- und Hertransport
und daher ohne Verzögerung vollzogen werden und so auch im Rahmen
der Fürsorgeerziehung einen Schock herbeiführen, der ihm sonst
versagt bleiben würde.
Im Falle, daß die Fürsorgeerziehung erst anläßlich der Verurteilung
zum Jugendarrest verhängt wird, ist mit einer anfänglichen Schockwirkung
des zunächst vollzogenen Jugendarrestes wie im Normalfalle zu rechnen.
Doch wird diese durch die anschließende Fürsorgeerziehung abgefangen
und schließlich gänzlich verblassen. Vor allem ist der Erfolg des Jugend¬
arrestes gefährdet, wenn dessen Vollzug auf den Vollzug der Fürsorge¬
erziehung nicht abgestimmt ist oder der Arrest dem Jugendlichen aus irgend¬
einer subjektiven Einstellung heraus erträglicher als die Fürsorgeerziehung
erscheint. Auch sonst ist eine erzieherische Einwirkung während des Arre.stes
erschwert, weil diese auf eine kurze Zeitspanne beschränkt ist und mit
140
der Übernahme in die Fürsorgeerziehung wieder von vorne angefangen
werden muß. Der Jugendliche zeigt sich außerdem während des Arrestes
einem Erziehungsversuch leicht verschlossen, weil sich seine Vorstellungs¬
welt bereits auf die zukünftige Fürsorgeerziehung von ungewisser Dauer
konzentriert, während ihm der kurze Arrest als vorübergehendes Übel
belanglos erscheint. Ist er aber in die Fürsorgerziehungsanstalt überführt,
so ist er bereits an die Freiheitsentziehung gewöhnt und ist dadurch die
erziehliche Einwirkung auch hier erschwert. Es ist daher erwünscht, daß
der Jugendarrest in der Fürsorgeanstalt auch dann vollstreckt wird, wenn
die Fürsorgeerziehung erst mit dem Jugendarrest zusammen verhängt
wird. Nur dann ist vom ersten Tage an eine kontinuierliche Erziehungs¬
arbeit gewährleistet und eine gewisse Schockwirkung nicht ausgeschlossen.
Diese Verkopplung des Jugendarrestes mit der Fürsorgeerziehung hat
dann eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Strafvollzug in Stufen. Freilich
mit dem einschneidenden Unterschied, daß der Arrest als erste Strafe
zeitlich genau begrenzt ist. Diese Bindung aber wird dem Fürsorge¬
erzieher meist hinderlich sein, da die Staffelung verschiedener Vollzugs¬
formen nur dann Erfolg verbürgt, wenn ein Anspruch auf ein Aufrücken
nicht besteht. Das Bedürfnis, die Dauer des Arrestes in gewissen Grenzen
zu verlängern und in Ausnahmefällen auch zu verkürzen, ist daher für
den Leiter der Fürsorgeerziehung noch erheblich größer als für den Voll¬
zugsleiter des Jugendarrestes. Solange diese Möglichkeit nicht besteht,
ist die Aussicht auf einen Erziehungserfolg größer, wenn unter Verzicht
auf den Jugendarrest nur auf Fürsorgeerziehung erkannt wird und deren
Ausgestaltung ganz der Initiative des Fürsorgeerziehungsleiters Vorbehalten
bleibt. Auf die Dauer ist allerdings auch dieser Ausweg nicht wünschens¬
wert, da die an sich zur Bekämpfung von Erziehungsmängeln berufene Für¬
sorgeerziehung auf diese Weise zu einem qualifizierten Zuchtmittel gegen¬
über strafbaren Handlungen gemacht und ihr Ruf noch schlechter werden
wird, als er schon ohnehin ist. In den meisten Fällen wird daher zu er¬
wägen sein, ob der Kombination von Jugendarrest und Fürsorgeerziehung
nicht das Jugendgefängnis vorzuziehen ist. Denn besser als eine Vielzahl
nebeneinander laufender und sich störender Erziehungs- und Strafmittel
ist ein einziges, aber dafür zur vollen Wirkung kommendes Zuchtmittel,
das richtig nach der jeweiligen Eigenart des Jugendlichen auszusuchen,
eine der schwierigsten Aufgaben des Jugendrichters stets bleiben wird. Ihre
richtige Auswahl ist die wichtigste Voraussetzung einer jeden Vollzugs¬
wirkung, besonders aber des Jugendarrestes und seiner Schockwirkung.
Die Straffälligenbetreuung in den preußisch¬
deutschen Strafvollzugsanstalten
von Dr. W. S t r u b e , Oberregierungsrat in Berlin-Moabit
Wenn man vom Patent des Königs Friedrich I. vom 28. August 1710,
in dem wohl erstmalig in Preußen auf die Notwendigkeit einer Entlassenen-
fürsorge hingewiesen wurde, absieht, weil es nur grundsätzliche Gedanken¬
gänge, aber keine praktischen Vorschriften enthält, dann muß man die
Königliche Instruktion vom 27. März 1797 l), die durch § 563 der Kriminal¬
ordnung von 1805 Gesetzeskraft erlangte, als die erste staatliche Regelung
der Straffälligenbetreuung betrachten.
Wagnitz, ,,Histor. Nachr." Bd. II Teil 11 Seite 191, und Rosenfeld,
,,Zweihundert Jahre Fürsorpre der Preußischen Staatsresrierung für die entlassenen Ge¬
fangenen“, J. Guttentag, Verlagöbuchhandlung, Berlin 1905.
r
141
Ein Menschenalter später folgte mit dem Reglement für die Straf¬
anstalt Rawitsch vom 4. November 1835 2)3)^ dessen Geltung durch Re¬
skript des gleichen Jahres auf alle preußischen Straf- und Korrektions¬
anstalten ausgedehnt wurde, die erste preußische Strafvollzugsordnung
mit Vorschriften über die Straffälligenbetreuung. Sie wurde gegen Ende
des Jahrhunderts durch die Gefängnisordnung für die Justizverwaltung
in Preußen vom 21. Dezember 1898 4) und die Dienstordnung für die dem
Ministerium des Innern unterstellten Strafanstalten und größeren Gefäng¬
nisse vom 14. November 1902 abgelöst 3).
Nach der Vereinheitlichung des Gefängniswesens in der Hand der
Justizverwaltung, die am 1. April 1918 stattfand, erfolgte eine Neu¬
regelung durch die Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenan¬
stalten der Justizverwaltung in Preußen vom 1. August 1923 6) und nach
der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wurde das Preußische
Strafvollstreckungs- und Gnadenrecht vom 1. August 1933, geschaffen und
durch die Dienst- und Vollzugsordnung vom gleichen Tage 7) ergänzt.
Soweit waren es preußische Vorschriften, denen in allen übrigen
deutschen Ländern ähnliche, aber auch in vielen Punkten abweichende Be-
.stimmungen entsprachen. Die erste Reichsregelung schuf die AV. d. RJM.
vom 22. 7. 1940 mit der „Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugs¬
vorschriften für den Strafvollzug im Bereich der Reichsjustizverwaltung
(Strafvollzugsordnung)“ 8). Es soll nun Aufgabe der nachfolgenden Aus¬
führungen sein, aus den erwähnten Vorschriften und ihren Ergänzungen
durch Ministerialerlasse die Bestimmungen über die Straffälligenbetreu-
ung zusammenzustellen und zu vergleichen, wobei das Gesamtgebiet der
Gefangenenfürsorge in die drei Abschnitte „Habe“, „Arbeit“ und „Unter¬
kunft“ der Straffälligen aufgeteilt worden ist.
A. Habe
Der Straffälligenbetreuung liegt als erste Aufgabe ob, das nötigste
Hab und Gut der Gefangenen zu erhalten oder zu ergänzen, damit ihnen
nach ihrer Entlassung der Übergang zu einem neuen Leben in der Freiheit
erleichtert wird.
1. Kleidung
Eine Bestimmung, daß die bei der Einlieferung in die Anstalt mit-
gebracliten Kleidungsstücke während der Haft verwahrt, rechtzeitig in¬
stand gesetzt und am Entlassungstage ausgehändigt werden, kehrt in allen
Vorschriften wieder. Ergänzend gibt ein Min.Reskr. vom 9. 4.18663) Weisung,
daß die Ausbesserung der Sachen an den Sonn- und Feiertagen während
der vom Gottesdienst freien Zeit durch die Gefangenen selbst zu besorgen
ist, und einMin.Reskr. vom 17. 7.1876>0)genehmigt, daß die Gefangenen gegen
einen Tagelohn von 40 Pfg. von Mitgefangenen sich Schneider- und Schuh¬
macherarbeiten hersteilen lassen. Die DO. 02 weist den Hausvater in § 188
an, die eigenen Kleider der Gefangenen rechtzeitig instand setzen zu
2) Abgekürzt: Raw.
•')) Annalen 1835 Seite 1080 und Büttner, ..ReglementariBche BeKtiramungen
für die Königlich Preußischen Strafanstalten", 2. Auflage, Verlag der Brökenstock'schen
Buchhandlung, Rawitsch 1890.
-1) Abgekürzt: GefO. 98.
5) Abgekürzt: DO. 02.
0) Abgekürzt: DVO. 23.
1) Abgekürzt: DVO. 33.
8) Abgekürzt: VollzO. 40.
0) Büttner, S. 222.
10) B ü t t n e r . S. 171.
lassen. Ähnlich erklärt die DVO. 33 in § 139 und die VollzO. 40 in § 202
es als eine Pflicht der Anstalt, die Kleidung der Gefangenen rechtzeitig zur
Wiederbenutzung herzurichten. Auch heute noch wird von den Gefangenen
verlangt, daß sie kleine Schäden, die ohne handwerksmäßige Kenntnis
beseitigt werden können, selbst ausbessem. Aber es ist beachtlich, daß
sich im Laufe der Jahre die Verpflichtung zur Tragung der Kosten für
die Beseitigung größerer Schäden von den Gefangenen auf die Verwaltung
verlagert hat. Die Entwicklung beruht auf dem Gedanken, daß der Staat
sich für verpflichtet hält, den Gefangenen in einer Kleidung in Freiheit
zu setzen, die dem Entlassenen in seinem Fortkommen keine Schwierig¬
keiten bereitet.
Bei der Ergänzung der Kleidungsstücke finden wir eine ähnliche,
wenn auch nicht bis zur gleichen Schlußfolgerung durchgeführte Regelung.
Raw. § 134 bestimmt folgendes: Bei der Entlassung sind dem Sträfling, wenn
er keine eigenen noch brauchbaren Kleidungsstücke besitzt, die notdürftigsten
Gegenstände aus den Anstaltsyorräten gegen Quittung zu verabreichen.
Ein MR. vom 5. 2. 1862 H) sieht ergänzend vor, daß die an der not¬
dürftigsten Bekleidung fehlenden Gegenstände an Gefangene, die über
Arbeitsbelohnung verfügen, zum angemessenen Tagespreis zu verkaufen sind
und mittellose Gefangene sie unentgeltlich erhalten sollen. Die Verwaltung
beschafft sich die Sachen aus dem Nachlaß verstorbener Gefangener. Ein
MR. vom 7. 6. 1886 12) verweist auf die aus den Beständen der Anstalt
ausgesonderten Kleidungsstücke. Ein Erlaß vom 31. 7. 1920 l*) und die
DVO. 33 in § 139 empfehlen die Beschaffung von Heeresaltsachen, die von
den Anstalten zertrennt oder verarbeitet werden, für diesen Zweck. Den
unbeschränkten Ankauf von Kleidungsstücken aus Fürsorgemitteln der
Verwaltung gestattet dagegen er.st die VollzO. 40 in Ziffer 202. Wir
sehen an dieser Gegenüberstellung, wie die Verwaltung die Versorgung
der Gefangenen mit Entlassungskleidung nach und nach ständig verbessert
hat. Nach VollzO. 40 Ziffer 202 muß jetzt die Vollzugsanstalt die der
Jahreszeit und dem Gesundheitszustand entsprechende notwendige Kleidung
zur Verfügung stellen, nur mit der Einschränkung, daß den Gefangenen,
die nicht mehr als drei Monate in Haft sind, in der Regel keine Entlassungs¬
kleidung aus Fürsorgemitteln gewährt werden soll. Diese Lücke wird
aber durch Einsatz der Kleidervorräte geschlossen, die von den Betreu¬
ungsstellen des Deutschen Reichsverbandes für Straffälligenbetreuung und
Ermittlungshilfe ausgegeben werden.
Nach dem Wortlaut der Ziffer 202 soll die Anstalt dem Gefangenen
eine der Jahreszeit entsprechende Bekleidung zur Verfügung stellen.
Dieser Fall würde gegeben sein, wenn ein in Sommerkleidung eingelieferter
Sträfling nach sechs Monaten im kältesten Winter entlassen wird. Ein
Mißbrauch der Bestimmung ist also bei unvernünftiger Auslegung durchaus
möglich. Deshalb erscheint bei einer Neufassung der Vorschriften die
folgende Regelung empfehlenswert, die zugleich eine beachtenswerte
Sparmaßnahme darstellt:
Der Gefangene ist alsbald nach der Einlieferung zur Ergänzung der
bei der Entlassung erforderlichen Kleidungsstücke aus seinen in der früheren
Unterkunft, in einer Pfandleihe oder an einer sonstigen Verwahrungsstelle
befindlichen Sachen — nötigenfalls durch Vermittlung der Polizei¬
verwaltung — zu veranlassen. Besitzt der Gefangene keine Sachen oder
11) MBl. I. V. 1862, S. 62.
12) Klein, ..DieVorschriften über Verwaltung und Strafvollzug in den Preußischen
JuatizKefan^^^nissen'*, Verlag Vahlen, Berlin, I. Auflage 1905» S. 166.
13) K 1 e i n » IV. Auflage 1924, S. 286.
143
können sie ohne seine Schuld nicht herbeigeschaift werden, so sind sie ohne
Rücksicht auf die Haftdauer aus Fürsorgemitteln der Anstalt zu be¬
sorgen- Zur Deckung der Kosten können das eigene Geld oder die Arbeits¬
belohnung des Gefangenen in Anspruch genommen werden, sofern der ihm
verbleibende Betrag ausreicht, um ihm den Übergang in die Freiheit zu
sichern. Nur wenn offensichtlich Mißbrauch zu befürchten ist, wie es bei
Bettlern und Landstreichern der Fall sein könnte, die gewöhnlich ihre
guten Sachen versetzen oder verkaufen, kann von der Gewährung der Ent¬
lassungskleidung auf Staatskosten abgesehen werden. Auch wird dies bei
langjährigen Zuchthausstrafen und bei Sicherungsverwahrung zutreffen. Hier
liegt es im Interesse der Gefangenen, die eigenen Sachen verkaufen und
den Erlös für die Neubeschaffung im Falle späterer Entlassung verwahren
zu lassen.
2. Reisehilfe
Schon immer hat es die Verwaltung als ihre Aufgabe betrachtet,
den mittellosen Gefangenen auf Staatskosten in seinen Heimatort zu be¬
fördern. Die Bestimmungen haben sich in den letzten 100 Jahren kaum
geändert. Das Rawitscher Reglement wirft einen Betrag von 1 Sgr. 6 Pfg.
für die Meile als Reisegeld aus, wenn der Entlassene weder eigene Mittel
noch Arbeitsbelohnung hat. Im MR. vom 9. 12. 1873finden wir
dann eine Regelung, die auch heute in ihren Grundzügen noch Geltung hat.
Sie lautet: Gefangene, deren Bestimmungsort weniger als 5 Meilen von
der Anstalt entfernt ist, müssen die Reise im Fußmarsch zurücklegen,
erhalten aber ein Zehrgeld von 5—10 Sgr. (50 Pfg. bis 1 M.). Bei längerer
Heimreise wird die billigste Klasse der Eisenbahn- oder Dampfschiffahrt
gewährt und für jeden Reisetag (berechnet zu 4 Meilen oder 30 km) 7% Sgr.
(75 Pfg.) Zehrgeld. Tunlichst hat ein Aufseher den Entlassenen zur Ab¬
fahrtstation zu bringen und ihm erst dort die Fahrkarte auszuhändigen.
Die Kosten werden gedeckt aus den eigenen Mitteln des Gefangenen oder
aus seinen Arbeitsprämien, jedoch müssen 5 Taler (15 M.) freibleiben.
Ist die Unterbringung des Gefangenen aus Gründen des Strafvollzuges
in einer ferner gelegenen Anstalt erfolgt, dann hat die Staatskasse die
ganze Fahrt zu zahlen. Fast die gleichen Bestimmungen finden wir in
zeitgemäßer Abwandlung in den seither gegebenen Vollzugsvorschriften
und auch in 204 (2) der jetzt geltenden VollzO. 40 wieder, nur wird
kein Zehrgeld mehr gewährt, sondern bei der Entlassung eine Marsch¬
verpflegung ausgehändigt.
3. Überweisung der Arbeitsbelohnung
MR. vom 29. 9. 18591^) ordnet an, daß „die Arbeitsprämien¬
gelder der zur Entlassung kommenden Zuchthaussträflinge nach Abzug des
ihnen bei ihrer Entlassung zu gewährenden Reisegeldes von den Straf¬
anstaltsdirektionen künftig unmittelbar an die Ortsbehörden (oder an den
örtlichen Verein zur Fürsorge für entlassene Strafgefangene) zur Aus¬
händigung an den Entlassenen gesandt werden, gleichzeitig aber die Orts¬
behörden mit Anweisung versehen werden, in Fällen, in denen ihnen der¬
gleichen Arbeitsprämien zugesandt werden, soweit als möglich auf eine
zweckmäßige Verwendung derselben ihr Augenmerk zu richten und die
Auszahlung der Arbeitsprämiengelder an den entlassenen Sträfling so
erfolgen zu lassen, wie es im Interesse des künftigen ehrlichen Fort-
14) Büttner, S. 171.
15) B ü t t n © r . S. 178.
144
kommens des aus der Haft Entlassenen am dienlichsten erscheint“! Diese
Bestimmung wird hier wörtlich wiedergegeben, weil sie in allen Teilen noch
den geltenden Vorschriften entspricht, nur mit dem Unterschiede, daß die
Arbeitsbelohnung jetzt nach 205 (3) VollzO. 40 regelmäßig den zuständi¬
gen Stellen des Deutschen Reichsverbandes für StrafFälligenbetreuung
und Ermittlungshilfe zu überweisen ist. Es fehlt aber den geltenden Be¬
stimmungen eine so eingehende und zweckmäßige Anleitung über Sinn und
Zweck der Überweisung, wie sie der MR. vom 29. 9. 1859 gab.
4. Unterstützung
Erstmalig enthält DO. 02 die Bestimmung, daß neben der Arbeits¬
belohnung den Entlassenen eine Unterstützung bewilligt werden kann,
die jedoch mit der Arbeitsbelohnung 15^5?^ und in besonderen Fällen 25
nicht übersteigen darf. Die GefO. 23 hat in Verbindung mit der AV.
V. 25. 3. 1924 (JMBl. 145) die gleiche Vorschrift. DVO. 33 läßt in § 140
die Gewährung einer Unterstützung zu, wenn Arbeitsbelohnung und eigenes
Geld zusammen weniger als 10,y?Ä betragen, ohne die Höhe der Unter¬
stützung zu beschränken. VollzO. 40 gestattet in Ziffer 205 nach den
gleichen Grundsätzen die Aufrundung des Betrages auf 20i9Ä.
B. Arbeitsbeschaffung
Fast möchten wir es bedauern, daß ein Patent des Königs Friedrich
Wilhelm vom 10. November 1710 >6) keine Geltung mehr hat, in dem
Raschmachern 1'^), Wollenwebem und Manufakturiers Geldstrafe angedroht
wird, wenn .sie den aus dem Zuchthaus Spandau Entlassenen, die „Rasch- und
Zeugmacherei tüchtig erlernt und darüber ein autorisiertes Attest von dem
Gouverneur oder Kommandanten zu Spandau vorlegen, nicht als tüchtige
Gesellen und Meister rezipieren“. Denn soweit gehen selbst die neuesten
Bestimmungen nicht. Wir vermissen in der GefO. 98 und in der DO. 02
sogar jeglichen Hinweis auf eine Hilfe bei der Arbeitsbeschaffung und erst
die DVO. 23 enthält die kurze Bestimmung, daß die Unterbringung in
Arbeitsstellen etwa 6 Wochen vor der Entlassung vorzubereiten ist. Die
DVO. 33 und die VollzO. 40 dagegen schweigen wieder zu diesem Punkt
und die von der Reichsjustizverwaltung erlassenen ergänzenden Bestim¬
mungen erfüllen ihren Zweck nur unvollkommen. Nach der RV. vom
30. 8. 1938 — 4450 IH s' 1205/38 — ist das Bevorstehen der Entlassung
eines Gefangenen regelmäßig nur bei einer Strafdauer von mehr als einem
Jahr dem zuständigen Arbeitsamte sechs Wochen vor dem Entlassungstage
anzuzeigen. Hierzu ist ein Vordruck VollzO. 26 zu verwenden, der
die für den künftigen Arbeitseinsatz wichtigsten Angaben enthält. In
der Praxis läßt sich jedoch eine Arbeitsvermittlung ohne persönliche Vor¬
stellung des Arbeitsuchenden bei dem Arbeitgeber oder dem Arbeitsamt
nicht durchführen, es sei denn, es handelt sich um Wiederaufnahme eines
nur durch die Haft unterbrochenen Arbeitsverhältnisses. In der Tat be¬
gnügen sich daher die Arbeitsämter erfahrungsgemäß damit, auf die ein¬
gegangene Voranzeige von der Entlassung eines Gefangenen mitzuteilen,
daß dieser sich nach seiner Entlassung im Arbeitsamt zur Vermittlung
einer Arbeitsstelle einfinden soll. Es erscheint der Nachprüfung wert,
ob dieses Verfahren nicht dadurch vereinfacht werden kann, daß die Voll¬
zugsanstalten die Gefangenen vor der Entlassung über die Zuständigkeit
des Arbeitsamtes belehren.
Iß) R o s c n f e 1 d , S. 10.
1") Rnschmacher sind Tuchmacher.
F--
145
Von fürsorgerischem Interesse sind jedoch die Fälle, in denen die
gewöhnliche Arbeitsvermittlung keinen Erfolg verspricht, was bei Ge¬
fangenen der Fall ist, die angesichts ihrer Straftat oder ihrer körperlichen
Beschaffenheit bei ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß
Schwierigkeiten erwarten müssen. Sie erscheinen jetzt erfahrungsgemäß
Tage, Wochen oder Monate nach der Entlassung in den Straffälligenbetreu-
ungsstellen mit der Bitte um Rat und Unterstützung bei der Stellensuche.
Ihnen zu helfen, ist die Aufgabe der Stellen des Deutschen Reichs¬
verbandes für Straffälligenbetreuung und Ermittlungshilfe, dem zu
diesem Zwecke am 6. Juni 1939 vom Reichsarbeitsministerium das
Recht der nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung verliehen worden ist.
Leider sehen die geltenden Vorschriften der Reichsjustizverwaltung eine
Mitteilung von der bevorstehenden Entlassung an die Betreuungsstellen des
Reichsverbandes nicht vor. Das würde jedoch zum mindesten in den Fällen
zweckmäßig sein, in denen angesichts der Straftat oder der körperlichen
Beschaffenheit des Bestraften bei seiner Wiedereingliederung in den
Arbeitsprozeß größere Schwierigkeiten vorauszusehen sind.
C. Unterkunft
1. Entlassungsziel
Schon das Rawitscher Reglement enthält genaue Vorschriften über
die Bestimmung des Entlassungsortes im § 127, die deshalb besonders wich¬
tig waren, weil das Heimatverhältnis für die Unterstützungspflicht Be¬
deutung hatte. Die Gefangenen mußten drei Monate vor der Entlassung
gehört werden, welchen Ort sie als künftigen Wohnort wählen wollten.
Sechs Wochen vor der Entlassung war die für den gewählten Ort zu¬
ständige Polizeibehörde zu benachrichtigen'S). War ein Sträfling nicht
völlig arbeitsfähig, so mußte nach § 131 des Rawitscher Reglements die¬
jenige Kommune, welche subsidiarisch zur Verpflegung verpflichtet war,
ermittelt werden. Erst dann durfte die Entlassung erfolgeru Es wurde
also damals in der Tat das Entlassungsziel gut und zeitig vorbereitet. Die
neueren Vorschriften haben diese Frage nicht so eingehend geregelt und
die VollzO. 40 enthält nur die Bemerkung, daß der Anstaltsleiter unter
Berücksichtigung der persönlichen und fürsorglichen Verhältnisse des Ge¬
fangenen das Entlassungsziel zu bestimmen hat. Es fehlt dagegen eine
Weisung, wann dies zu geschehen hat, was zur Folge hat, daß nicht selten
der von dem Gefangenen in der letzten Stunde seiner Haftzeit angegebene
Ort gedankenlos niedergeschrieben wird, ohne daß die fürsorgerischen oder
arbeitsrechtlichen Belange gebührend berücksichtigt w'erden.
Da heute eine Arbeitsvermittlung von dem Arbeitsamt ohne Vorlage
der Arbeitspapiere nicht vorgenommen wird, ist die Beschaffung des
Arbeitsbuches — sofern cs nicht beim Strafantritt mitgebracht wird —
eine Notwendigkeit. Und da die Besorgung des Buches eine gewisse Zeit er¬
fordert, erscheint die Regel des Rawitscher Reglements, w'onach drei
Monate vor dem Entlassungstag das Entlas.sungsziel festzulegen ist, auch
heute noch recht zweckmäßig und nachahmenswert. Überhaupt ist dieser
Zeitpunkt geeignet, als Beginn der auf die Entlassung abzielenden Ma߬
nahmen zu dienen. Eine Anweisung an die Vollzugsanstalten, drei Monate
vor dem Entlassungstage das Entlassungsziel festzulegen und anschließend
daran die weiteren Fürsorgemaßnahmen in die Wege zu leiten, dürfte sich
dringend empfehlen.
18) B ü t t n e r , S. 166.
4
146
2. Besorgung einer Wohnung
Es ist eine alte Streitfrage, ob man die Gefangenen sofort in die
Freiheit entlassen oder — soweit sie nicht über eine eigene Wohnung ver¬
fügen — zunächst in einem Übergangsheim unterbringen soll, wobei man
solche unterscheidet, die ausschließlich den Strafentlassenen Vorbehalten
sind und die sogenannten gemischten Heime, in denen auch andere Per¬
sonen untergebracht werden. Das besondere Strafentlassenen-Übergangs-
heim hat, zumal wenn es nach Art einer geschlossenen Anstalt verwaltet
wird, zweifellos den Vorteil, daß die Straffälligen gut überwacht werden
können, aber zugleich den Nachteil, daß sich hier Vorbestrafte zusammen¬
finden, die einen schlechten Einfluß aufeinander ausüben. Die Ent¬
lassenen selbst empfinden den Aufenthalt in einem solchen Heim nicht
mit Unrecht als Fortsetzung der Strafhaft und schätzen daher den Auf¬
enthalt in ihm in der Regel nicht. Diese Nachteile werden vermieden,
wenn die Bestraften in gemischten Heimen untergebracht werden, weil
diesen der Charakter einer Strafkolonie fehlt und von ihnen aus die Ver¬
mittlung in eine Arbeitsstelle leichter gelingt. Jedoch hat der Aufenthalt
im gemischten Heim gewisse Nachteile, wenn er zu lange dauert. Es ist
deshalb anzustreben, den Gefangenen nach der Entlassung möglichst bald
sowohl in ein festes Arbeitsverhältnis wie auch in eine selbstgewählte
Unterkunft zu bringen. Denn das Übergangsheim bedeutet regelmäßig
nur ein Hinausschieben, nicht aber die Lösung der Unterkunftsfrage.
Es sollte darum grundsätzlich nur eingeschaltet werden, wenn angesichts
der Straftat oder wegen der Körperbeschaffenheit des Entlassenen eine
sofortige völlige Freilassung des Gefangenen noch nicht möglich ist.
D. Schlußbemerkungen
1. Entlassungsschein
Schon durch MR. vom 12. 6. 1885 19) wurde angeregt, entlassenen
Strafgefangenen, wenn sie es ausdrücklich beantragen, über den Grund
und die Dauer der erlittenen Strafe, sowie über das Verhalten während
der Strafverbüßung eine Bescheinigung zu erteilen. Ähnliche Vorschriften
enthält § 87 der GefO. 98 und § 191 der DO. 02. Auch die DVO. 23 und
DVO. 33 beschränken den Zweck des Scheines noch auf den Nachweis über
die Verbüßung der Strafe. Einen wesentlichen Fortschritt bedeutet da¬
gegen die Bestimmung in 206 der VollzO. 40, wonach der Schein auch An¬
gaben enthalten soll, die wohlfahrtspflegerischen Zwecken dienen. Damit
ist seiner Ausgestaltung zu einem Entlassungspaß der Weg geebnet. Aus
ihm muß alles ersichtlich sein, was für die spätere Betreuung von Belang
sein könnte, beispielsweise außer dem Entlassungsort die von der Voll¬
zugsanstalt getroffenen Fürsorgemaßnahmen und die genaue Bezeichnung
der nach der Entlassung zuständigen Fürsorgestelle der Straffälligen-
betreuung.
2. Träger der Gefangenenfürsorge
Ein Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt, daß man
zunächst nur die Entlassenenfürsorge kannte, so daß auch die Betreuung
während der Haft von denjenigen Stellen wahrgenommen werden mußte,
die im Rahmen der freien Liebestätigkeit sich eine Pflege der Strafentlas¬
senen zur Aufgabe gemacht hatten. Die ersten Gefängnispfarrer wurden also
von den Kirchen gestellt und die ersten Anstaltslehrer von den Fürsorge-
1») B ü t t n e r , S. 172.
147
vereinen besoldet. Nach und nach verstaatlichte man diese Träger der
Fürsorgearbeit und verlegte immer mehr Betreuungsmaßnahmen in die
Haftzeit. Die Gefangenenfürsorge (staatliche Betreuung während der
Haft) gewann somit ständig Boden auf Kosten der Entlassenenfürsorge
(vereinsmäßige Betreuung nach der Haft). Diese Entwicklung wird an-
halten, solange das Interesse des Staates an einer ausgebauten Straf-
fälligenbetreuung bestehen bleibt.
3. Fürsorgebeauftragte
Die Bestimmungen über die Fürsorge für entlassene Gefangene, die
vom Justizminister und Minister des Innern am 19. Juni 1895 20) gemein¬
sam ergangen sind, weisen die Anstaltsvorsteher an, sechs Wochen vor der
Entlassung mit den Fürsorgeorganen Verhandlungen aufzunehmen. Es
heißt darin ferner, daß die Fürsorge a) durch kirchliche Organe, b) durch
Fürsorgevereine au.sgeübt wird. Nach § 139 DVO. 23 und § 138 DVO. 33
sollen sich alle Anstaltsbeamten, insbesondere der Vorsteher, der Geistliche
und der Lehrer der Fürsorge widmen. Dagegen rechnet VollzO. 40 in
Ziffer 19 und 21 die Fürsorge für die Zeit nach der Entlassung zu den
Dienstobliegenheiten der Lehrer und Geistlichen.
Erstmalig finden wir in § 143 der DVO. 23 erwähnt, daß in Jugend¬
gefängnissen ein Anstaltsbeamter durch die Aufsichtsbehörde zum Für¬
sorger bestellt werden kann. In die AV. d. RJM. vom 22. 1. 1937 ist diese
Vorschrift übernommen. Es erscheint jedoch rdcht nur für Jugendgefäng¬
nisse die Bestellung von Fürsorgern erforderlich, sondern für alle An¬
stalten. Es soll damit nicht gefordert werden, daß überall hauptamtliche
Fürsorger anzustellen seien, wohl aber ist eine klare Bestimmung nötig,
wem die Gefangenenfürsorge während der Haft in jeder Anstalt obliegt.
4. Vorschriften über Gefangenenfürsorge
Wie über andere Sondergebiete des Strafvollzuges besondere Vor¬
schriften von der Reichsjustizverwaltung als Ergänzung zur VollzO. in
Aussicht gestellt worden sind, so würde es sich auch empfehlen, eine Ge¬
schäftsordnung über die Gefangenenfürsorge zu schaffen und darin nach
Einvernehmen mit dem Deutschen Reichsverband für die Straffälligenbe-
treuung und Ermittlungshilfe die Richtlinien für den während der Strafzeit
durchzuführenden Teil der Straffälligenbetreuung festzulegen.
Wasser und Wäsche —
ein volkswirtschaftliches Problem
von a. pl. Verwaltungsinspektor Hans Weigel
beim Straf gef ängnis Ichtershausen
Wie der Wäscheschatz der Hausfrau einen bedeutenden Teil des
deutschen Volksvermögens ausmacht, so liegen auch in den Kammerbe¬
ständen der Justizvollzugsanstalten unermeßliche Werte, die unter Um¬
ständen in die Hunderttausende von Reichsmark gehen können. Es ist
daher ein Gebot der Pflicht, diese Werte zu schonen und zu erhalten.
Ist es nicht gerade jetzt im Kriege notwendig, auf eine pflegliche
Behandlung des Wäscheschatzes eindringlich hinzuwirken? Der Bezug
von Spinnstoffwaren ist gegenwärtig an schwierige Bedingungen geknüpft.
20) K 1 e i n , IS. 167.
4»
148
Eine Rohstoffknappheit hat an und für sich schon vor diesem Kriege be¬
standen; erschwerend wirkt sich für die Spinnstoffwirtschaft w’eiter aus,
daß ein durch den Krieg bedingter Mehrbedarf und ein zusätzlicher, art¬
mäßig neuer Bedarf entstanden ist, der gedeckt werden muß. Diese
Momente haben, um überhaupt eine Ausweichmöglichkeit zu schaffen, zur
Qualitätsveränderung und zur Rationalisierung geführt.
Dieselben Erscheinungen sind natürlich auch in anderen Wirtschafts¬
zweigen, so z. B. in der Waschmittelherstellung, zu beobachten. Sie
wirken sich hier jedoch umso nachteiliger aus, weil nicht ein so großer
Vorrat wie an Spinnstoffen in einer Vollzugsanstalt vorhanden sein
wird.
Aus diesen Gesichtspunkten heraus ergibt sich ohne weiteres die
Forderung nach einer sorgfältigen Pflege der Wäsche, insbesondere im
Waschverfahren. Wenn ich mir auch darüber im klaren bin, daß meine
Ausführungen größtenteils auf theoretischer Seite liegen und daher auch
nur mehr theoretischen Wert haben, so möchte ich doch, daß mancher
fachlich Interessierte seine Rückschlüsse zieht für die praktische Arbeit.
Die Lebensdauer der Wäsche ist eine begrenzte; sie ist ganz all¬
gemein abhängig eimnal von ihrer Qualität, zum andern aber von ihrer
Behandlung. Die stärkste Beanspruchung erfährt die Wäsche durch die
Benutzung und im Wasch verfahren. Ist eines von beiden fehler- oder
mangelhaft, so ist frühzeitiger Verschleiß die Folge.
Das Waschverfahren ist vorwiegend ein chemischerVorgang, in zweiter
Linie erst ein mechanischer. Grundstoff für das Waschen ist das Wasser,
das in überaus reichem Maße auf der Erde vorhanden, jedoch nicht immer
gerade auch für den Waschprozeß geeignet ist. Es ist oftmals nicht leicht,
den Laien davon zu überzeugen, daß Wasser und Wasser in Wirklichkeit
nicht dasselbe ist. Die chemische Zusammensetzung und die sonstigen
Eigenschaften des Wassers sind bekannt; erwähnt sei nur, daß es für
viele chemische Elemente und Verbindungen das natürlich gegebene
Lösungsmittel darstellt. So ist es ohne weiteres erklärlich, daß Wasser
in reiner Form, also nur aus zwei Atomen Wasserstoff und einem Atom
Sauerstoff bestehend, in der Natur überhaupt nicht vorkommt. Vielmehr
befinden sich im Wasser gelöste mineralische Bestandteile, die in der
Hauptsache aus Kalk- und Magnesiumverbindungen bestehen. Um diese
Bestandteile auf einen Nenner zu bringen, hat man 1 g Calciumoxyd
auf 100 1 Wasser als einen deutschen Härtegrad bezeichnet. Man nennt
also Wasser, das Kalk- und Magnesiumbestandteile enthält, hart und
solches ohne oder nur mit geringen Einlagerungen weich. Die Zahl der
Härtegrade ist nach der Art der Bodenbeschaffenheit sehr verschieden.
Nicht allein die sogenaimten Härtebildner sind es, die für den Ver¬
wendungszweck des Wassers eine Rolle spielen; die Beschaffenheit des
Wassers wird ferner noch beeinflußt durch Eisen- und Mangangehalt,
durch Gasverbindungen (Kohlensäure) und durch Verunreinigungen, die
in seinem Ursprung begründet liegen.
Diese Vorbetrachtung war notwendig, um klarzustellen, welche Be¬
wandtnis es mit der Härte des Wassers im Wasch verfahren hat. Die
Härtebildner sind erbitterte Feinde der Seife. Sie entziehen dem Wasch-
Prozeß Seife oder seifenhaltige Waschmittel, und das in nicht unbeträcht¬
lichem Maße. Ein Härtegrad vernichtet in 100 1 Wasser etwa 16 g Seife,
indem sich die Kalksalze des Wassers mit einem Teil der Seife zu fett¬
saurem Kalk (Kalkseifen) verbinden. Die Kalkseifen sind im Wasser
nicht löslich, sie scheiden vielmehr als graues Gerinnsel an der Ober¬
fläche aus. Dadurch ist die der Seife eigene Waschkraft genommen.
149
f
Hierin liegt einmal der Kernpunkt der Bedeutung des Wassers für
den Waschprozeß. Wir erkennen die Gefahr einer geradezu ungeheuren
Seifenverschwendung, die überall da auftaucht, wo nicht zu einem wirk¬
samen Gegenmittel gegriffen wird. Die Seifen werden bekanntlich aus
Fetten hergestellt, und da uns Fette keineswegs in ausreichendem Maße
zur Verfügung stehen, ist es für die deutsche Wirtschaft eine unabweis¬
bare Pflicht, mit ihren Fettrohstoffen rationell zu wirtschaften.
Hartes Wasser ist daher schon aus diesem Grunde für das Wasch¬
verfahren als ungeeignet abzulehnen. Die Seifenverschwendung ist jedoch
nicht die einzige Folge der Wirkung der Härtebildner, die Wäsche selbst
\vird in Mitleidenschaft gezogen. Ehe ich darauf eingehe, will ich in
kurzen Zügen die Beschaffenheit eines Gewebes beschreiben. Betrachtet
man ein Gewebe, so sieht man, daß es aus Fäden besteht, und diese wieder¬
um aus Fasern. Von den Fasern ist der Wert eines Gewebes zunächst
abhängig. Natur- und Kunstseide bilden von Natur aus schon einen zu¬
sammenhängenden Faden, alle anderen Fasern werden in einem besonderen
Arbeitsgang, dem Spinnprozeß, aneinandergeknüpft und umeinandergedreht
und bilden sodann das Garn. Der Wert des Gewebes bestimmt sich neben
der Güte der Faser und dem Spinnprozeß außerdem noch nach dem Web-
und Wirkprozeß.
Die im Wasser nicht löslichen Kalkseifen setzen sich im Gewebe fest;
sie umgeben die Fasern und krusten sie ein. Das hat zunächst zur Folge,
daß das Gewebe hart und dadurch brüchig wird. Wenn in den Kalkseifen
dann noch gelöster Schmutz enthalten ist, bekommt die Wäsche ein graues
und unansehnliches Aussehen, außerdem noch einen unangenehmen Geruch.
Die Gefahr des vorzeitigen Verschleißes ward, wenn überhaupt, durch
spätere Behandlung der Wäsche nur sehr schwer wieder behoben werden
können.
Eine weitere Folge des harten Wassers ist die Bildung des soge¬
nannten Kesselsteins, der insbesondere für die Waschgeräte, Maschinen,
Rohrleitungen und Kessel von Nachteil ist. Er mindert die Rotations¬
fähigkeit der Maschinen herab und, da er sehr hart und zufolgedessen
schwer löslich ist, gefährdet das Material selbst.
Endlich aber wird durch das Verkrusten der Kessel usw. mit Kessel¬
stein ein erhöhter Brennstoffbedarf notwendig.
Das harte Wasser ist aus diesen Gründen von vornherein für das
Waschverfahren ungeeignet.
Die Bedeutung des Wassers für das Waschverfahren stellt daher nicht
nur für die Vollzugsanstalten ein Problem im Sinne des § 26 der Reichshaus¬
haltsordnung dar; darüber hinaus wird sie zu einem volkswirtschaftlichen
Problem großen Umfangs. Fettrohstoffe, Spinnstoffwaren, Eisen und
Brennstoffe — das alles sind Dinge, die bei der gegenwärtig angespannten
Wirtschaftslage des Deutschen Reiches nicht vergeudet werden dürfen.
Da man annehmen muß, daß eine solche Vergeudung meist nur unbewußt
und ungewollt geschieht, ist eine Aufklärung in dieser Hinsicht umso
mehr am Platze.
Das natürlich gegebene weiche Wasser ist das Regenwasser. Durch die
Sonnenbestrahlung wird es einer Destillation unterzogen; es enthält zu¬
folgedessen keine mineralischen Bestandteile mehr, nur etwas Staub und
einige Gase aus der Luft. Regenwasser eignet sich vorzüglich zum
Waschen. Größere Vollzugsanstalten können ihren Waschwasserbedarf
allerdings nicht mit Regenwasser decken, kleinere Anstalten aber sollten
stets eine Regentonne zum Sammeln bereit haben.
150
Die Enthärtung des Wassers erfolgt auf einfachste Weise durch Soda.
Empfehlenswert ist es, die Soda in heißem Wasser aufzulösen und diese
Lösung dann dem Waschwasser beizugeben. Auch braucht Soda Zeit,
den Kalk des harten Wassers zu binden. Eine Beigabe von zuviel Soda
schadet der Wäsche. Die Sodalösung ist auf die Wäsche selbst am wenig:
sten wirkungsvoll in kaltem Zustand. Dies gilt besonders für das Ein¬
weichbad, weil hier überhaupt keine oder zunächst nur wenige Wasch¬
mittel zugegeben werden. Daher kalt einweichen! Durch diese Ent¬
härtungsweise wird das Wasser jedoch nicht restlos von den Härtebildnem
befreit. Für das Waschverfahren ist aber Wasser mit noch 3—5 Härte¬
graden nicht mehr nachteilig. Zur Beigabe der Soda zur Wasserenthärtung
bedarf es einer ständigen Beaufsichtigung des Wäschereipersonals, damit
von vornherein eine reibungslose Abwicklung des Waschprozesses durch
Vorhandensein von weichem Wasser gewährleistet wird.
Größere Vollzugsanstalten bedienen sich zur Wasserenthärtung der
Permutitanlage. Im Permutitverfahren wird die Enthärtung nicht durch
Zusätze bewirkt; sie besteht vielmehr in einer Filtration des Rohwassers
durch die Permutite (Verschmelzung von Feldspat, Kaolin, Ton, Sand und
Soda). Nach derSättigung der Permutite, d. h., nachdem sie sich mit den Cal¬
cium- und Magnesiumverbindungen vereinigt haben, erfolgt die Rege¬
nerierung durch Spülen mit einer Salzlösung.
Ich will nun nicht etwa den Hergang des Waschverfahrens im ein¬
zelnen schildern, dieser dürfte hinreichend bekannt sein. Es soll lediglich
auf bestimmte Vorgänge näher eingegangen werden, die für den Erfolg
des Waschens von entscheidendem Einfluß sind.
Hier ist in erster Linie das Einweichbad zu nennen. Allgemein
gesehen soll durch das Waschen derSchmutz von derWäsche entfernt werden.
Was verstehen wir in dieser Beziehung unter Schmutz? Insbesondere in
der Leibwäsche befinden sich ausgedunstete Bestandteile des menschlichen
Körpers, wie Schweiß, Hauttalg, Blut usw.; hierzu kommen Staub und
andere Verunreinigungen. Der Schweiß in der Leibwäsche ist von saurer
Beschaffenheit, er enthält hauptsächlich Eiweißverbindungen. Die ver¬
dunstbaren Bestandteile des Schweißes setzen sich an den Gewebefasem
fest, jedoch ist ein Teil von ihnen ohne weiteres im Wasser löslich. Die
Temperatur des Wassers darf aber keineswegs so hoch sein, daß die Ei¬
weißstoffe gerinnen.
Hierin ist schon die Wichtigkeit des Einweichbades zu erkennen. Bei
vollkommener Ruhe — am besten über Nacht — löst sich unter Aufquellen
der Fasern ohne jeden Zusatz von Hilfsmitteln bereits ein Teil des
Schmutzes von der Wäsche ab. Werden Waschmittel im Einweichbad zu¬
gesetzt, so ist es selbstverständlich, daß das Wasser weich sein muß, um
die Bildung von Kalkseifen zu verhindern.
Die mechanische Behandlung des Gewebes im Waschverfahren ist
mit größter Vorsicht vorzunehmen. Je nach dem Verschmutzungsgrad
und der Beschaffenheit der Wäsche wird sie verschieden sein müssen;
z. B. ist es erforderlich, mit der Leinenwäsche besonders vorsichtig um¬
zugehen, während bei stark verschmutzter, strapazierfähiger Handwerker¬
wäsche sogar ein Zusatz von Reinigungsmitteln am Platze ist. Hier sei
nur am Rande bemerkt, daß es auch notwendig ist, die schmutzige Wäsche
nach ihrer Art und dem Grade ihrer Verschmutzung zu sortieren.
Art und Umfang der mechanischen Behandlung der Wäsche sind
immer abhängig von der geleisteten Vorarbeit. Ist das Wasser ordnungs¬
gemäß enthärtet, ist das Einweichbad sachgemäß durchgeführt, werden
151
jTute Waschmittel verwandt, dann wird die Wäsche einer weit weniger
starken Beanspruchung durch die Waschrumpel oder -maschine ausgesetzt
sein. Daß dadurch das Gewebe nur geschont wird, leuchtet jedem ein.
Die Wäsche mit der Bürste zu bearbeiten, ist heute nicht mehr zeit¬
gemäß, weil der Schmutz auf andere, bessere Weise entfernt werden
kann. Darüber hinaus aber schadet die Bürste dem Gewebe in erheblichem
Maße.
In größeren Betrieben erfolgt die mechanische Einwirkung auf die
Wäsche durch die Waschmaschine. Der Erfolg dieses Teiles des Wasch¬
prozesses hängt hauptsächlich von der bereits besprochenen geleisteten
Vorarbeit, von der Eigenart und der richtigen Bedienung der Maschine ab.
Die Waschtrommel darf mit Waschgut nicht überladen werden, sie
wird zweckmäßig nur bis etwa 2/3 ihres Fassungsvermögens gefüllt. Bei
übermäßiger Beschickung der Waschtrommel kann die Lauge das Gewebe
nicht richtig durchdringen und vom Schmutz befreien.
Über das Verfahren beim Waschen in der Maschine im einzelnen zu
sprechen, würde nicht ausreichend geschehen können, da wegen der ver¬
schiedenen Eigenart der Maschinen einheitliche Richtlinien kaum zu geben
sind. Hierüber geben vielmehr die Bedienungsvorschriften der Maschinen
Aufschluß.
Das eigentliche Wasch verfahren wäre imvollständig, wenn es nicht
durch einen sachgemäßen Spülvorgang abgeschlossen würde. Das Spülen
verfolgt allgemein den Zweck, die fetthaltigen Seifenrückstände und die
gelösten Schmutzteilchen aus dem Gewebe zu beseitigen. Diese Rück¬
stände müssen unbedingt entfernt werden, dazu genügt nicht nur eine
Spülung, sondern mindestens zwei. Daß das Spülen der Wäsche genau
so sorgsam wie andere Vorgänge des Waschverfahrens, z. B. das Ein¬
weichbad, gehandhabt werden muß, ist aus folgendem ersichtlich:
Geschieht die erste Spülung mit heißem, aber hartem Wasser, gehen die
Kalkbestandteile des Wassers mit den Seifenresten doch noch die schäd¬
lichen Verbindungen ein, die hier umso nachteiliger wirken, weil sich der
Vorgang tief im Gewebe unter hoher Temperatur abspielt. Geschieht die
erste Spülung mit weichem, aber kaltem Wasser, so gerinnen die fett¬
haltigen Bestandteile der Seife, und, da in diesen Bestandteilen gelöster
Schmutz eingeschlossen ist, entstehen ebenfalls der Wäsche schädliche
Ablagerungen. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß die erste Spülung
unbedingt mit heißem und weichem Wasser geschehen muß. Am besten
wird bei der zweiten Spülung ebenso verfahren. Beachtenswert ist, daß
bei den Spülungen nicht zuviel Wasser verwandt werden darf.
Beim Trockenschleudem der Wäsche in der Zentrifuge ist zu emp¬
fehlen, die Außenwand mit einer Einlage zu versehen. Dadurch wird er¬
reicht, daß die Fasern durch den Schleuderprozeß einer weniger starken
Zerrung an der gelochten Zentrifugenwand ausgesetzt sind.
Erfolgt das Trocknen der Wäsche in einem dampfgeheizten Trocken¬
apparat, so ist dessen Temperatur sorgfältig zu überwachen. Bei Über¬
hitzung findet eine Übertrocknung der Wäsche statt, das Gewebe ivird
dadurch gedörrt und der Verschleiß gefördert.
Viele praktische Ratschläge ließen sich noch anführen und beweisen.
Wir ersehen, daß die richtige Behandlung der Wäsche eine Vielzahl von
Kenntnissen voraussetzt. Wir ersehen aber auch, daß das Gelingen einer
guten Wäsche oft von der Beachtung einer Kleinigkeit abhängt. Jeder
Wirtschafts- und Arbeitsinspektor sollte sich darüber klar sein, daß ihm
in der Wäsche wertvolles Gut anvertraut ist, das ihm nicht so leicht
wieder ersetzt werden kann.
152
Zum Schluß ein Wort noch über die Wäscheschäden allgemein:
Beschädigungen an der Wäsche können auf die verschiedenste Art ent¬
stehen, ihre Zahl ist fast unbegrenzt. Die Textilforschung ist jedoch
heute in der Lage, bei jeder Beschädigung deren Ursache feststellen zu
können. Es kommt für uns aber weniger darauf an, die Tatsache und
die Ursache einer Beschädigung nachträglich festzustellen, als vielmehr
darauf, aus der Erkenntnis der Ursache der Entstehung von Schäden
vorzubeugen.
Aus der Gefängnisverwaltung
Allgemeine Verfügungen des RJM.
Tragen von Abzeichen der NSDAP., ihrer Gliederungen u. angeschlossencn
Verbände zur Dienstbekleidung. AV. v. 16. 6. 1941 — Dt. Just. S. 727 —.
Gilt für Beamte mit Dienstaufgaben eines Gerichtsvollziehers oder
Justizvollstreckungsassistenten.
WeitergewährungderDienstbezUgean nichtbeamtete Gefolgschaftsmitglieder
bei Einberufung zum Wehrdienst, AV. v. 7. 6.1941 — Dt. Just. S. 727 —.
Bctr. Weitergewährung der Dienstbezüge an Arbeiter und An¬
gestellte des öffentlichen Dienstes, die zur Erfüllung ihrer aktiven
Dienstpflicht vor dem 26. 8. 1939 ausgeschieden sind. Neubegrün¬
dung eines Dienstverhältnisses zu diesem Zweck.
Reisebeihilfen für nach den Ostgebieten usw. abgeordnete Justizbedienstete.
AV. vom 20. 6. 1941 — Dt. Just. S. 727 —.
Der RdErl. vom 30. 4. 1941 — RBB. S. 134 Nr. 3730 — findet
auch auf die Sonderregelungen;
1. vom 16. 11. 1939 (RBB. S. 320) und vom 19. 12. 1940 — Dt. Just.
S. 1427 — für die eingegliederten Ostgebiete und die ehemalige
Freie Stadt Danzig,
2. vom 14. 6. 1939/6. 3. 1941 (RBB. S. 170/104 und vom 18. 12.
1940 — Dt. Just. S. 1427 — für das Protektorat Böhmen und
Mähren, entsprechend Anwendung.
Gefangenensammeltransporte. AV. vom 19. 6. 1941 — Dt. Just. S. 728 — .
Hinweis darauf, daß Gefangene auf Transport nicht Geld, Taschen¬
messer, Rasierklingen und andere Gegenstände bei sich führen,
durch welche die Sicherheit der Transporte gefährdet wird.
Einbehaltungsbeträge nach der Preuß. Einbehaltungsverordnung. AV. vom
26. 6. 1941 — Dt, Just. S. 743 —.
Regelung der Auszahlung der Einbehaltungsbeträge.
Anwendung des Einheitsmietvertrages für Baugeräte auf Mietverträge
mit Ausländem. Gemeinsamer RdErl. des RJM. u. des Reichskom¬
missars f. d. Preisbildung vom 23. 5. 1941 — Dt. Just. S. 744 —.
Einbehaltung von Mitgliedsbeiträgen für die Deutsche Arbeitsfront. AV.
vom 24. 6. 1941 — Dt. Just. S. 744 —,
Neue Fassung der Nr. 1 u. 2 der AV. vom 19. 4. 1937 — Dt. Just.
S. 602; KRZ. Nr. 142 —.
Kosten der Vollstreckung der von den H- und Polizei-Gerichten verhängten
Freiheitsstrafen in Jusfizvollzugsanstalten. AV. vom 27. 6. 1941 — Dt.
Just. S. 744 —.
Diese Kosten fallen nicht unter den Erstattungsverzicht nach dem
RdErl. vom 21. 6. 1940 (RMBliV. S. 1547).
153
Vollstreckung des Jugendarrestes bei Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes.
AV. vom 30. 6. 1941 — Dt. Just. S. 744 —.
Zurückstellung der Vollstreckung bei Einberufung des Verurteilten
zum Reichsarbeitsdienst, auch für die Dauer der ggf. nachfolgen¬
den Militärdienstzeit.
Arbeitseinsatz von Tuberkulösen. AV. vom 1. 7. 1941 — Dt. Just. S. 762 —.
Hinweis auf die meist begrenzte Ansteckungsfähigkeit der Tuber¬
kulose.
Führung der Bezeichnung „Frau“ durch unverheiratete weibliche Personen.
AV. vom 10. 7. 1941 — Dt. Just. S. 775 —.
Bekanntgabe des RdErl. d. RMdJ. v. 24. 6. 1941 (RMBliV. S. 1181)
betr. Bearbeitung von Namensänderungsanträgen und Führung der
Bezeichnung „Frau“ durch unverheiratete Personen.
Erntehilfe 1941. AV. vom 17. 7. 1941 — Dt. Just. S. 791 —.
Sonderurlaub unter Fortgewährung der Bezüge bis zu 2 Wochen
ohne Anrechnung auf den Erholungsurlaub.
Änderung der AV. über den Jugendstrafvollzug vom 22. 1. 1937. AV.
vom 16. 7. 1941 — Dt. Just. 793 —.
An die Stelle der §§ 1—8 sind neue Vorschriften getreten.
Beköstigung der Gefangenen auf eigene Rechnung eines Justizbediensteten.
AV. vom 17. 7. 1941 — Dt. Just. S. 793 —.
Einheitliche Regelung der Vergütung für die Gefangenenbekösti¬
gung bei Übertragung der Beköstigungswirtschaft auf einen Auf-
sichtsbeamten oder anderen Justizbediensteten.
Rehabilitierung bestrafter Jugendlicher. AV. vom 23. 7. 1941 — Dt. Just.
S. 795 —.
Prüfung, ob vorzeitig beschränkte Auskunft über die Verurteilung
anzuordnen ist.
Abführung der Lohnsteuer und der Bürgersteuer durch die Justizkassen.
AV. vom 24. 7. 1941 — Dt. Just. S. 807 —.
Neue Bestimmungen an Stelle der AV. vom 22. 3. 1937 — Dt. Just.
S. 480; KRZ. Nr. 153 — über Abführung und Buchung der Lohn¬
steuer und der Bürgersteuer.
Änderung der Durchführungsverfügung zu den Reisekostenbestimmungen.
AV. vom 29. 7. 1941 — Dt. Just. S. 808 —.
Reisekostenvergütung für Beamte im Vorbereitungsdienst usw.
Änderung der DurchfUhrungsverfügung zu den Umzugskostenbestimmungen.
AV. vom 30. 7. 1941 — Dt. Just. S. 809 —.
Betr. Umzugsanordnung, Beschäftigungsvergütung usw.
Dritte Änderung der Strafvollzugsordnung. AV. vom 28. 7. 1941 — Dl.
Just. S. 810 —.
Änderung der Nr. 4 u. 165 der Strafvollzugsordnung v. 22. 7. 1940.
Zweite Richtlinien über Art u. Umfang des Beitragens bei der Ausführung
von behelfsmäßigen Luftschutzräumen und von Brandmauerdurch¬
brüchen in bestehenden Gebäuden. AV. vom 5. 8. 1941 — Dt. Just.
S. 823 —.
Beitragen zur Einrichtung von behelfsmäßigen Luftschutzräuinen
und Erstattung von Einrichtungs- und anderen Kosten durch das
Reich.
154
Verhäni^ung von Jugendarrest durch die Polizei. AV. vom 7. 8. 1941
— Dt. Just. S. 843 —.
Bekanntgabe des RdErl. des Reichsführers-ii und Chefs der
Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 23. 6. 1941
— RMBUV. S. 1169 —.
Winterhilfswerk 1941/1942. AV. vom 18. 8. 1941 — Dt. Ju.st. S. 857 —.
Aufbringung der Mittel für das Winterhilfswerk des deutschen
Volkes 1941/1942 wie bisher.
Urlaub für verheiratete Beamte bei Besuchsreisen. AV. vom 16. 8. 1941
— Dt. Just. S. 857 —.
Zur Durchführung von Reisen zum Besuch der Familie kann ver¬
heirateten und diesen gleichgestellten unverheirateten Beamten
ein Zusatzurlaub bis zu 12 Kalendertagen jährlich gewährt werden.
Bestimmungen über Beihilfe und Unterstützungen. AV. vom 20. 8. 1941
— Dt. Just. S. 873 —.
Hinweis auf die Neuausgabe der Bestimmungen über Beihilfen
und Unterstützungen für die Justizverwaltung (BUZ.). Sammel¬
bezug durch Behördenangehörige.
Gewährung von Vorschüssen in besonderen Fällen. AV. vom 29. 8. 1941
— Dt. Just. S. 890 —.
Gewährung eines unverzinslichen Vorschusses auf die Dienstbezüge
bis zur Höhe von 40 0lf(, für die Beschaffung von Kartoffeln für
. den Winter.
Herrichtung und Ausbessern von Notwohnungen. AV. vom 2. 9. 1941 — Dt.
Just. S. 890 —.
Ausnahmen vom Neubauverbot für leben.snotwendige Unter-
haltungs- und Instandsetzungsarbeiten und für Bauvorhaben mit
einer Gesamtbausumme bis zu 5 000 iHH.
Sammlungen in den Diensträumen öffentlicher Behörden und Betriebe.
AV. vom 5. 9. 1941 — Dt. Just. S. 906 —. (AV. vom 26. 1. und 17. 8
1940 — Dt. Just. S. 151 und 961 —).
Bekanntgabe des RdErl. des Reichsministers des Innern vom 30. 6.
1941 — II 1804/41 — 6960 — betr. Aufhebung der RdErl. v. 9. 1.
und 1. 8. 1940 (RMBüV. S. 67, 1574).
Aufhebung der Deutschen Dienstpost in Luxemburg. AV. vom 9. 9. 1941
— Dt. Just. S. 906 —.
Eine besondere Kennzeichnung der Sendungen nach Luxemburg
ist nicht mehr erforderlich.
Deutsche Dienstpost im Bezirk Bialystock und im Distrikt Galizien. AV.
vom 9. 9. 1941 — Dt. Just. S. 906 —.
Neueinrichtung einer Deutschen Dienstpost in den neubesetzten
Gebieten von Bialystock und Galizien.
Erholungszeit nach Entlassung aus dem Wehrdienst (Reichsarbeitsdienst)
usw. bei dem besonderen Einsatz der Wehrmacht. AV. vom 12. 9. 1941
— Dt. Just. S. 920 —.
Änderung der AV. über den Jugendstrafvollzug vom 22. 1. 1937 u. zweite
und dritte Änderung der Strafvollzugsordnung v. 22. 7. 1940. AV.
vom 11. 9. 1941 — Dt. Just. S. 921 —.
Inkraftsetzung einschlägiger Bestimmungen für die deutschen
Justizbehörden im Protektorat Böhmen und Mähren.
155
Einführung des Straftilgungsgesetzes und der Strafregisterverordnung in
den Reichsgauen der Ostmark. AV. vom 26. 9. 1941 — Dt. Just.
S. 958 —.
Ersuchen um Auskunft aus dem Strafregister. AV. vom 25. 9. 1941 — Dt.
Just. S. 960 —.
Bezeichnung der Stellen, an die Ersuchen um Auskunft aus dem
Strafregister zu richten sind.
Änderung der vorläufigen Arbeitsverwaltungsordnung. AV. vom 27. 9.1941
— Dt. Just. S. 961 —.
Änderung des § 30 Abs. 2, § 31 Abs. 1 u. § 33 Abs. 2 der AVO.
vom 14. 3. 1936.
WohnungsfUrsorge für Reichsbedienstete. AV. vom 1. 10 .1941 — Dt. Just.
S. 972 —.
Gewährung zinsloser Darlehen zum Erwerb von Genossenschafts¬
anteilen zum Zwecke derErlangung von Genossenschaftswohnungen.
Personalnachrichten
Beamte des höheren Strafvollzugsdienstes
Ernannt:
Regierungsrat Schmidhäuser in Heilbronn zum Oberregierungs¬
rat in Freiburg (Breisg.),
Regierungsrat Dr. F a b e r in Werl zum Oberregierungsrat daselbst,
Gerichtsassessor von Rüdiger zum Regierungsrat in Leipzig,
Verwaltungsamtmann Lehsmann zum Regierungsrat in Gütersloh
(StrGefLager Oberems),
Verwaltungsamtmann B1 e c h a in Garsten zum Regierungsrat da¬
selbst.
Versetzt:
Oberregierungsrat M a r 1 o h in Rawitsch nach Gollnow,
Staatsanwalt Wiedemann in Berlin als Regierungsrat nach Luckau,
Regierungsrat Kodre in Kaiser-Ebersdorf nach Stein (Donau),
Regierungsrat Dr. Thümmler in Leipzig-Kleinmeusdorf nach
Zwickau,
Regierungsrat Händel in Mürau nach Mannheim-Heidelberg,
Regierungsrat Dr. Westenberger in Rheinbach als Amtsge¬
richtsrat nach Wuppertal,
Regierungsrat Dr. Rudolph in Kislau nach Heilbronn,
Regierungsrat Fratzscher in Rendsburg nach Neumünster,
Regierungsrat Dreschke in Bautzen nach Rheinbach.
Beamte des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes
Ernannt:
Verwaltungsoberinspektor Schürer von Waldheim in Hirten¬
berg zum Verwaltungsamtmann daselbst,
Verwaltungsoberinspektor Gervers in Wittlich zum Verwaltungs¬
amtmann in Brieg,
Oberlehrer Östreicher in Straubing zum Verwaltungsamtmann
in Dortmund (beschäftigt in Straubing),
Oberlehrer Mayer (Franz) in Wien I zum Verwaltungsoberinspektor
in Salzburg,
Verwaltungsinspektor Tetzner in Chemnitz zum Verwaltungsober¬
inspektor daselbst,
Verwaltungsinspektor Mack in Breslau zum Verwaltungsober¬
inspektor in Gleiwitz,
Verwaltungsinspektor Ritter in Reichenbach (Eulengeb.) zum Ver¬
waltungsoberinspektor in Beuthen (Oberschi.),
Verwaltungsinspektor R a b s a h 1 in Spandau zum Verwaltungsober¬
inspektor in Brandenburg (Havel)-Görden,
Verwaltungsinspektor W i 11 e r in Salzburg zum Verwaltungsober¬
inspektor in Wien I,
a. pl. VInsp. K e 1 p i n zum Verwaltungsinspektor in Pr. Stargard,
a. pl. VInsp. K o n z e zum Verwaltungsinspektor in Neisse,
a. pl. VInsp. Dr. D e x i n g e r zum Verwaltungsinspektor in Wien II,
a. pl. VInsp. Brückner zum Verwaltunginspektor in Lingen (Ems),
a. pl. VInsp. Adam zum Verwaltungsinspektor in Landsberg
(Warthe),
a. pl. VInsp. F r e r i c h s zum Verwaltungsinspektor in Hameln,
a. pl. VInsp. Stegemann zum Verwaltungsinspektor in Graz,
a. pl. JInsp. Wildhirt zum Verwaltungsinspektor in Klagenfurt,
a. pl. VInsp. Stöber zum Verwaltungsinspektor in Groß-Strehlitz,
a. pl. VInsp. Heß (Hermann) zum Verwaltungsinspektor in Ichters¬
hausen,
a. pl. VInsp. P a p i e s zum Verwaltungsinspektor in Herford,
a. pl. VInsp. Sprang zum Verwaltungsinspektor in Vechta,
a. pl. VInsp. M i e 1 k e zum Verwaltungsinspektor in Schröttersburg,
a. pl. VInsp. B 1 e i s e zum Verwaltungsinspektor in Tapiau,
a. pl. VInsp. Witt zum Verwaltungsinspektor in Celle,
a. pl. VInsp. Ringleb zum Verwaltungsinspektor in Waldheim
(Sachsen),
a. pl. VInsp. H e y n a zum Verwaltungsinspektor in Leipzig,
a. pl. VInsp. D ö 11 e zum Verwaltungsinspektor in Schneidemühl,
a. pl. VInsp. Schachinger zum Verwaltungsinspektor in Suben,
a. pl. VInsp. Eidracher zum Verwaltungsinspektor in Rockenberg
(Marienschloß),
a. pl. VInsp. Havekost zum Verwaltungsinspektor in Zwickau
(Sachsen),
a. pl. VInsp. Werner (Kurt) zum Verwaltungsinspektor in Stettin,
a. pl. VInsp. Storch zum Verwaltungsinspektor in Salzburg,
a. pl. VInsp. K e i p k e zum Veiwaltungsinspektor in Naugard,
a. pl. VInsp. Binder zum Verwaltungsinspektor in Griebo (Gef.-
Lager Elberegulierung),
a. pl. VInsp. G o e b e 1 s zum Verwaltungsinspektor in Waldheim
(Sachsen),
a. pl. VInsp. Wende zum Verwaltungsinspektor in Kattowitz,
a. pl. VInsp. Klette zum Verwaltung-sinspektor in Krone (a. d.
Brahe),
Oberverw. Fink zum Verwaltungsinspektor in Amberg,
Oberv’erw. Wagner (Johann) zum Verwaltungsinspektor in Straubing,
VerwSekr. S e d i n g zum Verwaltungsinspektor in Stettin,
JustSekr. Klein (Felix) zum Verwaltungsinspektor in Spandau,
Verwaltungssekretär Ostendorf zum Verwaltungsinspektor in
Hamburg-Stadt,
Verwaltungsassistent Dürr zum Verwaltungsinspektor in Freiburg
(Breisg.).
157
Versetzt:
Verwaltungsoberinspektor Möller in Dortmund nach Gütersloh
(StrGefLager Oberems),
Verwaltungsoberinspektor Köhler in Stollberg (Hoheneck) nach
Eger,
Verwaltungsoberinspektor Röhrich in Beuthen (Oberschl.) nach
Kattowitz,
Verwaltungsinspektor Dzialkow'ski in Neuruppin als Justiz¬
inspektor an die StA. in Prag,
Verwaltungsinspektor Dudeck in Beuthen (Oberschi.) als Justiz¬
inspektor an die StA. in Breslau,
Verwaltungsinspektor Grundmann in Tapiau nach Königsberg.
In den Ruhestand getreten:
Verwaltungsinspektor Steglich in Waldheim (Sachsen),
Verwaltungsinspektor G r o t h in Naugard, .
Verwaltungsinspektor Ziegler in Stettin.
Verstorben:
Verwaltungsinspektor Bock in Herford,
Verwaltungsinspektor Sommer in Frankfurt (Main),
Verwaltungsinspektor K a m i n s k i in Braunsberg,
Verwaltungsinspektor E i c h 1 e r in Bautzen.
Ausgeschieden :
Verwaltungsinspektor Barsch in Berlin infolge Übernahme in den
Dienst der Luftwaffe.
Geistliche
Versetzt:
Pfarrer Schräder vom Frauen.strafgefängnis Berlin an das Straf¬
gefängnis Tegel in Berlin.
Oberlehrer
In den Ruhestand getreten:
Oberlehrer Jonas in Werl.
Ausgeschieden:
Oberlehrer Schulz (Hans) infolge Übernahme in den Volk.sschul-
dienst.
Schrifttum
Bücher Inland
Der Deutsche Strafprozeß. Lehrbuch von Professor Dr. Robert von
Hippel, Geh. Justizrat in Göttingen. Marburg. N. G. Elweitsche
Verlagsbuchhandlung. 1941. 736 Seiten. 18,50 <^/f.
Seinen früheren Werken über materielles Strafrecht läßt der Ver¬
fasser nunmehr eine Darstellung des deutschen Strafprozesses folgen, den
er, wie er in seinem Vorwort sagt, „von 1877—79 als Schöpfung des ge¬
einten Deutschen Reichs schon frühzeitig mitarbeitend erlebt und ihn dann
bis zur Gegenwart mitarbeitend, auch durch stürmische Reformperioden,
158
hat verfolgen können“. Schon ein Blick in da.s Inhaltsverzeichnis läßt er¬
kennen, welche Sorgfalt er der Durcharbeitung und Gliederung des umfang¬
reichen Stoffes entgegengebracht hat, und der Inhalt des Werkes bestätigt
diesen Eindruck. In klarer und anschaulicher Weise und unter Nutzung
einer schaj'fen systematischen Anordnung schildert der Verfasser das Wesen
und die Bestimmungen unseres Strafverfahrens, setzt sich mit den ein¬
schlägigen Problemen auseinander und gibt seine eigenen sachlichen An¬
sichten wieder. Besonders erwähnt seien seine klare Scheidung von
Grundgedanken einzelner Rechtseinrichtungen — vgl. zum Beispiel § 51
über Gerichtshilfe —, seine Hervorhebung einzelner Bestimmungen auch
in ihrer Wirkung — zum Beispiel § 66 über Vorführung, Verhaftung und
Vorläufige Festnahme — so wie allgemein seine scharfe Herausarbeitung
der leitenden juristischen Grundgedanken und deren Folgerungen,
Eine längere Darstellung der geschichtlichen Entwickelung des Straf¬
prozesses erhöht den Wert des Werkes und vermittelt ein anschauliches
Gesamtbild über das Werden der Rechtsanschauungen, die jetzt den Gang
unseres Strafverfahrens regeln. Durch einen Überblick über das Recht
des Auslandes wird dieses Gesamtbild ergänzt und abgerundet.
Das Buch, dessen Benutzung durch ein ausführliches Sachverzeichnis
erleichtert wird, berücksichtigt die Rechtsentwickelung bis zur Zeit des
Kriegsausbruches gegen Polen, September 1939, und behandelt in seinem
Schlußteil auch die neue Kriegsgesetzgebung in einer Darstellung, w’elche
die Zeit bis Ende Mai 1941 umfaßt. Für wichtige Neuerungen sind Nach¬
träge des Werkes vorgesehen. Landgerichtsdirektor B u r c z e k , Berlin.
Kriminalistische Abhandlungen, herausgegeben von Professor Dr. E x n e r -
München, Dr. Emst Wiegandt Verlagsbuchhandlung Leipzig.
Heft XLIV, Dr. Alfred Hoffmann, Unfruchtbarmachung und Kriminali¬
tät, 104 Seiten, 2,50 1940.
Nachdem im ersten Teil die Bedeutung und Anw’endung der Unfrucht¬
barmachung behandelt sind, folgt im zweiten Teil eine Darstellung der
eigenen Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Unfruchtbar¬
machung und Verbrechen, die zur Beantwortung der Frage dienen sollten,
inwieweit durch die Sterilisierungsmaßnahmen des Gesetzes auch asoziale
und kriminelle Nachkommen verhütet werden. Rund 4000 Beschlüsse von
Erbgesundheitsgerichten, in denen die Unfruchtbarmachung angeordnet
worden ist, liegen den Untersuchungen zu Grunde, davon 53,60 % an
Männern und 46,40 % an Frauen. Der Grund der Unfruchtbarmachung
lag in 43,33 % der Fälle in angeborenem Schwachsinn und in 34,81 % in
Schizophrenie, während hinter diesen Zahlen die übrigen gesetzlichen
Gidinde — darunter schwerer Alkoholismus mit 3,73 % der Fälle — zahlen¬
mäßig stark zurücktraten.
Als kriminell waren jedoch von den rund 4 000 Untersuchten nur 353,
also annähernd 9 % zu betrachten, also ein überraschend geringer Hundert¬
satz. Daraus läßt sich wohl der Schluß ziehen, daß durch die Unfrucht-
bannachung eine merkbare Verringerung der Kriminalität nicht erwartet
werden kann.
Heft XLV, Dr. Sigmund Silbereisen, Die spätere Straffälligkeit
jugendlicher Rechtsbrecher, 71 Seiten, ‘IMH, 1940.
Die Tatsache, daß 40 % aller Schwerkriminellen, besonders der Ge¬
wohnheitsverbrecher und Sicherungsverwahrten, bereits in der Jugend
kriminell geworden sind, hat den Verfasser zu Untersuchungen veranlaßt.
159
wie sich die in jungen Jahren straffällig Gewordenen in ihrem späteren
Leben entwickelt haben. Von den 525 im Jahre 1928 verurteilten Jugend¬
lichen, deren Akten er bearbeitete, waren im Laufe von 10 Jahren rund die
Hälfte wieder straffällig geworden, und zwar 55 % der männlichen, aber nur
1/5 der 88 weiblichen Vorbestraften. Dabei ergab sich, daß die Wahr¬
scheinlichkeit eines Rückfalls um so größer ist, je früher die Kriminalität
einsetzte.
Der Verfasser hat ferner Einzeluntersuchungen angestellt, wie sich
die erstmals wegen eines Vermögensdelikts (2. Kap.), wegen einer Straftat
gegen die Person (3. Kap.), wegen eines Betrugsdelikts (4. Kap.) und
wegen eines Sittlichkeitsverbrechens (5. Kap.) verurteilten Jugendlichen
später verhalten haben, und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß nur bei
Vermögensdelikten eine auffallend hohe einschlägige Rückfälligkeit zu
verzeichnen ist.
Die beiden Abhandlungen reihen sich den wertvollen Sonderunter¬
suchungen an, die in der von Professor Dr. Exner-München herausgegebenen
Schriftenreihe bisher schon erschienen sind und gerade für Strafvollzugs¬
beamte besonderes Interesse haben, weil sie die Erkenntnis von der Persön¬
lichkeit des Gefangenen zu vertiefen geeignet sind.
Oberregierungsrat Dr. S t r u b e , Berlin.
Zeitschriften
Ausland
Rivista di diritto penitenziario, studi teorici e pratici. Herausgeber:
Dr. Giovanni N o v e 11 i, Rom. Jahrgang XII.
Heft 2 (März-April 1941).
Das Heft wird mit dem Abdruck eines Vortrages eröffnet, den der
Unterstaatssekretär im italienischen Justizministerium P u t z o 1 u vor
ausländischen Studenten über die politischen und rechtlichen Grundzüge
der neuen faschistischen Zivilgesetzgebung gehalten hat. Italien hat be¬
kanntlich während des Krieges die grundlegende Reform der Zivilgesetz¬
gebung zum Abschluß gebracht, so daß die Ausführungen besonderes In¬
teresse verdienen.
Es folgt eine italienische Übersetzung des Vortrages, den der ver¬
storbene Reichsminister der Justiz Dr. G ü r t n e r auf der Jahresver¬
sammlung des Deutschen Reichsverbandes für Straffälligenbetreuung und
Ermittlungshilfe in Breslau im Mai 1939 über das Problem der Vorstrafen¬
registrierung gehalten hat (Deutsche Justiz 1939 S. 816), eine Frage, die
mit der Straffälligenbetreuung und dem Strafvollzug in engem Zusammen¬
hang steht.
„Das psychiatrische Sachverständigengutachten im Dienste einer
höheren und wahren Gerechtigkeit“ lautet der Titel eines Aufsatzes des
Psychiaters und Leiters der Justizirrenanstalt in Reggio Emilia Dr.
C r e m 0 n a. Er befaßt sich anknüpfend an einen vom höchsten Gerichts¬
hof entschiedenen Fall, in dem der Verfasser selbst eine psychiatrische
Untersuchung vorgenommen hat, mit der Frage, ob und unter welchen
Voraussetzungen der Richter einen Sachverständigen zuziehen muß, wenn
er beim Angeklagten selbst oder in der Familienvorgeschichte des¬
selben psychopathische Erscheinungen feststellt. Den Ausführungen kommt
auch über das italienische Recht hinaus allgemeinere Bedeutung zu.
Oberdirektor Cicinelli schreibt über die Verpflichtung der Straf¬
gefangenen zu Hausarbeiten. Er weist einleitend darauf hin, wie lebhaft
IGO
bei den Gefangenen der Wunsch nach Arbeit sei, um dann hervorzuheben,
daß die Gefangenen in Italien im allgemeinen keine große Neigung für die
sogenannten Hausarbeiten zeigten. Die Ursachen sieht er darin, daß die
Arbeiten erniedrigend und schlecht entlohnt seien; auch bestehe die
Gefahr, in einen unerlaubten Verkehr der Gefangenen untereinander hin¬
eingezogen und deswegen unter Umständen bestraft zu werden.
Der Verfasser schlägt vor, sämtliche Verurteilte — ohne Rücksicht
auf ihre soziale Stellung und den Beruf — mehr oder weniger lange Zeit
zu Hausarbeiten heranzuziehen und sie erst dann den Arbeitsbetrieben
zuzuweisen.
Die italienische Vollzugsordnung schreibt in Art. 119 Abs. 4 vor,
daß zu hauswirtschaftlichen Arbeiten nur Gefangene mit vorbildlicher
Führung herangezogen werden dürfen. Nach den Vorschlägen von
Cicinelli soll für die Heranziehung zu Hausarbeiten weder die Art der
Straftat noch die Führung des Gefangenen eine Rolle spielen. Die Aus¬
führungen des Verfassers erscheinen mir nicht unbedenklich, und ich glaube,
daß die deutsche Regelung in Nr. 77 Abs. 1 der Strafvollzugsordnung
(Berücksichtigung von Führung, Vorleben, Straftat und Gesundheits¬
zustand) den Vorzug verdient.
Anschließend an die Originalartikel wird die neue Dienstordnung für
das Zivilpersonal der Vorbeugungs- und Strafanstalten (Regolamento per
il personale civile di ruolo degli istituti di prevenzione e di pena, ge¬
nehmigt durch kgl. Dekret vom 30. Juli 1940) nebst dem Vorlagebericht
(Begründung) an S. M. den König und Kaiser abgedruckt. Das Straf¬
vollzugspersonal besteht aus drei Gruppen: dem planmäßigen Zivilpersonal,
dem Korps der Aufsichtsbeamten und dem beigeordneten Personal. Das
Korps der Aufsichtsbeamten ist militärisch organisiert. Das beigeordnete
Personal gehört nicht zum Staatsbeamtentum und ist für Dienstleistungen
bestimmt, denen im Strafvollzug ein gewisser Hilfscharakter zukommt
(Sanitätsdienst, Seelsorge, Unterricht usw.). Das planmäßige Zivil¬
personal umfaßt die Verwaltungsbeamten, die technischen, gewerblichen
und landwirtschaftlichen Beamten des höheren, mittleren und einfachen
Dienstes sowie das Erziehungs- und Aufsichtspersonal der Jugendanstalten.
Die neue Dienstordnung regelt in 119 Artikeln Anstellung, Prüfung, Aus¬
bildung, Ernennungen Beförderungen, Dienstaufgaben, System der Über¬
und Unterordnung usw.).
Der Richter N u c c i schreibt über die Zuständigkeit zur Umwand¬
lung der Strafen in Isolierung bei Tage bei Mehrheit von Strafen (vgl.
hierzu auch Bl. f. Gfk. Bd. 71 S. 111). Das Heft bringt ferner einen Be¬
richt über die Gefangenenarbeit und die Tätigkeit der interministeriellen
Kommission zur Regelung der Gefangenenarbeit (vgl. Bl. f. Gfk. Bd. 70
S. 175) nebst den Vorschlägen der Kommission bezüglich der Bestellungen
der öffentlichen Verwaltungen bei der Strafvollzugsverwaltung im Rech¬
nungsjahr 1940/41.
Aus den kleineren Mitteilungen sei ein Bericht erwähnt, wonach in
Amerika Hinrichtungen versuchsweise mit besonderen Strahlen vorge¬
nommen worden sind, die durch Zersetzung der Blutkörperchen wirken.
Das Verfahren soll nach den gemachten Versuchen dem elektrischen Stuhl
vorzuziehen sein.
Landgerichtsrat Dr. D a 11 i n g e r , Berlin.
Herausgeber und Hauptschriftleiter i. N.: Oberregierungsrat Dr. W. Strube,
Berlin-Moabit. — Verlag: Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidel¬
berg, Lutherstr. 50. — Druck: Strafgefängnis Berlin-Tegel, Seidelstr. 39.
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Verzeichnis der erschienenen Sonderhefte
Band: Heft
47 S Schwandner- v. Jagemann-Klein, Vor¬
schläge zu einem Reichsgesetze Uber den Vollzug
der Freiheitsstrafen und sichernder Maßnahmen,
85 Seiten, 1913 . 1,50 ÄÄ
59 S Weber, Die Strafentlassenenpflege, 76 Seiten, 1928 2,40 „
60 S Schunck, Das Gefängniswesen des ehemaligen
Herzogtums Zweibrücken, 60 Seiten, 1929 . 2, — „
62 SI Hauptvogel, Aufzeichnungen über das Gefäng¬
niswesen Englands, 219 Seiten, 1931 . 6,60 „
62 SII Rahne, Die Gefangenenarbeit im Rahmen des
Erziehungsstrafvollzugs, 98 Seiten, 1931 . 2,80 „
63 S Heß, Die Kirche im Strafvollzug, 88 Seiten, 1932 2,40 „
64 1 Stumpf, Abgrenzung der Vollstreckung und des
Vollzugs der Strafen und der mit Freiheitsent¬
ziehung verbundenen Maßregeln der Besserung und
Sicherung, 110 Seiten, 1933 . . 2,80 „
64 S Röhrbein, Übersetzung der italienischen Dienst¬
ordnung für Sicherungs- und Strafanstalten vom
18. Juni 1931, 139 Seiten, 1933 . 3,80 „
65 SI Weissenrieder, Reichsrechtlichrr Vollzugs¬
grundsätze (Text der Grundsätze von 1923), 69 Sei¬
ten, 1934 ... 2,— „
65 SII Pfeiffer, Neuzeitliche Gefängnisbauten und ihre
Geschichte, 182 Seiten, 1934 . 6,— „
65 SN Bloem, Die Situation der Straferwartung in der
Untersuchungshaft, 86 Seiten, 1934 . 2,40 „
66 1 Hauptvogel, Gefängniswesen in England,
Berichte über einen Studienaufenthalt, 114 Seiten,
1935 . 3,— „
67 4 B Amtlicher Text der AV. des RJM. über den Jugend¬
strafvollzug vom 22. Januar 1937, 23 Seiten, 1936 0,60 „
68 3 Quentin-Sieverts, Die Behandlung der
jugendlichen Rechtsbrecher im Alter von 17 bis
23 Jahren in England unter besonderer Berück¬
sichtigung des Borstal-Systems, 74 Seiten, 1937 ... 2,—
68 6 Hildebrandt - Weber - Schiefer-
Fratzscher-Eberhard, über die Siche¬
rungsverwahrung, 56 Seiten, 1938 . 2,— „
69 2 Kosinski, Strafgerichtsbarkeit und Strafvoll¬
streckung im alten Berlin, 41 Seiten, 1938 . 2,— „
70 2 W i 11 i g , Das Werden der deutschen Gefängnis¬
schule, 59 Seiten, 1939 ... 2,40 „
71 3 Meißner, Die Besserungsanstalt zu Tapiau
(1787—1806) als erstes preußisches Arbeitshaus
moderner Richtung, 65 Seiten, 1940 . 2,— „
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Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
Blätter für
HT UW< IIT " II> TU f
FEiS- 1947
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube
Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band
Fünftes Heft
Dezember 1941—Januar 1942
Sonderheft: Die Asozialenfrage
HEIDELBERG 1942
Verlas Carl Winters U n i v e r s i t ä t s b u c h h a n d 1 u n g
I. V. W. R.
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Verzeichnis der erschienenen Sonderhefte
Band: Heft
47 S Schwandner- v. Jagemann-Klein, Vor¬
schläge zu einem Reichsgesetze über den Vollzug
der Freiheitsstrafen und sichernder Maßnahmen,'
85 Seiten, 1913 . 1,60 m
59 S Weber, Die Strafentlassenenpflege, 76 Seiten, 1928 2,40 „
60 S Schunck, Das Gefängniswesen des ehemaligen
Herzogtums Zweibrücken, 60 Seiten, 1929 . 2,— „
62 SI Hauptvogel, Aufzeichnungen über das Gefäng¬
niswesen Englands, 219 Seiten, 1931 . 6,60 „
62 SII Rahne, Die Gefangenenarbeit im Rahmen des
Erziehungsstrafvollzugs, 98 Seiten, 1931 . 2,80 „
63 S Heß, Die Kirche im Strafvollzug, 88 Seiten, 1932 2,40 „
64 1 Stumpf, Abgrenzung der Vollstreckung und des
Vollzugs der Strafen und der mit Freiheitsent¬
ziehung verbundenen Maßregeln der Besserung und
Sicherung, 110 Seiten, 1933 . n . 2,80 „
64 S Röhrbein, Übersetzung der italienischen Dienst¬
ordnung für Sicherungs- und Strafanstalten vom
18. Juni 1931, 139 Seiten, 1933 . 3,80 „
65 SI Weissenrieder, ReichsrechtUche Vollzngs-
grundsätze (Text der Grundsätze von 1923), 69 Sei¬
ten, 1934 . 2,— „
I 65 SH Pfeiffer, Neuzeitliche Gefängnisbauten und ihre
Geschichte, 182 Seiten, 1934 . 6,— „
65 SN Bloem, Die Situation der Straferwartung in der
Untersuchungshaft, 86 Seiten, 1934 . 2,40 „
66 1 Hauptvogel, Gefängniswesen in England,
Berichte über einen Studienaufenthalt, 114 Seiten,
1935 8,— „
67 4 B Amtlicher Text der AV. des RJM. über den Jugend¬
strafvollzug vom 22. Januar 1937, 23 Seiten, 1936 0,60 „
68 3 Quentin-Sieverts, Die Behandlung der
jugendlichen Rechtsbrecher im Alter von 17 bis
23 Jahren in England unter besonderer Berück¬
sichtigung des Borstal-Systems, 74 Seiten, 1937 ... 2,— „
68 6 Hildebrardt-Weber-Schiefer-
Fratzscher-Eberhard, Über die Siche¬
rungsverwahrung, 66 Seiten, 1938 . 2,— „
69 2 Kosinski, Strafgerichtsbarkeit und Strafvoll¬
streckung im alten Berlin, 41 Seiten, 1938 . 2,— „
70 2 W i 11 i g , Das Werden der deutschen Gefängnis¬
schule, 59 Seiten, 1939 . 2,40 „
71 3 Meißner, Die Besserungsanstalt zu Tapiau
(1787—1806) als erstes preußisches Arbeitshaus
moderner Richtung, 65 Seiten, 1940 . 2,— „
_
Deutsche Gesellschaft für Gefangniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
Blätter
für
Gefängniskunde
Herausgeber:
Dr. jur. W. strube, Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Or. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Buid / Fünftes Heft / Dezember 1941—Januar 1942
Heidelberg 1942 / VerlagCarlWintersUniversitätsbuchhandlung
Inhalt
des 5. Heftes des 72. Bandes:
t
Abhandlungen Seite
Die Asozialenfrage von Dr. Josef Tress, Berlin
I. Das Arbeitshaus . 163
II. Bewahningsfürsorge . 176
III. Psychologie der Asozialen . 199
IV. Persönlichkeit und Gemeinschaft . 209
Ans der Gefängnisverwaltung
Hogräfer, Beköstigung der Gefangenen auf eigene Rechnung
eines Justizbediensteten . 211
Allgemeine Verfügungen des RJM. 215
Personalnachrichten . 216
Schrifttum
Bücher — Inland . 218
Zeitschriften — Inland . 220
Zeitschriften — Ausland . 223
Die Schriftleitung; der „Blätter für GefänKUlskunde" befindet sich Berlin W 9, LeipziKer
Pietz 15 — Fernsprecher: 12 70 76 — Der Zahlungsverkehr läuft unter der Anschrift:
„Deutsche Gesellschaft für Gefän:;niskunde in der Akademie für Deutsches Recht“ —
Bankkonto; 3676S bei der Bank der Deutschen Arbeit in Berlin C2 — Postscheck¬
konto: 1764 92 Berlin — Die persönliche Anschrift des Herausg;eberB lautet:
Oberretrierungsrat Dr. Strube, Berlin NW40, Alt-Moabit 12a — Die „Blätter für Gefängnis-
kunde“ erscheinen alle zwei Monate — Jeder Band umfaßt sechs Hefte — Wissenschaftliche
Abhandlungen größeren Umfangs erscheinen in Sonderheften.
163
Die Asozialenfrage
von Dr. Josef T r e s s in Berlin
I. Das Arbeitshaus
Wohl kaum ein Begriff kehrt im sozialpolitischen Schrifttum unserer
Tage so häufig wieder wie der Asozialenbegriff. Bezeichnend ist, daß
beinahe jeder grundsätzlichen Erörterung der Asozialenfrage eine mehr
oder weniger neugeprägte Begriffsbestimmung des Asozialen vorausge¬
schickt wird und daß auch die einschlägigen Gesetze diesen Begriff nicht
etwa als etwas Festumrissenes, Eindeutiges vorauszusetzen pflegen, sondern
sich um eine nähere Begrenzung und Umschreibung desselben bemühen.
Häufig wird die Schwierigkeit einer genauen Begrenzung betont, zugleich
jedoch versichert, dem Praktiker sei die Eigenart des asozialen Personen¬
kreises ohne weiteres geläufig. Nichts ist jedoch irriger als diese Ver¬
sicherung. Gerade der Praktiker, der tiefer in die Problematik der Asozi¬
alenfrage eindringt, weiß, welch grobe Mißstände und Unzulänglichkeiten
dadurch entstehen, daß unter der Bezeichnung „asozial“ so Verschieden¬
artiges gedacht und gemeint mrd.
Nach den Richtlinien des Reichsinnenministeriums für die Beurteilung
der Erbgesundheit vom 18. Juli 1940 sind als „Asoziale (Gemeinschafts¬
fremde) Personen anzusehen, die auf Grund einer anlagebedingten und daher
nicht besserungsfähigen Geisteshaltung
1. fortgesetzt mit dem Strafgesetz, der Polizei und den Behörden
in Konflikt geraten, oder
2. arbeitsscheu sind und den Unterhalt für sich und ihre Kinder
laufend öffentlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen, ins¬
besondere auch der NSV. und dem WHW. aufzubürden suchen.
Hierunter sind auch solche Personen zu rechnen, die ihre Kinder
offensichtlich als Einnahmequellen betrachten und sich deswegen
für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Wege zu
gehen, oder
3. besonders unwirtschaftlich und hemmungslos sind und mangels
eigenen Veranwortungsbewußtseins weder einen geordneten Haus¬
halt zu führen noch Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu er¬
ziehen vermögen, oder
4. Trinker sind oder durch unsittlichen Lebenswandel auffallen (z. B.
Dirnen, die durch ihr unsittliches Gewerbe ihren Lebensunterhalt
teilweise oder ganz verdienen).“
Im rassen- und bevölkerungspolitischen Schrifttum erscheinen die
Asozialen als der biologische Bodensatz des Volkes. Die positive Förderung
der biologisch wertvollen Volksschichten darf nicht durch die Fürsorge für
die parasitären beeinträchtigt werden! Die Asozialenfrage als solche er¬
scheint hier als etwas von Haus aus Zweitrangiges. Bemerkenswert ist,
daß in diesen gedanklichen Zusammenhängen immer mehr von der asozi¬
alen Familie als von Einzelpersonen die Rede ist, wie Jk auch die Begriffs-
164
bestimmung der genannten „Richtlinien“ mehr auf asoziale Familien, die
Schmerzenskinder der öffentlichen und privaten Fürsorge, paßt als auf die
nichtseßhaften, von allen Familienbindungen losgelösten Einzelpersonen, die
Schmerzenskinder der Polizei. Es ist bezeichnend, daß man
sich bei der Abgrenzung des Asozialenbegriffs mit Vorliebe durch Bei¬
spiele behilft; so ist in den Ausführungsbestimmungen zum Erlaß über
das Ehrenkreuz für Mütter als Unterscheidungsmerkmal der „asozialen
Großfamilie“ die unwirtschaftliche Verwendung der einmaligen Kinderbei¬
hilfen vermerkt. In der Praxis ^so bei der Bewilligung der staatlichen
Beihilfen für Kinderreiche) wird dann allerdings die Schwierigkeit der
Grenzziehung zwischen „asozialer Großfamilie“ und der förderungs¬
würdigen kinderreichen Familie umso deutlicher. Die fürsorgerische Praxis
findet asoziale Merkmale in breitesten Volksschichten vertreten und muß
befürchten, daß mehr oder weniger gefährdete Schichten zum Schaden
und auf Kosten des Volksganzen in gesteigertem Maß verelenden und
verwahrlosen, wenn sie ein für allemal als „asozial“ abgestempelt und
gebrandmarkt werden.
Während der Asozialenbegriff der Richtlinien vom 18. 7. 1940 nur
die Anlagebedingtheit asozialen Verhaltens sieht, bildet für den Kriminal¬
politiker und die Strafrechtspflege die Willensbedingtheit den Ausgangs¬
punkt. Nach den Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamts vom 4. 4. 1938
zum Erlaß über polizeiliche Vorbeugungshaft gilt als „asozial, wer durch
gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht gemeingefährliches Verhalten
zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einordnen will.“
Das Reichsstrafgesetzbuch zählt in § 361 die Einzeltatbestände der
Arbeitshausunterbringung auf: es sind dies zugleich die wichtigsten Tat¬
bestände „asozialen Verhaltens“ (Landstreicherei, Bettel, Trunk, Müßig¬
gang, Gewerbeunzucht, Arbeitsscheu, schuldhafte Verletzung der Unter¬
haltspflicht) und es ist theoretisch denkbar, daß bei zeitgemäß erweiterter
Auslegung und Anwendung dieser Gesetzesbestimmungen sowohl polizeiliche
Vorbeugungshaft für Asoziale als die Forderung nach einem „Bewahrungs¬
gesetz“ oder „Gemeinschaftsfremdengesetz“ gegenstandslos wäre.
Tatsache ist, daß sowohl zeitlich als örtlich in der Geneigtheit der
Richter, Arbeitshausunterbringung anzuordnen, die größten Schwankungen
und Unterschiede bestehen. Es handelt sich hier um den Angelpunkt des
ganzen Problems, um die Frage der einheitlichen Ausrichtung der öffent¬
lichen Meinung in der grundsätzlichen Einstellung zum asozialen Menschen.
Hiervon hängt die Praxis der Gerichte ebenso ab wie die der Polizei-,
Fürsorge- und sonstigen Organe. Das wird auch heute noch von all denen
verkannt, die eine Lösung des Problems in erster Linie vom Gesetzgeber,
beispielsweise durch ein Reichsbewahrungsgesetz, erwarten. Wenn man
jedoch zur Erkenntnis durchdringt, daß der Fortschritt der sozialen Ord¬
nung durch den Fortschritt der öffentlichen Meinung bedingt ist, wird
man in einer Zeit des sozialpolitischen Umbruchs in der Mannigfaltigkeit
der Rechtsgrundlagen keinen entscheidenden Nachteil erblicken.
In der Einstellung der öffentlichen Meinung zum asozialen Menschen
lassen sich drei Entwicklungsstadien unterscheiden:
1. Das Stadium der Massenverwahrlosung, die zwar überwiegend
durch wirtschaftliche Erschütterungen bedingt ist, aber auch durch weit¬
gehende Auflockerung der sittlichen Wertbegriffe und insbesondere durch
eine Lockerung der Familienbindungen gekennzeichnet wird. Die Einzel¬
verwahrlosung wird in diesem Stadium milde beurteilt, weil die Verwahr¬
losungszusammenhänge überwiegend sozialbedingt und milieubedingt sind.
165
Das gemeinschaftszerstörende Kräftespiel des Kapitalismus — ins¬
besondere die Periodizität der Wirtschaftskrisen — hat generationenlang
viel unverschuldete Not und Verwahrlosung geschaffen. Darüber hinaus
ist die Entwicklung des sozialen Gedankens in der Vergangenheit durch
die Einseitigkeiten der marxistischen Schulmeinungen aufs schwerste be¬
einträchtigt worden. Für die Asozialen des Früh- und Hochkapitalismus
hat der Marxismus die geringschätzige Bezeichnung „Lumpenproletariat“
geprägt. Doch tatsächlich hat er nur das Schmarotzertum von oben be¬
kämpft, das Schmarotzertum von unten aber beschützt und beschönigt,
und das Ehrgefühl des „klassenbewußten Proletariers“ nahm an Drücke¬
bergerei xmd Schnorrertum keinen entscheidenden Anstoß. Man leugnete
ja die selbstverschuldete Verwahrlosung, und die Schuld an Bettelei,
Landstreicherei, Alkoholismus, Prostitution und allen sozialen Mißständen
wurde der herrschenden Gesellschaftsordnung zugeschoben. So galt viel¬
fach tatkräftiges Durchgreifen gegen Arbeitsscheu und Liederlichkeit
geradezu als unsozial! Und so war das „Proletariat“ als Ganzes, diei ent¬
wurzelte und atomisierte Masse der Werktätigen, in Gefahr, gesinnungs¬
mäßig jeder organischen Gemeinschaft zu entfremden und immer mehr
„asozial“ zu werden. Weite Kreise des Bürgertums standen dieser Ent¬
wicklung hilflos oder mit fatalistischer Gleichgültigkeit gegenüber. Die
durch den verlorenen Weltkrieg bedingten Erschütterungen der deutschen
Volkswiiitschaft und die verheerende Millionenarbeitslosigkeit schufen
vollends chaotische Zustände. In diesen Jahren des Niedergangs war die
Asozialenfrage kein Problem im heutigen Sinn, vielmehr erschien die
Verwahrlosung einzelner Volksgenossen angesichts der drohenden Massen¬
verwahrlosung unwichtig und unbeachtlich (Bettel und Landstreicherei
wurde häufig von staatlichen Behörden geduldet).
Nach Meixner („Das Arbeitshaus in der Gegenwart und in der Zu¬
kunft“, Emsdetten 1936) wurde für 1910/11 eine Durchschnittsbelegung
der deutschen Arbeitshäuser von 11069 Korrigenden errechnet. „Im
Jahre 1919 betrug die Gesamtzahl der Arbeitshäusler etwa 500; die Revolte
von 1918 hatte auch die Tore der Arbeitshäuser geöffnet. Nur langsam
füllten sich die Arbeitshäuser wieder in einer Zeit, wo es härteste Be¬
kämpfung von Arbeitsscheu und Liederlichkeit gegolten hätte. Immerhin
betrug die Gesamtzahl der Arbeitshäusler 1925 wieder 3 200. Dann
nahmen die Einweisungen wieder ab, gerade in umgekehrtem Verhältnis
zum Steigen des Bettlertums. Die Gerichte scheuten sich immer mehr,
die schwere „Arbeitshausstrafe“ für „Bagatellsachen“ zu verhängen. 1932,
als das Bettelunwesen seinen Höhepunkt erreicht hatte, waren in Preußen
1043 Korrigenden untergebracht; im ganzen Reich waren es wohl nicht
weniger als 1 700, davon keine 100 Frauen. Die Arbeitshäuser konnten
vielfach ihre Betriebe kaum aufrecht erhalten.“ Für die gleiche Zeit
wurden für Berlin bis zu 50 000, für das Reichsgebiet bis zu 500 000 Bett¬
ler geschätzt. Bemerkenswert ist übrigens, daß aus den Großstädten zeiten¬
weise mehr Zuhälter als Bettler im Arbeitshaus untergebracht waren.
2. Mit der fortschreitenden Gesundung der nationalen Wirtschaft
und mit der Erneuerung der sozialen Ordnung setzt ein strengeres Durch¬
greifen gegen die Asozialen ein, deren Verwahrlosung als ein schuldhaftes
Sichnichteinfügenwollen in die neue Ordnung erscheint: Asoziales Ver¬
halten wird durch Strafe geahndet.
„Im Jahre 1934 befanden sich (nach Meixner) in den deutschen Ar¬
beitshäusern bereits wieder 4 086 Korrigenden, darunter 296 Frauen...
Diese Entwicklung geht weiter: Mitte 1935 hatte beispielsweise Brauns-
166
dorf 451 (Ende 1934 353) Korrigenden, Straubing 230 (170), Vaihingen
434 (361)“. Interessante Teilangaben bringt Meixner auch über die Ver¬
schiedenheit der Arbeitshausunterbringung in den Einzelländem: „Baden
stellt 1934 8% aller Korrigenden, obwohl seiner Einwohnerzahl nur 3,9%
entsprechen würden, ebenso Württemberg: 10 % statt 4,2 %, während die
bayrischen Korrigenden nur 6,7% der Gesamtzahl betragen, obgleich der
Einwohnerzahl 12% entsprächen... Ich glaube nicht, daß diese großen
Unterschiede lediglich auf eine verschiedene Bettlerhäufigkeit, sondern
hauptsächlich auf das mehr oder weniger scharfe Zugreifen der staatlichen
Instanzen zurückzuführen ist.“ (Die Zahlen der Arbeitshauseinweisungen
seit 1935/36 bieten immer weniger vertikale und horizontale Vergleichs¬
möglichkeiten, weil seitdem mit der gerichtlichen Arbeitshausunterbringung
immer mehr Polizeimaßnahmen und kommunale Bewahrungsfürsorge —
hauptsächlich in Berlin, Hamburg und Bayern — konkurrieren).
3. Trotz aller Strenge im Kampf gegen asoziales Verhalten verbleibt
ein Rest von Personen, die dauernd als unfähig zur zuchtvollen Einordnung
in die freie Volksgemeinschaft und zu aktiver, selbstveranwortlicher Er¬
füllung ihres sozialen Pflichtenkreises erscheinen. Das Verständnis dringt
durch, daß ihr Versagen überwiegend anlagebedingt ist. An die Stelle des
Strafgedankens tritt der Gedanke der BewahrungsfUrsorge.
Selbstverständlich ist die Klärung der öffentlichen Meinung nicht
überall im gleichmäßigen Tempo dieser drei „Entwicklungsstadien“ fort¬
geschritten. Vor allem sind gewisse Auffassungen, die den Vorrang
öffentlicher, völkischer und sozialer Belange vor den falschverstandenen
Freiheitsansprüchen der sozialen Einzelpersönlichkeit betonen, noch nicht
überall weit genug vorgedrungen.
Diese Uneinheitlichkeit der grundsätzlichen Einstellung bezieht sich
keineswegs nur auf Gerichte. Wenn häufig darüber geklagt wird, daß
die Gerichte nicht genügend durchgreifen, so ist dies nicht darauf zurück¬
zuführen, daß die Gerichte als solche der Asozialenfrage verständnisloser
gegenüberstehen als andere öffentliche und private Stellen.
Allerdings sind heute gerichtlich im Arbeitshaus überwiegend ältere,
verbrauchte Personen und Fälle besonders krasser und sinnfälliger Ver¬
wahrlosung untergebracht. Die mittleren Jahrgänge und die „Erziehungs¬
fälle“ sind spärlicher vertreten. Vielleicht liegt dies zum Teil daran, daß
bei der Anordnung der Arbeitshausunterbringung zu sehr vom Vorstrafen¬
verzeichnis ausgegangen wird. Doch so wichtig es für die Volksgemein¬
schaft sein mag, die Kriminalität der Asozialen zu verhüten, ihre Gemein¬
schädlichkeit reicht weit über das Kriminelle hinaus und im Persönlich¬
keitsbild der meisten Asozialen bleibt die Gesetzesübertretung an sich
immer etwas Zufälliges, Sekundäres. Kriminalität ist kein Gradmesser
der Verwahrlosung. Bekanntlich verstehen es gerade die gemeinschäd¬
lichsten Asozialen (insbesondere Großstadtasoziale), durch alle Maschen
des Strafrechts hindurchzuschlüpfen, und sind Meister in der Kunst des
Sichnichterwischenlassens. Gewisse besonders gemeinlästige Personen
(Wohlfahrtsschnorrer, vor allem Krankenhauswanderer) kommen an sich
selten mit dem Strafgesetz in Konflikt. Und wie es Asoziale gibt, die
zu gerissen sind, um öfter straffällig zu werden, so gibt es Fälle von
krasser Verwahrlosung, die sogar zum Betteln und zu kleinen Gelegen¬
heitsdiebstählen zu schwerfällig sind, und Schwachsinnige, die nur deshalb
mit dem Strafrichter wenig in Berührung kommen, weil sie meistens in
Anstalten untergebracht .sind!
167
Es wäre völlig abwegig, wegen dieser Schwierigkeiten und Unzu¬
länglichkeiten die gerichtliche Arbeitshausunterbringung als solche zu
beseitigen und etwa alle Zuständigkeit den Polizei- und Pürsorgebehörden
zu übertragen. Denn auch diese stehen vor den gleichen und ähnlichen
Schwierigkeiten wie die Gerichte. Es ist eben im allgemeinen nicht leicht,
den asozialen Menschen als solchen zu erkennen und den Grad seiner Ver¬
wahrlosung richtig zu erfassen. Arbeitsscheue, Krankheitssimulanten,
Trinker und Schnorrer der verschiedensten Art sind überreich an faulen
Ausreden; meist haben sie ihre Arbeitspapiere, aus denen manches ersicht¬
lich wäre, „verloren“. Familiengeschichte, frühere Anstaltsaufenthalte
und ähnliches sind nicht ohne weiteres bekannt. Auch das richtige Ver¬
ständnis der geistigen Anlageschäden setzt eine längere Erfahrung im
Umgang mit Asozialen voraus (es handelt sich hier nicht nur um das
Verständnis der gröberen Mängel, sondern noch mehr um das Verständnis
der „Grenzfälle“, vor allem der für asoziale Personen typischen konsti¬
tutionellen Willensschwäche). Die meisten Asozialen sind ausgesprochene
Blender. Je mehr sie im Leben versagen oder versagt haben, desto glänzen¬
der bringen sie ihre schauspielerische Fähigkeit zur Entwicklung, den
Biedermann zu spielen, Mitleid zu erwecken, abzulenken und insbesondere
anderen die Schuld am eigenen Versagen zuzuschieben. Sogar hochgradig
Schwachsinnige entwickeln in diesen Dingen manchmal eine erstaunliche
Gerissenheit. Der Gewohnheitsbettler ist besonders groß darin, sich durch
das Mäntelchen religiöser oder politischer Weltanschauungsheuchelei
interessant zu machen- Je charakterloser er ist, umso meisterhafter ver¬
steht er es, in jeder gewünschten Weltanschauung zu schillern. Mit Vor¬
liebe spielt er den Märtyrer seiner Überzeugungen. Überall gibt
es kindliche Gemüter zur Genüge, die auf diese kleinen, primitiven
Tricks hereinfallen. Und in der Regel ist den Tarnungs- und Vertuschungs¬
versuchen asozialer Personen von^ Haus aus dadurch eine gewisse Erfolgs¬
chance beschieden, daß es sich trotz allem um verhältnismäßig harmlose,
oft auch gutmütige und durchaus nicht ohne weiteres unsympathische
Menschen handelt. Es ist zu berücksichtigen, daß_ der Asozialenbegriff,
ähnlich wie der Begriff der Psychopathie oder der Verwahrlosung, ein
Grenzbegriff des Normalen ist. Die Übergänge zur Ordnung des bürger¬
lichen Lebens sind durchaus fließend.
Hier kann ganze Arbeit nur durch verständnisvolles Zusammenarbei¬
ten aller beteiligten Stellen geleistet werden. Falsch wäre es, den Richter
mit seiner umfassenden Lebensnähe und überreichen Menschenerfahrung,
der berufsmäßig so viel mit asozialen Personen in Berührung kommt, von
der verantwortlichen Mitwirkung auszuschließen.
Am meisten wird der Umfang der gerichtlichen Arbeitshausimter-
bringung dadurch eingeengt, daß es (ähnlich wie früher in der Fürsorge¬
erziehung) am Vertrauen in den Vollzug der Unterbringung fehlt oder
daß falsche Vorstellungen über die Aufgaben dieses Vollzugs und der
Arbeitshausunterbringung überhaupt bestehen. Allgemein wird der
Arbeitshausvollzug immer noch zu sehr durch den Gedanken der Strafe
statt durch sozialpädagogische und fürsorgerische Belange beherrscht.
Früher galt Arbeitshaus als Mittelding zwischen Strafe und Erziehung,
allerdings mit eindeutigem Überwiegen des Strafcharakters der Unter¬
bringung, die als „Nachhaft“ bezeichnet wurde. Immerhin mußte auch
früher schon bei der Aburteilung der „Stromerdelikte“ mit anderen Ma߬
stäben gemessen werden als in der übrigen Strafrechtspflege, vor allem
in der Frage der Verantwortlichkeit des „Täters“. Die Anwendung des
168
^ 51 StGB, spielte in diesem Zusammenhang praktisch kaum je eine Rolle:
Ein beachtlicher Bruchteil der Arbeitshausinsassen litt immer schon an
hochgradigem Schwachsinn und geistigen Krankheiten und Regelwidrig¬
keiten der verschiedensten Art. Das war durchaus kein Hindernis ihrer
strafrechtlichen Verurteilung, wenn auch Schuld und Verantwortung,
also freier Wille, die formale Voraussetzung jeder Verurteilung früher
ebenso wie noch heute bildeten. Aber praktisch kann doch in jedem Einzel¬
fall ein kleiner Rest von „Liederlichkeit“ (selbstverschuldete Verwahr¬
losung), der als formale Voraussetzung der Verurteilung ausreicht, an¬
genommen werden, ebenso wie mit Recht fast in jedem Einzelfall ein
kleiner Rest von Arbeitsfähigkeit, die gleichfalls formale Voraussetzung
der Arbeitshausunterbringung ist, angenommen werden kann imd auch
tatsächlich angenommen wird. M. E. zeigt gerade die Praxis der Arbeits¬
hausunterbringung, daß trotz gewisser Mängel die meisten Richter der
reinen Theorie immer noch um eine Nasenlänge voraus sind. Psychiatrische
Begrutachtungen spielen jedenfalls bei der Aburteilung der Bettler und
Landstreicher von alters her kaum eine Rolle. Dabei waren früher
viele Arbeitshäuser verwaltungsmäßig irgendwie mit Anstalten der Irren¬
pflege verbunden, sowie auch heute noch zwischen Heil- und Pflegean¬
stalten und Arbeite- und Bewahrungsanstalten überall ein reger Pendel¬
verkehr und die mannigfachsten Wechselbeziehungen bestehen. (In der
Geschichte der Arbeitsanstalten ist diese ihre Verbindung mit Anstalten
der verschiedensten Art, insbesondere mit Anstalten der Irren- und Alters¬
pflege, aber auch mit Arbeiterkolonien, wohl das interessanteste Kapitel!
— Die Überführung von Personen, die an akuten Psychosen leiden, in Heil-
und Pflegeanstalten ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn jedoch gefor¬
dert wird, daß Asoziale „mit gröberen geistigen Defekten“ grundsätzlich
in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht werden sollen statt im Arbeits¬
haus, so bedeutet dies praktisch, daß man eine große Zahl ähnlicher Fälle
der Verwahrlosung preisgibt, denn aus den Heil- und Pflegeanstalten
werden diese Menschen erfahrungsgemäß meist alsbald wieder entlassen!
Zwangsweise Unterbringung im Arbeitshaus — unter entsprechender Reform
des Anstaltsvollzugs — bleibt daher der einzig mögliche Ausweg, solange
keine ausgesprochene Heilbehandlung notwendig ist und solange keine
Gemeingefährlichkeit vorliegt. Ähnliches gilt bezüglich der Arbeitsun¬
fähigen und der beschränkt Arbeitsfähigen).
Durch § 42 StGB, in der Fassung des Gesetzes gegen gemeingefähr¬
liche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Bes¬
serung vom 24. 11. 1933 ist grundsätzlich der Strafcharakter der Arbeits-
hausxmterbringung beseitigt. Die Ausweitung der Strafrechtspflege von
der rein negativen Verbrechensbekämpfung auf positive sozialpädagogische
Aufgaben kann sicherlich als entscheidender Fortschritt gewertet werden.
Im übrigen wäre es wohl angebracht, die Arbeitshausunterbringung, deren
Anordnung auch nach neuem Recht nur im Anschluß an — meist gering¬
fügige und praktisch bedeutimgslose — Haftstrafen zulässig ist, völlig
von den Haftdelikten des § 361 a. a. 0. zu lösen. Das doktrinäre Festhalten
an der „Zweispurigkeit“ von Strafe und Sicherungsmaßnahme führt zu
vielen Halbheiten imd Unzulänglichkeiten, indem es den Erziehungsge¬
danken von Haus aus mit dem Strafgedanken koppelt. Ähnlich wie die
Sicherungsverwahrung gefährlicher Gewohnheitsverbrecher an keine be¬
stimmten Verbrechen gebunden ist und ähnlich wie der Jugendrichter Für-
.sorgeerziehung auch ohne Verhängung irgendeiner Strafe anordnen kann,
dürfte auch die Anordnung der Arbeitshausimterbringung, die ja praktisch
nichts anderes ist als eine Art Fürsorgeerziehung Erwachsener, nicht von
der Verurteilung nach bestimmten Delikttatbeständen abhängig sein. Denn
sinngemäß ist ja für die Arbeitshausunterbringung meist nicht eine durch
Strafe zu ahndende gesetzwidrige Willensrichtung (geschweige denn eine
einmalige strafbare Handlung), sondern ein konstitutionell oder aber durch
Erziehungs- und Milieuschäden bedingter Verwahrlosungszustand nicht
nur vorübergehender Art maßgebend und als Zweck der Unterbringung
wird vom Gesetzgeber ausdrücklich die Beseitigung dieses Verwahrlosungs¬
zustandes („Gewöhnung an ein geordnetes und gesetzmäßiges Leben“)
bezeichnet. Im einzelnen kann dieser Zweck sowohl ein Erziehungszweck
(charakterliche Förderung mit dem Ziel der Entlassung aus der Anstalts¬
fürsorge), als ein reiner Bewahrungszweck sein (Dauerbewahrung, falls
ein für allemal Lebensuntüchtigkeit vorliegt). Die Unterbringung dauert
nach § 42 a. a. O. — darin findet die Beseitigung ihres Strafcharakters
ihren deutlichsten Ausdruck — grundsätzlich so lange, als der Unter¬
bringungszweck es im Einzelfall erfordert. Aber auch die Entlassung
selber ist nur eine versuchsweise, sie gilt nur als „bedingte Aussetzung“
der Unterbringung und kann bei erneuter Verwahrlosung jederzeit wider¬
rufen werden. Dadurch, daß das Gesetz bestimmte gerichtliche Auflagen
bei der Entlassung vorsieht, schafft es wertvolle Möglichkeiten der „Be¬
wahrungsaufsicht“ und es kommt lediglich darauf an, diese Möglichkeiten
auszuschöpfen.
Leider hat die Praxis des Vollzugs aus dieser gesetzlichen Neu¬
regelung noch immer nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen! Der
neue Erziehungs- und Bewahrungszweck des Arbeitshauses kann sinngemäß
nur von größeren, organisatorisch reich gegliederten Anstalten erfüllt
werden. In der Praxis herrscht aber immer noch die kleine leistungsun¬
fähige Vollzugsanstalt vor. Das Schlimmste, was gegen viele dieser kleinen
Arbeitshäuser gesagt werden kann, ist, daß sich ihr Betrieb in Jahrhunder¬
ten kaiun oder gamicht geändert hat: Bewachung durch bewaffnete und
uniformierte Gefängnisaufseher,* Arbeit imter straffster Zucht und bei
trappistischem Stillschweigen, nach Schluß der Arbeitszeit Einschluß in
vergitterten Schlafsälen! Bemerkenswert ist die grundsätzliche Kritik am
Arbeitshausvollzug zweier neuerer Veröffentlichungen, deren grundlegende
Bedeutung darauf beruht, daß sie nicht von doktrinären oder bürokratischen
Voraussetzungen ausgehen, sondern schöpferischer Sozialarbeit entspringen,
nämlich
1. des im April/Maiheft 1938 der „Blätter für Gefängniskunde“ veröffent¬
lichten Vortrags von Direktor Steigertahl — Hamburg „Der Voll¬
zug der Unterbringung im Arbeitshaus, Asyl, in der Trinkerheilanstalt
und in der Heil- und Pflegeanstalt“,
2. des 1938 vom Bayrischen Landesverband für Wander- und Heimat¬
dienst in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Staatsmiidsterium des
Innern herausgegebenen Sammelbands „Der nichtseßhafte Mensch,
ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschengestaltung
im Großdeutschen Reich“ (C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung,
München).
Eine zusammenfassende Darstellung des Arbeitshausvollzugs, die
allenfalls in Einzelheiten überholt sein dürfte, gibt die erwähnte Schrift
Meixners. „Die tägliche Bewegung im Freien — so heißt es hier —
erfolgft in den Anstaltshöfen. Die Korrigenden gehen dabei in einem großen
Kreis oder Viereck zu zweien. Während des Spaziergangs besteht Unter-
170
haltungserlaubnis mit Ausnahme von Bräunsdorf, wo die Insassen nur an
Sonn- und Feiertagen Sprecherlaubnis haben. An den Wochentagen müssen
hier die Untergebrachten ordnungsmäßig hintereinandergehen.“ In der
bayrischen Arbeitsanstalt Straubing, die nach allen Berichten am meisten
Zuchthauscharakter trägt, sind „sämtliche Korrigenden während des ganzen
Tageslaufs in Einzelzellen untergebracht und dort mit Zertrennung von
Altsachen, im übrigen mit Mattenflechten beschäftigt. Nur Schuster und
Schneider werden in ihren Handwerken venvendet.“ Der einzige Unter-
■schied solcher Arbeitshäuser von Gefängnissen und Zuchthäusern besteht
darin, daß ein letzter, nicht gänzlich auszurottender Rest von Vagabunden¬
romantik („Bruder Straubinger“!) und gemütvollem Speckjägertum einer¬
seits, von Schwachsinn, Anspruchslosigkeit und Stumpfsinn anderseits die
Typen der Arbeitshausinsassen immer noch von den aktiveren, intelligen¬
teren, doch auch bösartigeren Verbrechertypen des Strafvollzugs unter¬
scheidet. Die Vollzugsmethoden jedoch sind immer noch weitgehend die-
.selben. Praktisch wird von diesen Anstalten weder ein Erziehungszweck,
noch ein Bewahrungszweck angestrebt (geschweige denn erreicht), sie sind
immer noch Strafanstalten und halten es manchmal sogar für zeitgemäß,
das Abschreckungsmoment mit besonderer Forschheit hervorzukehren.
Demgegenüber verlangt m. E. gerade das neue Recht von den Vollzugs-
an.stalten eine grundsätzliche Einstellung ganz anderer Art, die sich auf-
geschlos.sene Menschenbeurteilung und Menschenführung und zeitgemäßen
Arbeitseinsatz zum Ziel setzt. Um eine Anstalt, deren Hauptzweck die
Erziehung für das freie Leben sein soll, dürfen keine chinesischen Mauern
gezogen sein! Und auch die Dauerbewahrung ausgesprochen lebensun¬
tüchtiger, im übrigen verhältnismäßig harmloser Menschen erfordert, wenn
mit ihr wirklich Emst gemacht werden soll, eine völlige und grundsätzliche
Lösung von den Methoden der Sicherungsverwahrung gefährlicher Schwer¬
verbrecher und des ausgesprochenen Strafvollzugs überhaupt. Statt dessen
werden alte Gewohnheitsbettler, die schon zum achten oder zehnten Mal
im Arbeitshaus untergebracht sind, immer noch zwei Jahre lang in Arrest¬
zellen eingeschlossen und dann — als schüchternes, aber völlig unzuläng¬
liches Zugeständnis an die neue Zeit — bestenfalls noch für ein halbes
Jahr einer Arbeiterkolonie überwiesen, bevor sie in ihrer alten, ungebroche¬
nen Liederlichkeit wieder auf die Menschheit losgelassen werden! Je mehr
man die Asozialen in Behördenerlassen und bürokratischen Vollzugsord¬
nungen als „Arbeitshausgefangene“ und „Berufsverbrecher“ apostrophiert,
umso enger wird der Kreis der tatsächlich erfaßten Asozialen gezogen
sein und umso weiter wird man von einer Lösung der Asozialenfrage ent¬
fernt bleiben. Je gefängnismäßiger der Vollzug einer Arbeitsanstalt durch¬
geführt wird, umso geringer wird die Zahl ihrer Insassen sein und umso
früher werden die Untergebrachten aus der Anstalt wieder entlassen, um
von neuem zu verwahrlosen. Wer Asozialenanstalten der verschiedensten
Art besichtigt, beispielsweise das Städtische Arbeits- und Bewahrungshaus
Berlin-Rummelsburg, das Versorgungsheim Hamburg-Farmsen, die Hoff-
nungsthaler Anstalten in Lobetal bei Bernau, den bayrischen Heimathof
Herzogssägemühle bei Schongau oder die Arbeitsanstalten mittelgroßer
preußischer Provinzen, der wird immer aufs neue darüber verblüfft sein,
wie wenig sich die in diesen verschiedenen Anstalten untergebrachten
Menschen von einander unterscheiden. Dabei sind die genannten Anstalten
organisatorisch denkbar verschieden von einander. Verschieden sind ins¬
besondere die Rechtsgrundlagen der Anstaltsunterbringung. Im Städtischen
Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Rummelsburg befinden sich sowohl
Insassen, die nach § 42 StGB, als nach § 20 der Fürsorgepflichtver-
171
Ordnung im Arbeitshaus untergebracht sind, als solche, die, sei es mit
Zustimmung ihrer Vormünder oder Aufenthaltspfleger, sei es auf der
Rechtsgrundlage freiwilliger Bewahrung durch irgendeine Wohlfahrts¬
dienststelle eingewiesen sind. Die Behandlung der Insassen richtet sich
hier nicht nach der Rechtsgrundlage der Unterbringung, sondern aus¬
schließlich nach Alter, Arbeitstauglichkeit, nach der psychologischen
Eigenart und nach den disziplinären Erfordernissen des Einzelfalls. In
den meisten anderen Arbeitshäusern sind nur Arbeitshäuslinge nach § 42
StGB, oder nach § 20 RFV. untergebracht. In Hamburg-Farmsen
und Herzogssägemühle sind die Insassen aufgrund landespolizeilicher Be¬
stimmungen, nach § 20 RFV. oder auf der Rechtsgrundlage der
Entmündig^ung oder (wie überwiegend in Lobetal) freiwillig untergebracht.
Ob nun ein haltloser und trunksüchtiger Landstreicher oder Großstadt¬
penner durch den Strafrichter ins Arbeitshaus eingewiesen wird, ob er
einer Fürsorgestelle in die Arme fällt, die ein Entmündigungsverfahren
oder ein Unterbringmngsverfahren nach der Fürsorgepflichtverordnung
durchführt, ob nach Landesrecht die polizeiliche Unterbringimg den Vorzug
der Einfachheit besitzt, oder aber ob er formlos durch eine F^rsorgebe-
hörde überwiesen wird: das ist im Einzelfall reine Zufallssache! Es ist
daher nicht einzusehen, warum sich die Vollzugsmethoden der Bewahrung
nach den Rechtsgrundlagen der Unterbringung richten sollen. Die Menschen
sind überall dieselben, der Unterbringungszweck (Erziehung und Be¬
wahrung) ist überall derselbe, warum sollen nicht auch die Anstalts¬
methoden eine weitgehende Angleichung erfahren?
Zeitgemäße Reform des Arbeitshausvollzugs im Rahmen der gesamten"
Bewahrungsfürsorge muß daher die Losung sein! Die Lösung des Arbeits¬
hausvollzugs vom traditionellen Strafvollzug und seine Angleichung an
die Methoden halboffener, koloniemäßiger Bewahrung ist keine „knochen¬
erweichende Humanitätsduselei“ und bedeutet keine völlige Verbannung
des Strafgedankens aus den Vollzugsanstalten. Der Leichtsinn, die
Hemmungslosigkeit, die Trägheit und Stumpfheit der meisten Asozialen
lassen Straffheit und Strenge in vielen Fällen sehr angezeigt erscheinen.
Eine tatkräftige An.staltsleitung wird schärfstens gegen Trunksucht,
Faulheit, Unverträglichkeit, Auf-sässigkeit und vor allem gegen das chro¬
nische Weglaufen von Tunichtguten und Taugenicht.sen einschreiten
(schwierige Elemente an andere Anstalten abzuwimmeln, ist bequemer).
Strafe als Mittel der Anstaltszucht ist in Bewahrungsan.stalten schlechter¬
dings unentbehrlich, wenn man keine potemkinschen Dörfer errichten will.
Mit Süßholzraspeln wird die asoziale Frage nicht gelöst, das sei hier laut
und deutlich ausgesprochen! Aber deshalb braucht nicht der
gesamte A n s t a 11 s v o 11 z u g den Stempel der Strafe zu
tragen ! Schon der Leichtsinn läßt sich nicht durch Strafe allein be¬
kämpfen. Flache, antriebsarme, haltlose Menschen, die man jahrelang
nur mit gefängnismäßiger Strenge behandelt, werden zu feigen, servilen
Anstaltskreaturen, nicht zu selbständigen Charakteren erzogen. Diese
Ruinen menschlicher Charaktere als Erziehungserfolge jahrzehntelangen
Strafvollzugs sind ja jedem Anstaltspraktiker zur Genüge bekannt. Und
in vielen Fällen ist Strafe als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel
schon von Haus aus weniger geeignet (so bei Harmlos-Schwachsinnigen,
Gutmütig-Unbeholfenen, charakterlich Gehemmten, bei introvertierten und
übersensiblen Sonderlingen und manchen anderen Typen). Jeder Jugend¬
erzieher kennt ja die Unterschiede zwischen dem verwöhnten Mutter¬
söhnchen, das straffe Zucht benötigt, und dem entmutigten und verschüch-
172
terten jungen Menschen, dessen charakterliche Förderung nur mit Geduld
und Nachsicht zu erzielen ist. Das ist auch in der Erwachsenenerziehung
nicht viel anders. Wichtiger als Strafe ist in jeder Anstaltspraxis Kon-
.sequenz. Straffheit und Strenge sind anzuwenden, insoweit sie notwendig
sind, im übrigen soll die persönliche Freiheit von Anstaltsinsassen nur
in dem Umfang beschränkt werden, als der Unterbringungszweck es
erfordert.
Um die Erziehungsaufgaben des Arbeitshauses stärker zu betonen,
wird verschiedentlich vorgeschlagen, die Arbeitshausunterbringung schär¬
fer auf die Erziehungsfälle zu begrenzen und die Arbeitsunfähigen, die
Personen mit schweren geistigen Anlagemängeln und alle „Besserungs¬
unfähigen“ aus dem Arbeitshausvollzug auszuscheiden.
So schlägt Meixner statt des heutigen Arbeitshauses einen dreifachen
Typus von Anstalten vor:
1. eine Arbeitserziehungsanstalt für Arbeitsfähige, erst¬
malig Untergebrachte unter 45 Jahren, „bei denen die Vermutung besteht,
daß sie nach entsprechender Erziehungsbehandlung die Fähigkeit besitzen,
sich durch freie Arbeit den notdürftigen Lebensunterhalt zu erwerben“,
2. eine Verwahrungsanstalt für wiederholt Untergebrachte
bis zu 60 Jahren und erstmalig Untergebrachte über 45 Jahren, deren
Besserungsfähigkeit zweifelhaft ist, die jedoch im Rahmen der Anstalt
arbeitsfähig sind,
3. eine Bewahrungsanstalt für alle Personen über 60 Jahren,
sowie für die körperlich Gebrechlichen und vermindert Zurechnungsfähigen
jeden Alters und für die entmündigten Trinker, alles in allem für aus¬
sichtslose Dauerbewahrungsfälle.
Sind diese Vorschläge nur Spielereien eines theoretisierenden Dilet¬
tantismus oder liegt ihnen ein berechtigter Gedanke zugrunde? — Eine
gewisse Dreigliederung der Anstaltsinsassen nach den Möglichkeiten ihres
Arbeitseinsatzes ist überall mehr oder weniger zwangsläufig gegeben.
So unterscheidet Herzogssägemühle
1. Personen, die für Arbeitsschulung und Arbeitserziehung in Frage
kommen,
2. „Selbstversorger“, das .sind Dauerbewahrungsfälle, die in landwirt¬
schaftlichen oder ähnlichen Betrieben der Anstalt nutzbringend be¬
schäftigt werden, damit sie durch ihre Arbeit die Unterbringungs¬
kosten decken,
3. Altersheimer.
Ähnlich lassen sich derzeitig die Insassen des Städt. Arbeits- und
Bewahrungshauses Berlin-Rummelsburg in drei Gruppen einteilen:
1. Personen, deren Arbeitsnutzen die Anstalts¬
kosten überschreitet: Sie arbeiten auf Aussenabteilungen
bei Industriebetrieben und ihre Leistungen sind der Arbeit von freien
Arbeitern annähernd gleichwertig (hierunter befinden sich sowohl
„Erziehungsfälle“ als auch „Be^ahrungs- und Verwahrungsfälle“
im Sinne Meixners, vor allem auch entmündigte Trinker und Per¬
sonen mit „schweren psychischen Mängeln“, altersmäßig Kräfte bis
in die Siebziger Jahre),
2. Personen, deren Arbeitsnutzen im allgemeinen
den Anstaltskosten entspricht: Sie werden mit nutz¬
bringenden Arbeiten in Anstaltswerkstätten oder auf Aussen¬
abteilungen in städtischen Betrieben verschiedenster Art beschäftigt
173
(Straßenreinigung, Garten- und Friedhofsämter, Flußbäder, Schul¬
verwaltungen u. ä.),
3. Personen, deren Arbeitsnutzen niedriger ist als
die Anstaltskosten: Sie werden vielfach nur aus anstalts¬
disziplinären Gründen im Rahmen der geschlossenen Anstalt mit
einfachen und einfachsten Arbeiten beschäftigt. Ihre Arbeitstüchtig¬
keit wird durch körperliche und geistige Mängel und Gebrechen her¬
abgemindert.
(Zur Arbeit sind grundsätzlich alle Insassen verpflichtet. Soweit
ältere Insassen längere Zeit oder dauernd asylmäßig bewahrt werden, ist
dies ausschließlich durch Krankheit oder schweres Siechtum bedingt).
Größere Anstalten können heute Arbeitsmöglichkeiten jeder Art
sowohl für Schwer- und Facharbeiter als auch für leichte und leichteste
Arbeit schaffen, wobei der Arbeitseinsatz einer großstädtischen Anstalt
ein anderer sein muß als in ländlichen Anstalten. Der Arbeitsbedarf von
Industrie, Landwirtschaft und öffentlichen Körperschaften ist heute und
in absehbarer Zeit praktisch unbegrenzt, so daß bei tatkräftiger Aus¬
schöpfung der vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten eine radikale Senkung
der Unterbringungskosten erreicht werden kann, aber auch erreicht werden
muß. Schon aus diesem Grund hat der erheblich kostspieligere Strafvollzug
für Arbeitshäuser und Bewahrungsanstalten keine Berechtigung. Der Kampf
gegen asoziales Verhalten gründet sich nicht auf die moralische Minder¬
wertigkeit der Asozialen, sondern darauf, daß diese — zumal in einer Zeit,
wo das Gesamtvolk um Sein oder Nichtsein kämpft — keine nutzbringende
Arbeit verrichten und der Allgemeinheit nur Kosten verursachen. Daher
erscheint als wichtigste Aufgabe der Arbeitseinsatz der Asozialen, und
da dieser in der Regel nur anstaltsmäßig durchführbar ist, bleibt die
Bewahrungsfürsorge in absehbarer Zeit wichtiger als jede theoretische
Erörterung pädagogischer Möglichkeiten. Wenn der Arbeitsnutzen vieler
Anstaltsinsassen mindestens die Anstaltskosten aufwiegt, so ist dadurch
schon ihre „Resozialisierung“ im wesentlichen erreicht, sei es, daß sie
früher oder später in ein freieres Arbeitsverhältnis überführt werden
oder daß sie dauernd unter Anstaltsfürsorge bleiben. Im letzteren Fall
muß die Anstaltsbewahrung immer mehr in Formen verwirklicht werden,
durch die die Anstalt den Insassen zum „Heim“ wird. Zwang allein führt
hier nicht zum Ziel! Je mehr im übrigen den Anstalten der wirklich
produkive Arbeitseinsatz ihrer Insassen glückt, umso größer kann und
muß der Kreis der „Grenzfälle“ gezogen werden, die durch die Bewahrungs¬
fürsorge miterfaßt werden. Bei diesen oft nur anscheinend leichteren
Fällen handelt es sich nicht so sehr um aussichtsreiche Erziehungsfälle
als um die „ Störenfriede der Arbeit“, die zwar meist in einem Beschäfti¬
gungsverhältnis stehen, aber in keiner Arbeit etwas leisten und nirgends
durchhalten, sowie um die mehr oder weniger tüchtigen Gelegenheitsar¬
beiter, die ihren Lohn in Alkohol umzusetzen pflegen. Auch ihr Arbeits¬
einsatz wird am besten im Rahmen einer Bewahrungsfürsorge mit länge¬
rem oder dauerndem Anstaltsaufenthalt verwirklicht.
Gerade aus Arbeitseinsatzgründen wäre es völlig falsch, das heutige
Arbeitshaus (nach äußeren Merkmalen von Alter, Arbeitsfähigkeit und
„Besserungsfähigkeit“) weiter aufzuspalten. Zusammenfassung, nicht
weitere Zersplitterung muß das Ziel sein!
Im übrigen ist die Annahme irrig, daß die reinen Bewahrungsfälle
die Erziehungsaufgaben des Arbeitshauses stören oder entscheidend be¬
einträchtigen. Das Gegenteil ist richtig. Eine Häufung von „Erziehung*-
174
fällen“ birgt viel mehr Störungen und Spannungen in sich als das Milieu
einer Bewahrungsanstalt: die erziehungsfähigen Asozialen unterscheiden
sich von den reinen Bewahrungsfällen meist durch aktivere Verwahrlo¬
sung, größere Unausgeglichenheit und stärkere Neigung zu Kriminalität,
während der stumpfe und antriebsarme Schwächling, der weltfremde
Phantast, der ausgesprochene Altersverwahrlosungsfall und viele anderen
Typen von sozial Unerziehbaren im Rahmen eines Erziehungsmilieus selten
stören. Man vergesse nicht, daß moralische Minderwertigkeit, kriminelle
Gefährlichkeit und soziales Versagen drei grundverschiedene Begriffe sind.
Viele sozial Unerziehbare sind weder moralisch minderwertig noch kriminell
gefährlich!
Die Frage, wieviel Arbeitshausinsassen „besserungsfähig“ oder „un¬
verbesserlich“ sind, geht im übrigen von falschen Voraussetzungen aus.
Die Variationsbreite erziehlicher Beeinflußbarkeit Asozialer ist sicher
größer als gemeinhin angenommen wird, aber die Möglichkeiten der Er¬
ziehung und Besserung lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen.
Die meisten Asozialen sind charakterlich weich, unselbständig, gutmütig¬
lenkbar. Der Schwachbegabte, antriebsarme und unbeholfene Mensch läßt
sich willig vom Rhythmus einer größeren Anstaltsgemeinschaft tragen. Er
gehorcht der Gewohnheit und läßt sich von der Masse lenken! Im großen
ganzen ist der Kampf gegen asoziales Verhalten ein Kampf gegen Stumpf¬
heit und Schwerfälligkeit. Komplizierte seelische Erlebnisvorgänge
schwingen nur in einer Minderheit von Fällen mit. Die Gewöhnung an
.Arbeit und Ordnung ist von ausschlaggebender Bedeutung! Es ist somit
nicht allzu schwierig, auf die Charakterentwicklung asozialer Personen
durch Anstaltserziehung einen günstigen Einfluß auszuüben, fraglich ist
lediglich die Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit dieses Einflusses.
Folgende Kategorien sozial unerziehbarer Anstaltsinsassen lassen
sich unterscheiden:
1. Aussichtslose Fälle infolge schwerer Anlageschäden,
2. Altersverwahrlosungsfälle, deren Aussichtslosigkeit auf altersbeding¬
ter Schwächung der Verstandes- und Willenskräfte beruht. Grund¬
sätzlich unterscheiden sie sich nicht von normalen Alterspflegefällen,
sind jedoch disziplinär häufig für normale Altersheime untragbar.
Die Zunahme oder Abnahme dieser Fälle hängt von den Verände¬
rungen im Altersaufbau des Volks, sowie von der Stärkung oder
Schwächung des Familiengedankens ab.
3. Ältere Anstalt.sfälle, deren soziale Unerziehbarkeit dadurch bedingt
ist, daß nicht rechtzeitig mit durchgr^fenden Fürsorge- und Erzie¬
hungsmaßnahmen eingeschritten wurde. Die heutige Aussichtslo.sig-
keit beruht auf Unterlassungssünden der Vergangenheit. Diese Fälle
bilden ein Hauptkontingent unserer Anstalten und gerade’ des Ar¬
beitshauses, denn die Verwahrlosung der meisten Asozialen beruht
sowohl auf eigener Schuld als auf Anlageschäden als auf sozialen
Voraussetzungen. Es ist durchaus zu hoffen, daß durch Ausbau
einer Bewahrungsfürsorge mit starkem pädagogischen Einschlag die
endgültige Verwahrlosung vieler Fälle verhütet werden kann.
Am aussichtslosesten sind die Fälle von schwerem Schwachsinn und
schwerem Alkoholismus. Aber die Regel bilden die Fälle leichter Debilität,
die Übergänge vom Schwachsinn zu den verschiedensten Schattierungen der
Dummheit und Beschränktheit, sowie die leichtsinnig-harmlosen Gelegen¬
heitstrinker! Die Nachhaltigkeit von Erziehungserfolgen wird hier oft
von äußeren Gegebenheiten abhängen, zuvörderst von der herrschenden
175
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Ordnung in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Stehen geeigrnete Arbeits¬
plätze für schwächere Kräfte in ausreichender Anzahl zur Verfügung, wie
heute und in absehbarer Zeit, so liegen die Aussichten verhältnismäßig
günstig. Daraus folgt, daß die Bereitstellung fürsorgerisch günstiger
Arbeitsplätze und eine längere Betreuung nach der Anstaltsentlassung not¬
wendig, aber auch erfolgversprechend ist. Die meisten Anstaltsentlas¬
sungen sind nur unter der Voraussetzung vertretbar, daß eine solche
nachgehende Fürsorge gewährleistet wird, so wie viele Verwahrlosungen
heutiger Anstaltsinsassen auf ein früheres Versagen der öffentlichen Für¬
sorge zurückzuführen sind. Die disziplinierenden Auswirkungen einer tat¬
kräftigen und zielbewußten Bewahrungsfürsorge werden weit in das öffent¬
liche Leben hineinreichen. Wir stehen erst in den Anfängen einer Arbeit,
die es auszubauen gilt.
Es ist ein weitverbreiteter Fehler, die „Bewahrung“ nur negativ als
etwas Zweitrangiges anzusehen, für das jeder Kosten- und Müheaufwand
zu schade ist. Sachgemäße Anstaltsfürsorge (Dauerbewahrung) für Un¬
beholfene, Einsichtsschwache und Lebensuntüchtige ist für die Volksge¬
meinschaft mindestens ebenso wichtig wie die „Erziehung“ der Gefähr¬
deten, die in zahlreichen Fällen doch nur ein frommer Selbstbetrug bleibt.
Schon in der Fürsorgeerziehung überschneiden sich Erziehung und
Bewahrung vielfach. Auch eine reine Bewahrungsfürsorge kann nur mit
Erziehungsmethoden durchgeführt werden, anderseits bleibt auch bei
sogenannten reinen Erziehungsfällen der Erziehungserfolg oft nur ein
vorübergehender. Irgendwie bleibt er immer problematisch, daher besteht
ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Erziehungs- und Bewahrungsfällen
überhaupt nur in der Theorie.
So wie um das Arbeitshaus keine chinesischen Mauern gezogen werden
dürfen, sollen auch innerhalb des Arbeitshauses keine chinesischen Mauern
gezogen werden. Zweckmäßig ist ein Stufensystem von streng geschlos¬
senen und halboffenen Abteilungen, die in regem Wechsel- und
Austauschverkehr stehen. Auch dieses Stufensystem ist nur im Rahmen
größerer Anstalten durchführbar. Ein und derselbe Mensch muß bald
in straffer, bald in aufgelockerter Form bewahrt werden, je nach den
täglich wechselnden Erfordernissen der Einzelfälle, sowie ein und derselbe
Mensch bald voll, bald beschränkt arbeitseinsatzfähig, bald arbeitseinsatz¬
unfähig ist. Oft wird schon das Vorhandensein geschlossener Einrichtungen,
die Möglichkeit ihrer Anwendung und gegebenenfalls ihre vorübergehende,
mehr oder weniger ausnahmsweise Anwendung genügen. Im übrigen wer¬
den für Anstalten in Großstädten oder Großstadtnähe geschlossene Ab¬
teilungen immer wichtiger sein als für Anstalten in abgescluedenen Land¬
gegenden, wo die zeitenweise oder dauernde Herausnahme aus einem un¬
günstigen Milieu schon durch die abgelegene Landschaft als solche er¬
zielt wird und wo die Verwahrlosungseinflüsse der Großstadt entfallen.
Eine Anstalt darf nicht zur Schablone erstarren. Sie muß lebendig sein
und ihre Methoden ständig ändern, entwickeln, vervollkommnen, da sie
es ja mit lebendigen Menschen zu tun hat, die sich gleichfalls ständig
ändern und entwickeln. Man soll sich also nicht allzuviel von Hausord¬
nungen und Vollzugsvorschriften versprechen. Verständnisvolle Aufsichts¬
behörden werden, besonders in revolutionären, stürmisch vorwärts drängen¬
den Zeiten, die Vollzugsanstalten nicht unnütz durch bürokratische Ver¬
waltungsanweisungen und Erlasse hemmen und einengen, sondern ihrer
freien Entwicklung Raum geben.
Die Anstalt aber wird immer die beste sein, deren Gesicht am wenig¬
sten anstaltsmäßige Züge trägt.
176
II. Bewahrungsfürsorge
Die P o 1 i z e i als Hüterin der öffentlichen Ordnung nimmt im Kampf
gegen asoziales Verhalten, insbesondere soweit es sich um nicht seßhafte
Menschen handelt, immer schon eine Schlüsselstellung ein, sei es, daß sie
verwahrloste Personen wegen gesetzwidrigen Verhaltens den Gerichten
zuführt, sei es, daß sie dieselben den Fürsorgeverbänden zur Betreuung
und gegebenenfalls zur Bewahrung überweist.
Diese Schlüsselstellung der Polizei ist im neuen Staate, der unter
Überwindung des liberalistischen Nachtwächterprinzips der Polizei grund¬
sätzlich neue, positiv-volkspflegerische Aufgaben stellt, wesentlich ver¬
stärkt. Durch den Erlaß des Reichsinnenministers vom 14.12.1937 über vor¬
beugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei ist auch der unmittel¬
bare polizeiliche Zuständigkeitsbereich erweitert worden. Hiernach kann
inpolizeilicheVorbeugungshaft genommen werden, wer „ohne
Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten
die Allgemeinheit gefährdet“. Nach den zu diesem Erlaß ergangenen
Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamts vom 4. 4. 1938 gilt als „asozial,
wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Ver¬
halten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einordnen will“.
„Demnach sind zum Beispiel asozial:
a) Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende
Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen
Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen (z. B.
Bettler, Landstreicher, Zigeuner, Dirnen, Trunksüchtige, mit
ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten
behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbe¬
hörde entziehen),
b) Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der
Pflicht der Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt
der Allgemeinheit überlassen (z. B. Arbeitsscheue, Arbeitsver-
weigerer. Trunksüchtige)“.
„In erster Linie sind bei der Anordnung der polizeilichen Vorbeugungs¬
haft Asoziale ohne festen Wohnsitz zu berücksichtigen“.
Im Gegensatz zu den asoziales Verhalten ahndenden älteren und
neueren Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs (wie auch zu den Be¬
stimmungen der Fürsorgepflichtverordnung), die sich auf nüchterne An¬
einanderreihung juristischer Begriffe und Einzeltatbestände beschränken,
steht der im fachlichen Schrifttum so umstrittene Asozialenbegriff im
Mittelpunkt dieser neueren gesetzlichen Regelungen. Dies ist zuvörderst
als Ausdruck einer revolutionären Zeit zu werten, die schöpferisch mit
neuen sozialen Gedanken ringt. Im übrigen zeigen gerade die Er¬
fahrungen der gerichtlichen Arbeitshausunterbringung, wie notwendig es
ist, die Dinge im Zusammenhang zu sehen: Für jede grundsätzliche Er¬
örterung ist der Asozialenbegriff schlechterdings unentbehrlich. Auch bei
den vorgenannten Begriffsbestimmungen handelt es sich allerdings um
das Musterbeispiel eines für eine Ressortverwaltung bestimmten Zweck¬
begriffs. Von seiner typischen Erläuterungsbedürftigkeit durch Beispiele
abgesehen, ist dieser Asozialenbegriff zu sehr unter dem einseitigen Ge¬
sichtspunkt der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung geprägt. Er
klingt zu sehr an das Kriminelle, Antisoziale an, das „Sichnichtein-
f ü g e n w o 11 e n“ steht im Vordergrund, während gerade für die große
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177
Masse der Asozialen das „Sichnichteinfügenkönnen“ kennzeich¬
nend ist, so wie das Erfordernis der „Gefährdung der Allgemeinheit“ zu sehr
an die „Gemeingefährlichkeit“ der typischen Verbrecher angrenzt, während
sich die große Masse der Asozialen aus verhältnismäßig harmlosen
Schwächlingen zusammensetzt.
Dementsprechend wird auch durch die Praxis der polizeilichen Vor¬
beugungshaft nur eine gewisse Minderheit von Asozialen erfaßt: Aktiv
Verwahrloste, die durch besondere Hinterhältigkeit, Hartnäckigkeit und
Böswilligkeit, oder aber durch besondere Unbeherrschtheit, Hemmungs¬
losigkeit und Verantwortungslosigkeit unliebsam auffällig sind und vom
gesunden Volksempfinden als Herausforderung empfunden werden. Nach
den Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamts soll polizeiliche Vorbeugungs¬
haft „die schärfste und letzte Erziehungsmaßnahme“ sein. Das Gros der
schwachsinnig-hilflosen, auch körperlich vielfach schwächlichen, vor allem
altersgebrechlichen Asozialen fällt nach wie vor den Fürsorgeverbänden
zur Last. Auch insoweit die formalen Voraussetzungen für polizeiliche
Vorbeugungshaft auf diese Personen zutreffen, werden sie meist wegen
ihrer körperlich-geistigen Armseligkeit als „nichtlagerfähig“ bezeichnet
und es wird von ihrer Unterbringung in polizeilichen „Erziehungslagem“ Ab¬
stand genommen. Noch mehr als bei der gerichtlichen Arbeitshausunter¬
bringung wirkt sich hier die Eigenart des Unterbringungsvollzuges ein¬
schränkend aus. Die Bedeutung der polizeilichen Vorbeugungshaft liegt
weniger im Quantitativen als in einer gewissen Dynamik: Schon die Mög¬
lichkeit der polizeilichen Lagerunterbringung bewirkt bei vielen leichtsinnig¬
haltlosen und ethisch-stumpfen Charakteren eine gewisse heilsame Ein¬
schüchterung und sicherlich schadet es durchaus nicht, daß wenigstens mit
der Frechheit und Unverfrorenheit so mancher Schmarotzer und Volks¬
schädlinge tatkräftig Schluß gemacht wird.
Ein besonders wichtiger Zuständigkeitsbereich ist der Polizei neuer¬
dings durch die Einrichtung des polizeilichen Jugendschutzlagers
übertragen worden. Die Bewahrungsfürsorge für Jugendliche ist von Hause
aus ein Arbeitsgebiet von besonderer Problematik: Dadurch, daß die Für¬
sorgeerziehung seit Ende 1932 regelmäßig mit dem 18. Lebensjahr, statt
wie früher mit dem 21. endet, ist die Frage, in welcher Form die Anstalts¬
bewahrung gefährdeter und verwahrloster junger Menschen zwischen dem
18. und 21. Lebensjahr durchgeführt werden soll, seit Jahren ungelöst.
Einige großstädtische Fürsorgeverbände, so vor allem Hamburg und
Berlin, haben frühzeitig eine kommunale Bewahrungsfürsorge für die in
Frage kommenden Jugendlichen eingerichtet, von den meisten Landes¬
fürsorgeverbänden bzw. Landesjugendämtem ist dies verabsäumt worden,
wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß der Kampf gegen die Jugend¬
verwahrlosung in Großstädten eine ungleich dringlichere Aufgabe darstellt
als in ländlichen Bezirken. Überall handelt es sich um einen doppelten
Personenkreis von Jugendlichen, nämlich um:
1. aus der Fürsorgeerziehung (großenteils als „unerziehbar“) Ent¬
lassene,
2. Spätverwahrloste, bei welchen sich Unterbringung in F. E. zeitlich
nicht mehr lohnt.
Die Entwicklungsaussichten dieser jungen Menschen sind überwiegend
ungünstig. Anderseits läßt es sich bei ihrer charakterlichen Unreife nicht
veranworten, sie als völlig hoffnungslos ihrem Schicksal zu überlassen.
Die Erfahrungen der kommunalen Bewahrungsfürsorge deuten darauf hin,
(laß auch die angebliche „Unerziehbarkeit“ mancher F. E.-Fälle tatsächlich
auf einer pädagogischen Fehlbehandlung vergangener Jahre beruht.
2
178
Und oft setzt bei jungen Menschen, die man jahrelang als ganz aussichts¬
lose Fälle ansah, überraschend eine günstige Spätreife ein. Diese
Jugendlichen sind also immer noch in besonderer Weise schutzbedürftig.
Aber auch die Volksgemeinschaft ist in ihrem Verhältnis zu diesen Jugend¬
lichen schutzbedürftig: Viele sind aktiv verwahrlost und neigen zu offener
Auflehnung gegen die gesellschaftliche Ordnung, zu Kriminalität. Es gilt,
sowohl ihre endgültige Verwahrlosung als ihre Kriminalität zu verhüten!
Das polizeiliche Jugendschutzlager setzt sich nicht die Aufhebung,
sondern die Ergänzung der kommunalen Jugendbewahrung zum Ziel.
Manche kommunale Anstalten haben auf diesem Gebiet schon erfolgreich
gearbeitet. In der Regel setzt der Aus- und Aufbau einer erfolgreichen
Anstaltserziehung jahrelange, mühevolle Kleinarbeit voraus. Es wäre
sinnlos, dieses mühsam erarbeitete „pädagogische Potential“ zu zerstören.
Vor allem handelt es sich um die Heranziehung und praktische Schulung
geeigneter Sozialkräfte, die nun einmal einen Seltenheitswert besitzen. Immer
sind es Persönlichkeitswerte, die den wichtigsten Aktivposten jeder Er¬
ziehungsarbeit bilden. Jede erfolgreiche Erziehung setzt die schöpferisch¬
ursprüngliche Persönlichkeit eines Erziehers, nicht etwa eine behördliche
Einrichtung, voraus. Im Rahmen einer Anstaltserziehung wird es regel¬
mäßig die Persönlichkeit des Anstaltsleiters sein, die das Gepräge des Er¬
ziehungsmilieus bestimmt. Daraus folgt, daß jede Aktivierung pädagogi¬
scher Möglichkeiten eine stark individuelle Note besitzen muß. Eine
staatliche Einheitsschablone wäre vom Übel. Je mehr Raum im Rahmen
einer Anstalt die Jugendarbeit einnimmt, umso stärker muß die individuelle
Note der Anstalt ausgeprägt sein. Zwar gibt es auch unter jungen
Menschen schwachsinnig-primitive Dauerbewahrungsfälle, bei denen es
lediglich auf die Eingewöhnung in einen Anstaltsmechanismus ankommt,
aber in den meisten Fällen von Jugendverwahrlosung genügt weder Ge¬
wöhnung an Arbeit und Ordnung, noch eine Zucht, die nur negativ die
Unterdrückung verkehrter Anlagen und Neigungen zum Ziel hat. Ein
nachhaltiger Erziehungserfolg hängt vielmehr davon ab, daß es gelingt,
der gesunden Lebens- und Willenskraft junger Menschen eine positive
Richtung zu geben. Junge Menschen wollen ausgefüllt, mitgerissen, be¬
geistert werden.
Demgemäß wird auch die Arbeitsteilung zwischen dem polizeilichen
Jugendschutzlager und der kommunalen Bewahrungsfürsorge in erster
Linie von den Erziehungsaussichten des Einzelfalles ausgehen. Das
Jugendschutzlager steht vor allem im Dienst der vorbeugenden Verbrechens¬
bekämpfung. Es wird mehr die antisozialen als die ausgesprochen asozialen
Jugendtypen erfassen. Jugendliche mit stark kriminellen Tendenzen ge¬
hören in das Jugendschutzlager, vor allem auch Jugendliche, die in allen
Lebenslagen zu einem mehr oder weniger unmotivierten Weglaufen neigen.
Hier steht der Schutz der Allgemeinheit gegen den jugendlichen Gesetzes¬
übertreter im Vordergrund. Die Lagerunterbringung wird dementsprechend
mit den schärfsten Mitteln der Bewachung und bei straffster Zucht durch¬
geführt (ihre Kosten liegen daher wesentlich höher als die Kosten der
kommunalen Jugendbewahrung). In die kommunale Bewahrungsfürsorge
gehören demgegenüber
1. Jugendliche, die anlagemäßig von vornherein als Dauerbewahrungs¬
fälle anzusehen sind, die zwar — meist infolge hochgradigen Schwachsinns —
sozial unerziehbar und lebensuntüchtig, dabei aber verhältnismäßig harm¬
los, also nicht kriminell sind;
2. Jugendliche von großer charakterlicher Unreife, die sittlich oder
sozial verwahrlost, aber weniger kriminell sind (deren allenfalls gelegent-
liehe Kriminalität vielfach situationsbedingt ist, aus Abenteuerlust, Phan¬
tasterei und spezifisch jugendlicher Unruhe entspringt). Ähnlich wie in
der Fürsorgeerziehung spielen als Ursachen ihrer Verwahrlosung sowohl
gewisse Anlageschwächen als insbesondere Unzulänglichkeiten des elter¬
lichen Erziehungsmilieus eine Rolle. Das sind die Fälle, bei welchen allen¬
falls mit Erziehungserfolgen gerechnet werden kann.
Sowohl die „Harmlos-Schwachsinnigen“ als die „Unreifen“ sind im
Rahmen einer Anstaltsfürsorge willig und lenkbar (wenn sie auch nach
den Vorgängen meist als sehr schwierig galten!), gefängnismäßige Be¬
wachung und straffste Lagerzucht wäre hier ein „Mit Kanonen nach
Spatzen schießen“. Die charakterliche Förderung wird nicht so sehr durch
Straffung als durch ein aufgelockertes Verfahren erzielt, durch Erziehung
zur Selbständigkeit, durch verständnisvolles Eingehen auf persönliche
Eigenart, durch Nachsicht mit jugendlicher Unausgeglichenheit und Unreife
oder auch mit Anlagemängeln, nicht jedoch durch Abschreckung und Ein¬
schüchterung. Denn hier fehlt es ja meist nicht so sehr am guten Willen,
als an Halt, Festigkeit, Kraft und Lebensmut. Es genügt daher ein „sanf¬
ter Druck“ erzieherischer Bestimmtheit und Folgerichtigkeit und gegebenen¬
falls vorübergehende Absonderung aus einer nachteiligen Umgebung, er¬
forderlich ist eine Stärkung des persönlichen Muts und Selbstvertrauens.
Es ist alles zu vermeiden, was das Ehrgefühl des jungen Menschen un¬
nötig kränkt und was als Zurücksetzung und Deklassierung empfunden
werden muß. Erzieherisch von größter Wichtigkeit ist ein günstiger
Arbeitseinsatz. So werden die Jungmänner des städtischen Arbeits- und
Bewahrungshauses Berlin-Rummelsburg kolonnenmäßig in einem großen
Industriewerk eingesetzt, dessen Betriebsleiter sie mit Vorliebe als seine
„besten Arbeiter“ bezeichnet. Das ist entschieden günstiger als jede
Beschäftigung hinter Drahtzäunen oder Anstaltsmauern!
Wenn Jugendschutzlager und kommunale Jugendbewahrung Er¬
ziehungsaufgaben lösen oder mitlösen sollen, darf ihre Arbeit nicht die
Erreichung des einundzwanzigsten Lebensjahres als obere Grenze behalten.
Bei den spätverwahrlosten und charakterlich schwierigen jungen Menschen,
um die es sich handelt, wird in der Regel eine verhältnismäßig späte Nach¬
reife einsetzen, wenn überhaupt Besserungsaussichten bestehen. An sich
klafft hier eine gewisse Lücke im bürgerlichen Recht. Zwar kann nach
bestehendem Recht ein Jugendlicher schon mit dem achtzehnten Jahr für
mündig erklärt werden, wenn er die erforderliche Reife besitzt. Falls er ,
aber, was mindestens ebenso häufig der Fall sein dürfte, mit dem einund¬
zwanzigsten Lebensjahr die normale Reife noch nicht erlangt hat, so fehlt
bisher die rechtliche Möglichkeit, den Beginn der Volljährigkeit erforder¬
lichenfalls um einige Jahre hinauszuschieben. Als obere Altersgrenze der
Jugendbewahrung ist statt des einundzwanzigsten etwa das fünfundzwan¬
zigste Lebensjahr zweckmäßig.
Durch die neuerliche Ubemahme der Rahmenstrafen aus dem ost¬
märkischen ins großdeutsche Strafrecht erhält der Jugendstrafvollzug als
solcher die Aufgabe der Bewahrung kriminell gefährdeter junger Menschen.
Auch hier wird im wesentlichen alles auf den Vollzug ankommen.
Im Rahmen eines kommenden „Bewahrungsgesetzes“ oder „Gemein¬
schaftsfremdengesetzes“ dürfte nicht so sehr der unmittelbare Zuständig¬
keitsbereich als die „Schlüsselstellung“ der Polizei verstärkt und
erweitert werden. Dies entspricht der tatsächlichen Enrivicklung, vor allem
in den Großstädten. Das Hamburger Beispiel ist in diesem Zusammen-
180
hang weniger lehrreich, weil die Verhältnisse in Hamburg infolge der
Einheitlichkeit der staatlichen und kommunalen Verwaltung besonders
gelagert sind, ln der Reichshauptstadt spielt heute schon die polizeiliche
Initiative eine ebenso wichtige Rolle bei der Anstaltsunterbringung asozi¬
aler Personen wie die Initiative kommunaler Wohlfahrtsdienststellen.
Es handelt sich hierbei meist um formlose Überweisungen verwahrloster
oder verwahrlosungsgefährdeter, vor allem nicht arbeitseinsatzfähiger
Personen durch die Obdachlosenpolizei an das städtische Bew’ahrungshaus.
An sich ist es erfreulich, daß für die überwiegende Mehrzahl dieser Anstalts¬
einweisungen die Rechtsgrundlage der freiwilligen Bewahrung ausreicht,
insofern die Anstaltsbewahrungsbedürftigkeit auch von den eingewiesenen
Personen als subjektive Hilfsbedürftigkeit empfunden wird und insofern
dadurch bestätigt wird, daß der Bewahrungsvollzug in Formen durchge¬
führt wird, die für die Eingewiesenen durchaus tragbar sind. Es ist immer
das beste Zeichen für eine Anstalt, wenn neben den zwangsweise Unter¬
gebrachten zahlreiche Insassen auch freiwillig Aufnahme in der Anstalt
suchen, wie dies für die kommunalen Bewahrungseinrichtungen charakte¬
ristisch ist. Eine Entwicklung, durch die die freiwillige Anstaltsbewahrung
völlig beseitigt würde, ist keineswegs wünschensw’ert. Trotzdem besteht
ein dringendes Bedürfnis nach einem Bewahrungsgesetz, das den polizei¬
lichen Einweisungen in die kommunalen Anstalten eine festere Rechts¬
grundlage gibt. Die Zahl der Einsichtslosen, Unbeständigen, der querula¬
torischen Schnorrer, der ewig verwahrlosten Gelegenheitsarbeiter und
Gelegenheitstrinker und der ewig Obdachlosen ist doch immer noch so
beträchtlich, daß eine weitere Straffung kommen wird und kommen muß.
Vor allem verlangt eine wirklich geordnete Fürsorge, daß endlich mit dem
Unfug der „Karussellfahrer“ Schluß gemacht wird, die jahrelang planlos,
ziellos und mehr oder w'eniger zuchtlos zwischen öffentlichen und privaten
Anstalten der verschiedensten Art zu pendeln pflegen. Hier kann nur die
Polizei als Werkzeug der zentralen Staatsgewalt wirksame Abhilfe schaffen.
Der Erfolg einer gesetzlichen Regelung wird allerdings dadurch bedingt,
daß ein möglichst einfaches und rasches Einweisungsverfahren gefunden
ward. Ein umständliches Verwaltungsgerichtsverfahren, wde es auch heute
noch die Arbeitshausunterbringung nach § 20 der Fürsorgepflichtver-
ordnung bis zur Bedeutungslosigkeit einschränkt, würde wenig nützen.
Voraussetzung der Durchführung eines solchen Verfahrens ist ja im all¬
gemeinen, daß der Unterzubringende eine gew’isse Seßhaftigkeit besitzt
und daß er längere Zeit von einer und derselben Wohlfahrtsdienststellc
betreut wird, die dieses langatmige Verfahren einleitet und durchführt.
Aber die Asozialen — auch die Großstadtasozialen — sind überwiegend
nicht seßhaft.
Der seßhafte Mensch unterscheidet sich vom nichtseßhaften durch
die Beständigkeit des Wohnsitzes, der Arbeit und der Familienbindungen.
Dementprechend lassen .sich etw'a folgende Typen (und bis zu einem ge¬
wissen Grad Abstufungen) der Nicht.seßhaftigkeit unterscheiden;
1. Der Bettler der Landstraße (heimatlos, arbeitsscheu,
familienlos). Baumgärtner in „Die Straffälligkeit der mittellosen
Wanderer“ (in „Der nichtseßhafte Mensch“) unterscheidet nach dem Grad
der kriminellen Harmlosigkeit oder Gefährlichkeit drei Untertypen: den
wandernden Bettler, den verbrecherischen Bettler und den bettelnden Ver¬
brecher. Als Ganzes steht der Landstreicher im heutigen Deutschland
glücklicherweise allmählich auf dem Aussterbeetat. Die Restexeraplare
181
sind — meist als Dauerbewahrungsfälle — in den Arbeitshäusern unter¬
gebracht.
2. Der ewige Versager: er ist durch ständigen Arbeitsplatz¬
wechsel auffällig, scheitert häufig in seiner Existenz, um immer wieder
von vorne anzufangen. Er ist viel kriminell, trinkt, bessert sich lebens¬
länglich, um immer wieder von neuem zu verwahrlosen. Auch in der Ehe
gibt er meist nur kurze Gastspiele, er ist entweder ledig, getrennt oder
geschieden, sehr selten verheiratet. Ohne zum Landstreicher herabzu¬
sinken, wechselt er oft seinen Wohnort, weil er sich überall unmöglich
macht. Im Zustand seiner endgültigen Ve^ahrlosung taucht er dann
wohl in einer Großstadt unter. Das sind die Fälle, die bei rechtzeitiger
An.staltsfürsorge von Fall zu Fall noch aussichtsreiche Erziehungsfälle
sind. Aber meist zeigt die Lebenslinie dieser ewig Labilen eine deutlich
absinkende Tendenz. Manchmal sind sie in den besten Mannesjahren
kriminell und später, nach Zermürbung ihrer Lebenskraft, nur noch asoziale
Schnorrer mit früh einsetzender Altersverwahrlosung. Manchmal verläuft
die Entwicklung auch umgekehrt, vom harmlos-leichtsinnigen Parasiten
zum verkommenen Verbrecher und zu völliger sittlicher Verwahrlo.sung.
Immer sind diese Menschen die eigentlichen Stammkunden der öffentlichen
Fürsorge, von der sie als geborene Stehaufmännchen, die bald auf- und
bald wieder untertauchen, in den seltensten Fällen in ihrem asozialen
Wesenskern erfaßt werden. Auf den Wohlfahrtsämtern sind sie makel¬
lose Staatsbürger, ihre Unterstützungsakten enthalten wenig Nachteiliges.
Die Polizei, mit der sie in den Stadien ihrer akuten Verwahrlosung Be¬
kanntschaft zu machen pflegen, kennt sie etwas besser.
3. Der Anstaltswanderer: Ein von Haus aus schwächlicher
und unselbständiger Mensch, oft körperlich behindert und noch öfter debil.
Er arbeitet leidlich, solange er anstaltsmäßig bemuttert wird, wenigstens
sind seine Leistungen nach Anstaltsbegriffen mittelmäßig bis ausreichend.
Mit den Anforderungen des freien Lebens können .sie nicht Schritt halten.
Viele Anstaltswanderer versuchen immer wieder, sich zu verselbständigen,
doch diese Versuche enden meist schnell und blamabel und dann suchen sie
erneut im rettenden Hafen irgendeiner Anstalt Schutz. Die meisten sind
aus angeborener Antriebsarmut farailienlos. Manche landen schon in jungen
Jahren im ominösen Kreislauf der öffentlichen und privaten Anstaltsfür¬
sorge, für andere ist dieses Anstaltskarussell die typische Form der Altersver¬
wahrlosung. Diese Menschen sind meist nicht völlig heimatlos, sie pflegen
einer bestimmten Landschaft zuzugehören, ihr Wandertrieb kreist in ver¬
hältnismäßig engen Grenzen, oft um die nähere Peripherie einer Großstadt.
Als altgewohnte Anstaltsmenschen fügen sie sich leicht in jede Gemein-
.schaft ein, sie sind im subjektiven Sinne keineswegs „gemeinschaftsfremd“,
überwiegend sind sie gutmütig-harmlos, mit einem fatalen Einschlag ins
Träge, Stumpfe. Als Insassen von Arbeiterkolonien, Wanderheimen, Be¬
wahrungsanstalten, Arbeitshäusern, Altersheimen, Hospitälern und auch
als fluktuierendes Element der Heil- und Pflegeanstalten sind sie über¬
wiegend harmlos (so wie überhaupt die Asozialen, die einen Großteil ihres
Lebens in Anstalten verbringen, die geborenen Anstaltsmenschen, immer
noch mit die harmlosesten sind). Außerhalb dieses circulus vitiosus
richten sie viel Verwirrung an: häufig handelt es sich um periodische
Verwahrlosungsfälle! Sehr zu Unrecht werden sie oft genug
im Rahmen der verschiedensten An.stalten auf Grund ihrer relativen Harm¬
losigkeit als Erziehungsfälle behandelt und immer wieder aufs neue auf
die Menschheit losgelassen.
182
4. Der Großstadtasoziale: In dem sonst so umfassenden,
doch aus einem überwiegend ländlichen Lebenskreis heraus entstandenen
Sammelband „Der nichtseßhafte Mensch“ fällt dieser komplizierteste, diffe¬
renzierteste und weitaus gemeinschädlichste Verw^ahrlosungstyp so gut wie
aus. Es ist merkwürdig, daß in einem Land wie Bayern, das sozial so
kerngesund ist, seitens der öffentlichen Meinung der Asozialenfrage ein
größeres Interesse entgegengebracht wird als beispielsweise in der Reichs¬
hauptstadt, für welche diese Frage unvergleichlich dringlicher ist. Denn
ständig strömen aus allen Teilen des Reiches den Großstädten und ins¬
besondere der Hauptstadt alle Arten von entwurzelten, brüchigen und ge¬
scheiterten Existenzen zu. Bei all seiner kriminellen Verfilzung, die in
dem genannten Sammelband so erschöpfend und überzeugend dargestellt
ist, bleibt der „Lumpazivagabundus“ der Landstraße ein reichlich harm¬
loses Individuum im Vergleich mit dem Großstadtasozialen. Die Großstadt
ist der gefährlichste Infektionsherd der Verwahrlosung. Alles, was in
Ländern und Provinzen die natürliche Bindung an Familie und Heimat
verliert, hat eine mehr oder weniger starke Tendenz zur Metropole. Halb¬
welt und Unterwelt geben in der Großstadt nicht nur ganzen Straßenzügen
ihr Gepräge (in Berlin die „Münze“, Mulack-, Dragoner-, Gorman-, Linien-
•straße u. ä.!), sondern auch alle Einzelbezirke einer großen Stadt haben
ihre Treff- und Sammelpunkte für Asoziale' und Antisoziale (die
Übergänge zwischen beiden sind immer fließend). Dirnen, Zuhälter,
gerissene und primitive Schnorrer, getarnte Bettler, Betrüger und
Tagdiebe der verschiedensten Schattierungen neigen in diesen Städten
der unbegrenzten Möglichkeiten alle mehr oder weniger dazu, aus ihrem
Parasitentum ein bequemes und einträgliches Gewerbe zu machen. Die
Zeiten sind noch nicht so restlos verrauscht, wo sie, in Cliquen und Ring¬
vereinen zusammengeschlossen, einen Staat im Staate, eine Art von fünf¬
tem Stand bildeten. Gewiß, nicht alle diese Kreise fallen ohne weiteres
unter den Sammelbegriff des Asozialen, aber der asoziale Einschlag ist
doch der bestimmende. Wie beim Bettler könnte man (der B a um-
g ä r t n e r sehen Einteilung entsprechend) auch beim Großstadtbummler
etwa folgende Abstufungen der Gemeinlästigkeit, Gemeinschädlichkeit oder
Gemeingefährlichkeit unterscheiden:
a) Der passiv-verwahrloste Stadtbummler (schwachsinnig-unbeholfen,
arbeitsuntüchtig, ohne Au.sdauer, Haftdelikte),
b) der aktiv-verwahrloste gerissene Schnorrer (getarnter Betrug,
Gelegenheitsdiebstähle, kleinere Eigentumsdelikte sonstiger Art),
c) der aktiv-verwahrloste Triebhaft-Hemmungslose als Trinker (Roh¬
heitsdelikte und Verstöße gegen die öffentliche Ordnung) oder
als sexuell Verwahrloster (Dirnentum, homosexuelle Unsitten
und sonstige Sittlichkeit.sverbrechen),
d) der antisoziale Volksschädling (Einbrecher, Gewaltverbrecher
u. ä.), der in asozialen Kreisen Unterschlupf oder Helfershelfer
sucht.
Intellektuell weist diese Gesellschaft der „Penner“ alle Abstufungen
vom Imbezillen über den antrieb.sarmen Tölpel bis zum hochbegabten, aber
tief verkommenen Bohemien auf, nach der sozialen Herkunft reichen sich
der primitiv-verwahrloste Landarbeiter, der arbeitsscheue Gelegenheits¬
arbeiter, der trunk- und rauschgiftsüchtige Kellner, der verkrachte Kauf¬
mann und der ins Kriminelle abgeglittene oder auch durch Trunksucht
heruntergekommene Arzt und Rechtsanwalt die Hände. In dieser pseudo¬
romantischen Unterwelt erlebt der halbwüchsige Fürsorgezögling seine
ersten zweifelhaften Abenteuer und handelt so mancher Patriarchenbart,der
183
schon bessere Tage sah, mit Streichhölzern oder Schnürsenkeln. Das
geborene Großstadtkind befindet sich in der Minderheit, die meisten dieser
Elendsgestalten sind aus ländlichen und kleinstädtischen Bezirken zu¬
gewandert, doch im Verlaufe ihres mehr oder weniger schicksalhaften Ver¬
wahrlosungsprozesses rettungslos mit der Großstadt verwachsen, sei es,
daß ihre anlagebedingte Abwegigkeit, ihr angeborenes Außenseitertum sie
von Haus aus für die Großstadt prädestinierte, sei es, daß sie irgendwann
dem Dämon Großstadt zum Opfer fielen. Die Bedeutung der Asozialen-
frage für die Großstadt besteht:
1. in der erleichterten Tarnung der Asozialen und
9.. in der Häufung der Verwahrlosunfirseinfltisse.
Die "Übersichtlichkeit und Einfachheit ländlich-kleinstädtischer Lebens¬
verhältnisse erleichtert, die Unübersichtlichkeit, Differenziertheit und
Vielverschlungenheit großstädtischer Lebensverhältnisse erschwert es, den
asozialen Menschen als solchen zu erkennen. Gescheiterte und gestrandete
Existenzen strömen in die Großstadt, weil sie nur hier untertauchen können
und unerkannt bleiben. Das Treiben des großstädtischen Einzelmenschen
ist so weitgehend unkontrollierbar, daß die Lebensgewohnheiten des Pro¬
vinzlers hiergegen kristallklar erscheinen. Gewiß gibt es auch in der Gro߬
stadt krasse Anlageschäden, die selbst der Unerfahrene auf den ersten
Blick erkennt, und gewiß gibt es auch hier eine Minderheit, die durch ihr
rein äußerliches Zerlumpt- und Verlaustsein auffällig ist. doch die Mehr¬
heit der Großstadtasozialen reist inkognito. Schon die Bettler sind hier
undurchsichtiger und gerissener als auf der Landstraße: der Großstadtbettel
braucht kein primitiver Ausdruck der Lebensuntüchtigkeit zu sein, er hat,
geschickt erlernt und geschickt betrieben, finanzielle Möglichkeiten
»rroßen Stils. Das Beispiel des Bettlers, der tagsüber im Berliner
"Westen auf Tour geht und dabei eine fi-Zimmer-Wohnung in Hankow innc-
hat, ist bekannt und bezeichnend. Noch viel größer sind die Möglichkeiten
des getarnten Bettlers, des wilden Händlers, Schiebers und Gelegen¬
heitsarbeiters. Gewerbeunzucht ist von Haus aus spezifisch großstädtisch
und im Rahmen der Großstadt hat die Prostitution die unverkennbare
Tendenz, ihre Methoden ständig zu verfeinern.
Weil die Großstadt größere Möglichkeiten für den Asozialen bietet,
ist der Asoziale hier auch prozentual stärker vertreten. Innerhalb einer
Großstadt ist dieser Prozentsatz freilich nicht überall gleich stark. Jede
Großstadt, vor allem die sozial so differenzierte Reichshauptstadt, hat ihre
besonderen Asozialenbezirke, wo sexuelle, alkoholische und kriminelle Ver¬
wahrlosungseinflüsse der verschiedensten Art sich häufen und sich aus-
breiten, wenn sie nicht tatkräftig bekämpft werden: der Umfang der
Verwahrlosung hängt nicht zuletzt von der Laxheit oder Straffheit der un¬
teren Polizei- oder kommunalen Verwaltungsdienststellen ab. Gerade in Berlin
waren die auffälligen Unterschiede, mit welchen immer schon asoziales
Verhalten von Bezirk zu Bezirk gemessen wurde, bezeichnend. Weil die
Großstadt besonders gefährdet ist, bleibt für sie die Asozialenfrage immer
irgendwie lebenswichtig. Jede Großstadt hat eine Ehre und eine guten
Ruf zu gewinnen oder zu verlieren, wobei die Ehre der Reichshauptstadt
zugleich die Ehre des Reichs ist. Erfreulicherweise zeigt die Entwicklung
der letzten Jahre entscheidende Besserungstendenzen. Seit die Schlacht
gegen die Arbeitslosigkeit siegreich beendet ist, wird die stetig fortschrei¬
tende Straffung und soziale Gesundung immer deutlicher. Damit wird
auch das Gesicht der deutschen Stadt wieder sauberer und ordentlicher.
Die Großstadt ist heute viel mehr ein Schlachtfeld der Arbeit und ein
lebendiges Kräftezentrum als ein Sammelplatz und Zufluchtsort für Asozi¬
ale und Verv'ahrloste. Und die Reichshauptstadt, die ja "wie keine andere.
184
vom Fanatismus des Schaffens besessen ist, ist in erster Linie ein Spiegel
der Kraft und der Größe des erneuerten Reichs.
Der Typus des Großstadtasozialen weist reiche Abstufungen und
Gradunterschiede der Verwahrlosung auf, wobei Unterkunft und Lebens¬
erwerb bestimmend sind. (Die Lösung des nicht seßhaften Großstädters
von allen Familienbindungen ist fast durchweg Voraussetzung
seiner Verwahrlosung). Als Unterkünfte dienen „wilde Herbergen“, ge¬
meinnützige Herbergen, städtische Obdacheinrichtungen und private Schlaf¬
stellen. Die Berliner Verhältnisse seien hier als Beispiel skizziert:
a) Besonders typisch für den Großstadtasozialen, der in Berlin den
klassischen Titel „Penner“ führt, ist von alters her das Milieu der „wilden
Herbergen“ oder auch „wilden Pennen“ (meist in den Bezirken der
Stadtmitte). Der Abschaum und Auswurf der Großstadtasozialen, Bettler,
wilde Händler, Gelegenheitsarbeiter, überwiegend Personen ohne feste
Arbeit und von unkontrollierbarem Lebenserw’erb, erhalten hier nächtliche
Unterkunft für ein so niedrig bemessenes Entgelt, wie es zur Not auch
vom primitiv.sten Schnorrer aufgebracht (erbettelt) werden kann (40—50
Pfennige je Nacht). Die stark fluktuierende Stammkundschaft dieser
schmutzig-primitiven Elendsquartiere wurde in den Jahren der schlimmsten
Massenverwahrlosung auf mindestens 20 000 geschätzt. Sie wurden in der
Vergangenheit von den „Pennern“ wohl hauptsächlich aus dem Grunde
bevorzugt, weil die polizeiliche Kontrolle hier nicht sehr streng gehai\d-
habt wurde, und man hat es früher der Polizei viel zum Vorwurf gemacht,
daß sie aus Gründen der Verbrechensfahndung an der Aufrechterhaltung
dieser Schlupfwinkel interessiert sei. Es ist bekannt, daß hier immer schon
ein schwunghafter Handel mit getragenen, billigst erworbenen oder gestoh¬
lenen Kleidungsstücken und mit allen möglichen Bedarfsgegenständen, noch
in den Anfängen des jetzigen Krieges auch mit Kleiderkarten und Lebens¬
mittelkarten, üblich war. Das gehört nun glücklicherweise der Vergangenheit
an. Die polizeilichen Kontrollen sind seit der Machtergreifung fortschrei¬
tend strenger geworden und die in Frage kommenden Herbergen sind im
Zuge der Zeit immer mehr in Unterkünfte für Rüstungs- und ausländische
Arbeiter verwandelt worden, sie sind als „Pennen“ einfach verdrängt
worden, weil jeder verfügbare Raum im Rahmen der Kriegswirtschaft
zwangsläufig für dringendere Zwecke beansprucht wird. Und im Laufe
des Jahres 1941 haben die berüchtigtsten dieser Quartiere ihren alten Her¬
bergscharakter völlig verloren. Diese Entwicklung hat sich reibungslos
und ohne Störungen vollzogen: So wie der Landstreicher heute von der
Landstraße größtenteils verschwunden ist, so befinden sich auch die „Pen¬
ner“ bis auf verhältnismäßig seltene Restexemplare, die gelegentlich
immer wieder auftauchen, auf dem Aussterbeetat, Sicherlich haben viele
der früheren Stammkunden dieser wilden Herbergen seit der nationalen
Erneuerung den Weg zu Arbeit \md Ordnung zurückgefunden.
b) Auf einer etwas gehobeneren Stufe standen und stehen noch die
Stammkunden der gemeinnützigen Herbergen, die von freien Wohl-
fahrt.sverbänden und kirchlichen Vereinigungen eingerichtet worden sind.
Der Typus der „Schrippenkirche“ steht nach Ursprung und Bestimmung auf
einer Stufe mit der Bodelschwinghschen Arbeiterkolonie: Karitative Gefähr-
detenfürsorge in Verbindung mit ausgesprochen seelsorgerisch orientier¬
ter Pädagogik. Das Menschenmaterial der gemeinnützigen Herbergen ist
erheblich gemischter als das der „wilden Pennen“. Die Kreise über¬
schneiden sich teilweise, vor allem ist auch für die Stammkundschaft der
gemeinnützigen Herbergen ein starkes Fluktuieren kennzeichnend. Die ganz
gerissenen und verkommenen Penner lieben es ja bekanntlich, gelegentlich
185
auch bei den Einrichtungen aller konfessionellen Verbände zu schnorren.
Neben einwandfreien Industriearbeitern finden sich in den gemeinnützigen
Herbergen fürsorgebedürftige Personen der verschiedensten Art, unbe¬
ständige Elemente, wilde Händler, Trinker, Markthallentypen, Wohlfahrts¬
empfänger, darunter hauptsächlich Sozialrentner. Eine gewisse Unruhe
ist all diesen Menschen zu eigen. Auch die ,,Anstaltswanderer“ der Groß-
stadtperinherie tauchen hier mehr oder weniger periodisch auf, so wie es
überhaupt die hervorstechendste Eigentümlichkeit all dieser Leute ist, über¬
all nur kurze Gastspiele zu geben. In dem Augenblick, wo sie irgendwo
gründlicher aufs Korn genommen werden, sind sie verschwunden, überall
wird ihnen rasch der Boden unter den Füßen zu heiß.
c) Die städtischen Obdacheinrichtungen erfassen
neben besonders gelagerten Fürsorgefällen auch den größten Teil der
Stammkunden der wilden und gemeinnützigen Herbergen, meist suchen
die „Penner“ hier im Stadium einer besonderen Not oder vielmehr einer
besonders akuten Verwahrlosung Zuflucht. Das lichtscheueste Gesindel
allerdings, die verkommensten und gerissensten Elemente und die schlimm¬
sten Parasiten scheuen jede Art von Behörde und meiden daher auch die
städtischen Obdacheinrichtungen. Die Inanspruchnahme der letzteren ist
in Berlin auffallend zuBÜckgegangen, vor allem als Folge des wirtschaft¬
lichen und sozialen Wiederaufstiegs, aber auch wegen der immer schärferen
polizeilichen Kontrollen (eine polizeiliche Fahndungsdienststelle ist ständig
im Nächtlichen Obdach untergebracht). Die ursprünglich 4—5000 Besucher
des Nächtlichen Obdachs waren bis Ende 1939 auf etwa 200 täglich zurück¬
gegangen und die städtischen Obdacheinrichtungen hatten im Vergleich
mit den verschiedenen Herbergen, deren polizeiliche Beaufsichtigung
weniger streng gehandhabt wurde, stark an Bedeutung verloren. Seit
dem 1. 9. 1939 ist das Nächtliche Obdach in Berlin dem städtischen Arbeits¬
und Bewahrungshaus angeschlossen, wo die Obdachlosen laufend unter dem
Gesichtspunkt der Bewahrungsbedürftigkeit durchgekämmt werden. Gleich¬
zeitig nimmt sie die Polizei täglich unter die Lupe, die Karteikarten der
Obdachbesucher werden mit dem Steckbriefregister verglichen und die
trotz Arbeitseinsatzfähigkeit arbeitslosen Obdachlosen ins Polizei-Präsidium
eingeliefert, wo ihr Arbeitseinsatz von einer Spezialdienststelle des Arbeits¬
amts durchgeführt wird. Die Folge dieser vielfachen Prüfungen ist, daß
„Penner“ und Dauerobdachlose nur noch in einzelnen Exemplaren, statt
wie früher in Massen, auftauchen (derzeitig wird das Nächtliche Obdach
im Tagesdurchschnitt von 10—20 Personen in Anspruch genommen. Es
besteht nicht der geringste Zweifel, daß trotz des riesigen Zustroms von
auswärtigen und ausländischen Arbeitem in Berlin nicht nur das Arbeit.s-
losenproblem, sondern auch das Obdachlosenproblem restlos gelöst ist).
Die noch immer gelegentlich oder periodi.sch auftauchenden Obdachlosen,
die als Restexemplare des klassischen „Pennertums“ von gestern nach¬
gerade einen gewissen Museumswert erlangen, sind arbeitsscheue Elemente,
„Störenfriede der Arbeit“, gewohnheitsmäßige Gesetzesübertreter leichterer
Art, Wochenend- oder Quartalssäufer, Hemmungslose, Unwirtschaftliche,
Unbeholfene, sehr Schmutzige, stets Verlauste, kurz Menschen, die weder
Arbeitsausdauer besitzen, noch mit Arbeitseinkommen wirtschaften können,
noch für eine ordentliche Wohnunterbringung tragbar sind.
d) In privaten Schlafstellen gibt der Großstadtasoziale
meist nur Zwischenspiele. Insbesondere soweit er Wohlfahrtsschnorrer ist,
liebt er die Veränderung, weil sie die Kontrolle erschwert.
186
5. Einigermaßen seßhaft ist nur die asoziale Familie (Ehemann
meist Trinker oder schwachsinnig, Ehefrau zumeist ebenbürtige Genossin).
Die in Anstalten als Trinker oder säumige Nährpflichtige untergebrachten
Familienväter von asozialen Familien gehören zu den unerquicklichsten
Anstaltsfällen. Infolge starker Anlageschäden sind die Besserungsaus¬
sichten in der Regel eindeutig schlecht, jede Fürsorge hat eine ausge¬
sprochene Sisyphusarbeit zu leisten. Besonders die Ehen der — über¬
wiegend weichen und rührseligen — Trinker sind ein recht trauriges Ka¬
pitel. Auf die häufigen Ehescheidungen der Trinker folgen die ebenso
häufigen Wiederverheiratungen der geschiedenen Ehegatten und die Tra¬
gödie dieser Ehen snielt sich in ewiger, hoffnungsloser Periodizität ab!
Alles an diesen Familien ist Halbheit und auch keine ^Fürsorge wird dem
Fluch dieser Halbheit entgehen.
Die Wohlfahrtsämter sind nun von Haus aus Organe von Gemeinden
mit betont lokalem Interessenkreis. Davon abgesehen, daß das heutige
Wohlfahrtsamt nun einmal in einer Zeit geworden und gewachsen ist, für
welche andere soziale Gedanken bestimmend waren als für unsere Gegen¬
wart (im älteren Fürsorgerecht hat die Asozialenfrage bestimmt keine
große Rolle gespielt), ist das Wohlfahrtsamt am nichtseßhaften Menschen
wenig interessiert. Sein Interesse beschränkt sich im allgemeinen auf
die asozialen Familien und auf gewisse Sonderfäile und auch dieses Inter¬
esse ist ein überwiegend negatives: Man möchte diese Leute los sein!
Nach Grad und Art der Inanspruchnahme öffentlicher Fürsorge kann man
folgende Kategorien von asozialen Personen unterscheiden:
a) langjährige Unterstützungsfälle der offenen Fürsorge,
b) langjährige Unterstützungsfälle der geschlossenen Fürsorge,
c) gelegentliche oder periodische Unterstützungsfälle der offenen
Fürsorge,
d) gelegentliche oder periodische Fälle der geschlossenen Fürsorge
(manche Anstaltswanderer),
e) die chronisch Behördenscheuen, welche öffentliche Fürsorge selten
in Anspruch nehmen, dagegen zwangsläufig Stammkunden der
Polizeibehörden und Gerichte sind.
Die Wohlfahrtsämter übersehen im allgemeinen nur die Verhältnisse
eines Großteils der langjährigen Unterstützungsfälle der offenen Fürsorge,
sie befassen sich des weiteren mit den gelegentlichen und periodischen
Fällen der offenen Fürsorge, aber schon diese Fälle bleiben für die reinen
Unterstützungsämter weitgehend undurchsichtig, weil sie überwiegend
nichtseßhaft sind. Alle anderen Fälle bleiben jedoch den Dienststellen der
Unterstützungsfürsorge von Haus aus fremd. Auch die Kenntnisse der
Wohlfahrtämter bezüglich vieler chronischer oder periodischer Unter¬
stützungsfälle sind — vor allem in der Großstadt — mangelhaft und ein¬
seitig, weil die Vorstrafenverzeichnisse der in Frage kommenden Asozialen
selten eingefordert werden und weil die Asozialen Meister der Tarnung
sind. Schon aus den Vorstrafenverzeichnissen geht hervor, daß viele
langjährige Unterstützungsfälle der öffentlichen Fürsorge gleichzeitig
langjährige Gewohnheitsbettler sind. Im übrigen ist es ein nicht zu unter¬
schätzendes Verdienst des bayrischen Landesverbandes für Wander- und
Heimatdienst, durch das umfassende Material des von ihm veröffentlichten
Sammelbandes „Der nicht seßhafte Jlensch“ den überzeugenden Nachweis
erbracht zu haben, daß sich die Gemeinschädlichkeit des asozialen Menschen
durchaus nicht mit seiner Gemeinlästigkeit, geschweige denn mit seinen
Fürsorgelastcn, deckt. Wenn diese Erhebungen durch das entsprechende
187
Material industrieller Großstädte Norddeutschlands ergänzt würden, ergäbe
sich zweifellos ein noch viel eindeutigeres Bild. Was von der moralischen
und kriminellen Verwahrlosung des Landstreichers gilt, das gilt hundert¬
mal von der moralischen und kriminellen Verwahrlosung des Großstadt¬
penners. Mit der Verwahrlosung des nichtseßhaften Asozialen sind Polizei
und Gerichte in einem viel größeren Umfange befaßt als die Wohlfahrts¬
ämter. Soweit die öffentliche Fürsorge am nichtseßhaften Asozialen inter¬
essiert ist, handelt es sich weniger um die Unterstützungsfürsorge der Be¬
zirksfürsorgeverbände, als um gewisse Spezialdienststellen der Landes¬
fürsorgeverbände (großstädtische' Obdacheinrichtungen, Pflegeämter,
Strafentlassenen-Fürsorge und sonstige Einrichtungen der Gefährdeten-
fürsorge). Das Interesse der Bezirksfürsorgeverbände am nichtseßhaften
Asozialen beschränkt sich im großen ganzen auf die fromme Bauemmoral:
„Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andre an!“ Dieses
Interesse ist meist deshalb schon von Haus aus problematisch, weil die
fürsorgerechtliche Zuständigkeit des Nichtseßhaften regelmäßig zweifel¬
haft ist. (Für Berlin und Hamburg, wo wenigstens Bezirksfürsorgever¬
bände und Landesfürsorgeverband zusammenfallen, bestehen bis zu einem
gewissen Grad besonders günstige Voraussetzungen). Zusammenfassend
soll hier nochmals die dringende Notwendigkeit unterstrichen werden, die
natürliche „Schlüsselstellung“ der Polizei durch ein Reichsbewahrungs¬
gesetz zu verstärken, wobei ein der Nichtseßhaftigkeit der Asozialen an¬
gepaßter Verfahrensmodus gefunden werden muß. (Völlig abwegig wäre
es jedoch, die gerichtliche Arbeitshausunterbringung zu beseitigen, schon
unter Berücksichtisrung der großen Vorzüge des einzelrichterlichen und
zum Teil schnellrichterlichen Verfahrens). —Wer die Auffassung vertritt,
daß das Arbeitshaus ungeeignet zur Bewahrung Asozialer ist und daß
hierfür nur Arbeiterkolonien und Heimathöfe geeigpiet sind, hat keine
Ahnung von den tatsächlichen Schwierigkeiten, die sich aus der Kriminalität,
Böswilligkeit und Uneinsichtigkeit vieler Asozialer ergeben. Der ge¬
rissene Landstreicher und Penner seinerseits sieht jeden, der ihm nicht
mit der von Fall zu Fall erforderlichen Strenge begegnet, mit Recht als
Trottel an (und Strenge ist oft genug auch bei Schwachsinnigen erforder¬
lich). Eine vernünftige und tatkräftige Straffung der „Arbeiterkolonien
und Heimathöfe“ ist ebenso angezeigt, wie eine großzügige Auflockerung
des Arbeitshausvollzugs, aber .^este“ oder „geschlossene“ Häuser können
durchaus nicht als überholte Einrichtungen gelten, wenn die Bewahrungs¬
fürsorge etwas mehr sein soll als Schaumschlägerei und schöne Fassade.
Eine wichtige Sozialbehörde, das Arbeitsamt, ist nur negativ
an der Lösung der Asozialenfrage beteiligt, aber diese negative Funktion
des Arbeitsamts ist von großer praktischer Bedeutung. Der „Erste Durch¬
führungserlaß“ zur Verordnung über Arbeitslosenhilfe vom 5. 9. 1939
(Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 213 vom
13. 9. 1939) führt zu § 1 der genannten Verordnung aus: „Asoziale stehen
dem Arbeitseinsatz nicht zur Verfügung und gehören daher nicht in den
Kreis der Unterstützungsempfänger des Arbeitsamts. Asozial ist, wer
aus Arbeitsscheu Arbeitsmöglichkeiten beharrlich nicht nutzt oder nicht
genutzt hat, oder die Bemühungen, ihm Arbeit zu verschaffen, beharrlich
vereitelt“. (Übrigens wiederum ein Schulbeispiel dafür, wie man einen
Begriff, der nun einmal in jeder grundsätzlichen Erörterung eine wichtige
Rolle spielt, nur unter dem Gesichtswinkel eines einseitigen Ressortstand¬
punktes definieren kann). Daß der Grundsatz der Nichtzuständigkeit der
Arbeitsämter für die A.sozialenbetreuung zum Durchbruch gelangt i.st, be¬
ruht vermutlich nicht zuletzt auf den schlechten Erfahrungen, die man mit
188
der Dienstverpflichtung Asozialer gemacht hat. Man hat erkannt, daß
es doch einen beachtlichen Bruchteil schwieriger Personen gibt, die immer
und überall unliebsam auffallen und in keiner Arbeitsstelle durchhalten.
So sehr die Wirtschaft daran interessiert ist, daß gegen diese sozialen
Störenfriede und ewigen Versager, die die Arbeitsmoral und Arbeits¬
disziplin jedes Betriebs untergraben, streng durchgegriffen wird („böse
Beispiele verderben gute Sitten“), so wenig ist dem Einzelbetrieb damit
gedient, daß ihm Arbeitskräfte aufgezwungen werden, mit denen nun
einmal nichts anzufangen ist, zumal die Erfahrung zeigt, daß die Wirk¬
samkeit von Zwangsmaßnahmen immer eine begrenzte bleibt: Die Flucht
in die Krankheit gibt dem Faulenzer so viele Möglichkeiten, der asoziale
Schwächling ist so erfinderisch an flauen Entschuldigungen, der Nachweis
des bösen Willens und des persönlichen Verschuldens i.st in vielen Einzel-
fällen so schwierig, daß auch in Zeiten stärksten Arbeitsbedarfs der
Wunsch des Betriebsführers, von Arbeitern mit chronischem Leistungsaus¬
fall befreit zu werden, alles andere überwiegt.
Es ist gewiß erfreulich, daß Arbeitsuntreue und Arbeitsverweigerung
durch das neue Arbeits.strafrecht, das durch den Krieg zwangsläufig
verschärft ist, in immer größerem Umfange mit empfindlichen Gefängnis¬
strafen geahndet werden, denn im totalen Krieg ist Arbeitsscheu, Drücke¬
bergerei und Faulenzerei Fahnenflucht und hängt das Schicksal des Ge¬
samtvolks davon ab, daß der letzte Arbeiter seine Pflicht erfüllt. Zimper¬
lichkeit i.st hier nicht am Platz. Die immer vorbehaltlosere Bejahung der
Gemeinschaftsbelange bedingt weitgehende Verschiebungen in der Ab¬
grenzung des Asozialen vom Antisozialen, Kriminellen: Gefängnisstrafen
für Arbeitsuntreue und Arbeitsverweigerung entspringen' der gleichen
Grundeinstellung wie die strengere Verurteilung des Zuhälters seit der
Machtergreifung. In den Jahren des Niedergangs waren die Zuhälter
eine Hauptkategorie der großstädtischen Arbeitshäuser, heute bringt man
sie nur noch in Zuchthäusern, Sicherungsan.stalten und Konzentrationslagern
unter, trotzdem sie milieumäßig und psychologisch mehr dem asozialen
als dem antisozialen Typus zuzurechnen sind. Ähnliches gilt von den
anlagebedingten Homosexuellen.
Es ist jedoch in diesem Zusammenhang zu unterscheiden zwischen
gesunden, kräftigen Menschen und zwischen den notorischen Schwächlingen,
bei welchen Strafe wenig nützt. Heute stehen viele Tausende von schwäche¬
ren Arbeit.skräften, die früher nicht vermittlungsfähig waren, in Arbeit
und Brot. Das bedeutet sicherlich für viele den Beginn einer „Resoziali¬
sierung“. Aber diese Resozialisierung ist mit einer rein statistischen
Überwindung der Arbeitslosigkeit noch nicht erschöpft: Auf die Dauer
muß der Asoziale und ewige Stempelbruder von gestern ein von Grund
auf anderer Mensch werden, es i.st auf die Dauer kein Fortschritt, wenn
er sein altes Lotter- und Faulenzerleben unter neuen Formen fortsetzt,
als Lohn- und Gehaltsempfänger das Niveau der Arbeitsleistung drückt
und die Ai’beitsdisziplin gefährdet. Es ist ebenso Pflicht des verant¬
wortungsbewußten Betriebsführers als des Arbeitsamtes, diesem Volks-
.schädling tatkräftig den Kampf anzusagen. Die Zahl der Grenzfällc und
„sozial schwierigen“ Fälle des Arbeitseinsatzes, die in allen Betrieben völlig
versagen, ist heute noch Legion. Sie sind besonders durch stetigen Arbeits¬
platzwechsel (auch im Kriege) auffällig. Der alte Betrieb ist meist froh,
wenn er sie los wird, der neue Betrieb erlebt keine Freude an ihnen. Über¬
all richten sie nur Ärger, Schaden und Verwirrung an. Hoffentlich er¬
leichtert das kommende Bewahrungsgesetz auch die Anstaltsunterbringung
1
189
dieser Störenfriede und Versager. Wichtig ist, daß sie frühzeitig
in Anstaltspflege genommen werden, solange noch Arbeitserziehungsaus¬
sichten in Frage kommen. (An alten Pennern ist in der Kegel' Hopfen
und Malz verloren.) Man wird sich zur Anstaltsunterbringung dieser Ele¬
mente umso eher entschließen, wenn der produktive Arbeitseinsatz der
Anstalten (kolonnenmäßiger Einsatz in Industriebetrieben) erweitert wird.
Das ist, beispielsweise nach den Kriegserfahrungen des Stadt. Arbeits¬
und Bewahrungshauses Berlin-Rummelsburg, in großem Umfange möglich.
Denn viele der in Frage kommenden „faulen Kunden“ arbeiten ganz brauch¬
bar, sobald sie der straffen Zucht und Aufsicht einer geeigneten Anstalt,
die durchaus nicht den hundertprozentigen Typus der geschlossenen An¬
stalt darzustellen braucht, unterstehen. Zahlreiche Strafregisterauszüge ent¬
halten heute schon mehrere Vorstrafen wegen Arbeitsuntreue, Arbeits¬
verweigerung oder Arbeitsscheu und zeichnen dadurch ein eindeutig asozi¬
ales Persönlichkeitsbild, wie das Persönlichkeitsbild des Landstreichers von
früher durch Dutzende von „Stromerdelikten“ gezeichnet wurde. Bei der
gerichtlichen Unterbringung (nach § 42 StGB.) bleiben die.se einschlägigen
Vorstrafen immer bedeut.sam. Wenn Polizei-, Wohlfahrts- oder Arbeits¬
amtsdienststellen die Anstaltsunterbringung veranlassen oder anordnen,
.sind neuerdings die Arbeitspapiere ein sehr brauchbarer Maßstab. Ins¬
besondere das Arbeitsbuch hat sich auch in diesem Zusammenhang glänzend
bewährt. An Hand der Arbeitsbucheintragungen läßt sich in den meisten
Fällen der fleißige, gediegene Arbeiter unschwer vom ewigen Versager
und „Störenfried der Arbeit“ unterscheiden und es liegt nicht zuletzt im
Interesse der Wirtschaft, daß der letztere immer mehr aus dem freien
Arbeitseinsatz und aus der Betreuung der Arbeitsamtsdienststellen aus¬
geschieden und einer Spezialbehandlung (Arbeitsschulurg und Bewahrung)
unterworfen wird.
Die grundsätzliche Nichtzu.ständigkeit der Arbeitsämter für die
.4sozialenbetreuung wird durch die grundsätzliche Zuständigkeit der Für¬
sorgeverbände, hauptsächlich der Landesfürsorgeverbände, bedingt. Grund¬
sätzlich ist die Betreuung Asozialer durch § 20 der Fürsorgepflichtverord¬
nung vom 13. 2.1924, sowie insbesondere durch die §§ 11, 13 der Reichsgrund¬
sätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom
4. 12. 1924 gesetzlich geregelt. Für die Arbeitshausunterbringung der
„Säumigen Nährpflichtigen“ nach § 20 RFV., deren praktische Bedeutung
heute sehr begrenzt ist, ist das Erfordernis des persönlichen („sittlichen“)
Verschuldens charakteristisch. § 13 RGS. spricht von „Arbeits.scheu und
offenbar unwirtschaftlichem Verhalten“, das zu einer Beschränkung der
öffentlichen Fürsorgeleistungen, vor allem auch auf Anstaltspflege, be¬
rechtigt. § 11 RGS. sieht „Anstaltspflege“ vor, „wenn der körperliche,
geistige oder .sittliche Zustand des Hilfsbedürftigen besondere Maßnahmen
zur Heilung, Pflege oder Bewahrung erfordert“. In der heutigen Praxis
der öffentlichen und privaten Fürsorge lassen sich verschiedene Sy.stemc
der Asozialenbetreuung unterscheiden. Von einem „System“ fürsorge¬
rischer Betreuung zu reden hat in. E. nur Sinn, wo eine fürsorgerische
Praxis auf gewissen tragenden, logisch zusammenhängenden Grundge¬
danken beruht, nicht dagegen, wo für eine fürsorgerische Praxis nur über¬
lieferte Einrichtungen und der Mangel an eigenen Gedanken charak¬
teristisch sind.
In vielen mehr oder weniger ländlich-provinzialen Bezirken des Reichs
wird die Asozialenfrage noch nicht als Problem empfunden. Es herrscht
hier ein Anstaltswesen, das sich in durchaus althergebrachtem Rahmen
bewegt und für das der fiskalische Gesichtspunkt oft genug der ausschlag-
190
gebende ist, auf der einen Seite kleine gefängnismäßige Arbeitshäuser,
aus welchen die „Kunden“ in regelmäßigen Abständen entlassen werden,
damit sie Gelegenheit haben, auch in anderen Provinzen Unfug zu treiben.
Auf der anderen Seite „Landespflegeheime“ oder Anstalten ähnlichen
Namens für die „Landarmen“, meist primitive Altersheime, in welchen
Stumpfsinn, Schwachsinn und Altersblödsinn einen wunderbaren Dreiklang
bilden. Seit den Tagen des Alten Fritz hat sich hier herzlich wenig ge¬
ändert. Dieser patriarchalisch-gemütliche Rhythmus ländlicher Bezirke
ist insofern nicht sehr beti'üblich, als sich die letzteren, von der Kraft
kor.servativ-mittelständischer Kultur getragen, auch ohne behördliche
Bewahrungsfürsorge immer noch weitgehend immun gegen volksschädliche
Einflüsse fühlen. An sich weiß jeder, der deutsches Volkstum in Stadt
und Land kennt, daß überall und selbst in den entlegensten Dörfern eine
bunte und groteske Menge von absonderlichen Typen und Außenseitern
ihr Dasein fristet, die für das freie Leben einer Großstadt nicht tragbar
wäre, aber unter der Kontrolle einer Dorf- und Kleinstadtgemeinschaft
nicht allzuviel Unheil anstiften kann. (In seiner entzückenden Novelle
„Die Grabbenkocher“ hat der geniale flämische Dichter Felix Timmermans
Typen solcher Kleinstadtasozialen gezeichnet).
Soweit systematische Lösungen der Asozialenfrage in Angriff
genommen sind, stehen sich heute folgende drei Typen der Bewahrungs-
iursorge gegenüber:
1. das System der freien Arbeiterkolonien,
2. das System der bayrischen „Heimathöfe“,
3. das großstädtische Bewahrungssystem Hamburg-Berlin.
Zu 1. Das System der freien Arbeiterkolonien:
Das Ziel der größtenteils in den Not- und Elendsjahren des Hoch¬
kapitalismus von freien Wohlfahrtsverbänden und kirchlichen Vereinigungen
gegründeten Arbeiterkolonien war nicht sowohl die Lösung der Asozialen¬
frage als der Kampf gegen die durch die Wirtschaftskrisen bedingte Massen¬
not der Arbeitslosigkeit. Durch die restlose Überwindung der Arbeits¬
losigkeit haben diese Einrichtungen ihre alte Bedeutung verloren und ihre
Umstellung ist auf neue Aufgaben notwendig geworden. Heute ist die
Wirtschaft unbegrenzt aufnahmefähig für die harmlos-willigen, doch
irgendwie schwächeren Arbeitskräfte geworden, welche in den früheren
Krisenjahren das Gros der Arbeiterkolonie-Insassen bildeten. Auch die
winterliche Kolonieunterbringung der ländlichen Saisonarbeiter hat infolge
der wirtschaftlichen Entwicklung bis auf gewisse Restfälle, bei denen
langjährige Gewohnheiten ausschlaggebend sein dürften, aufgehört. Im
ganzen sind die freien Kolonien heute erheblich unterbelegt, ihre Organi¬
sationsformen sind überall mehr oder weniger strittig geworden, eine ganze
Anzahl von Anstalten ist in den letzten Jahren aufgelöst oder kommunali¬
siert worden. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Unter den
Restinsassen der Arbeiterkolonien lassen sich etwa folgende Kategorien
unterscheiden:
a) Kolonisten im alten Sinn,
b) asoziale Anstaltswanderer,
c) typische Bewahrungsfälle.
Zu a) Kolonisten im alten Sinn: Soweit Arbeiterkolonie-Insassen
dem Arbeitseinsatz zur Verfügung stehen, gewährt die Reichsanstalt für
Arbeitslosenversicherung auf Grund der Verordnung über Arbeitslosen¬
hilfe vom 5. 9. 1939 an die Arbeiterkolonien finanzielle Zuschüsse. In einer
Zeit fortschreitender Arbeitsverknappung kann eine Arbeitslosenbetreuung
191
durch Einrichtungen geschlossener Fürsorge nicht von sehr weittragender
Bedeutung sein: Zahlenmäßig sind die reinen Kolonisten im Rahmen der
Arbeiterkolonien nur eine kleine Minderheit.
Zu b) Asoziale Anstaltswanderer: Der Unfug der alten Kolonie¬
bummler, die ohne ordnungsmäßige Betreuung nach Belieben bald hier
bald dort auf- und untertauchen, ist leider immer noch nicht ausgerottet.
Das Bedenkliche an der Tatsache, daß Koloniebummler noch möglich sind,
besteht darin, daß diese Elemente schwerlich die Einzelanstalten mit Rück¬
sicht auf ihre pädagogischen Vorzüge auswählen, vielmehr mit Vorliebe
in den Anstalten Aufnahme suchen, wo sie das bequemste Leben führen,
wo das Arbeitstempo am langsamsten ist, wo am meisten Nachsicht mit
ihren Unsitten, vor allem ihrer Trunksucht geübt wird und wo sie sich am
ungeniertesten jederzeit wieder empfehlen können. Sie neigen dazu, die
Anstalten gegen einander auszuspielen!
Zu c) Typische Bewahrungsfälle: Im Unterschied zu den Kolonie¬
bummlern werden diese Fälle ordnungsmäßig von den zuständigen be¬
hördlichen Stellen zum Zwecke längerer, planmäßiger Anstaltsbe-
w'ahrung überwiesen imd nur im Einvernehmen mit den zuständigen behörd¬
lichen Stellen wieder entlassen. Eine planmäßige Zusammenarbeit mit den
Anstalten der freien Wohlfahrtspflege (insbesondere mit den Hoffnungstaler
Anstalten, Lobetal), eine organische Eingliederung der freien Arbeiter¬
kolonien in das System der behördlichen Bewahrungsfürsorge wird u. a. in
Berlin versucht. Diese Zusammenarbeit ist überall eine Notwendigkeit.
Bei einer Arbeitsteilung zwischen behördlichen und freien Anstalten werden
den letzteren überwiegend die leichteren Fälle zu überweisen sein: Viele
harmlos-schwachsinnigen Dauerbewahrungsfälle werden von den freien
Kolonien vorbildlich betreut; die schwierigen Fälle sind erfahrungsgemäß
für die freien Kolonien nicht tragbar.
Die Arbeiterkolonien haben in der Vergangenheit viel wertvolle
Pionierarbeit geleistet. Ihr Hauptverdienst besteht wohl darin, daß sie
als erste in nennenswertem Umfang produktive Arbeitslosenfürsorge ge¬
trieben haben. (Vgl. die Schrift „Die wirtschaftliche und soziale Bedeu¬
tung der Deutschen Arbeiterkolonien“ von Dr. Kurt Erdlenbruch,
Bethel bei Bielefeld 1929.) Auch in der Gefährdetenfürsorge haben die
Arbeiterkolonien sicher viel Wertvolles geleistet. Ob die freie Wohlfahrts¬
pflege heute noch berufen ist, auf diesem Gebiet ausgesprochene Pionier¬
arbeit zu leisten, erscheint fraglich. Früher unterschied man zwischen
einer „aktiven Oberschicht“ imd einer „passiven Unterschicht“ unter den
Kolonieinsassen. Die aktive Oberschicht ist aber inzwischen fast restlos
verschwunden und auch von der passiven Unterschicht ist nur ein frag¬
würdiger Rest übriggeblieben. Daher stehen heute auf dem Gebiet der
Bewahrungsfürsorge die Notwendigkeiten des staatlichen Zwangs und der
einheitlichen Planung im Vordergrund. Eine gewisse Ergänzung des be¬
hördlichen Zwangs durch die aulgelockerten Methoden der freien Wohl¬
fahrtspflege bleibt immer wünschenswert. Das Verdienst und die Stärke
der freien Arbeiterkolonien besteht vor allem in der Schulung eines tüch¬
tigen Mitarbeiterstabs. Die in der karitativen Anstaltsarbeit tätigen
Sozialkräfte erstreben nicht so sehr ihre persönliche Versorgung; ihre
Arbeit wird weitgehend von selbstlosen Beweggründen getragen, der Dienst
am Menschen ist hier Lebensbedürfnis. Es ist wichtig, daß für den schwie¬
rigen und undankbaren Anstaltsdienst Menschen zur Verfügung stehen, die
sozial aus Anlage und Leidenschaft sind und im Sozialberuf ihre innerste
Befriedigung suchen.
Nach der Statistik des Zentralvorstands der Deutschen Arbeiter¬
kolonien wurden am Schluß des Jahres 1940 in den Arbeiterkolonien 4536
192
olatmä.'jige Plätze gezählt, die tatsächliche Belegung der Kolonien schwankte
im Lauf dieses Jahres zwischen 2718 und 2961 Betten, so daß 1766 bis 1493
Plätze frei waren.
Von den 3592 neu aufgenommenen Kolonisten des Jahres 1940 kamen
in eine Kolonie:
zum erstenmal . 818
„ zweitenmal . 530
„ drittenmal . 355
„ viertenmal . 319
zum fiinftenmal . 263
„ sechstenmal . 192
„ siebentenmal . 142
öfter . 907
(ohne Angaben . 66)
.A.m Ende des Kalenderjahrs befanden sich in den Kolonien 2927
Insassen, davon:
2 Monate und darunter . 470
2—4 Monate . 389
4—6 Monate . 263
6—12 Monate . 417
über ein Jahr . 1388
Daraus folgt, daß die Gesamtarbeit der Kolonien immer noch an¬
nähernd so wichtig ist wie die der Arbeitshäuser. Dem Alter nach w'aren
unter den Neuaufgenommenen (3592):
unter 20 Jahre .
. 18
51—60 Jahre .
. 921
21—30 Jahre .
. 173
61—70 Jahre .
. 1201
31—50 Jahre .
. 975
über 70 Jahre .
. 304
Im Rahmen der heutigen- Kolonialarbeit überwiegt daher die aus
gesprochene Altersfürsorge.
Nach dem Familienstand waren:
ledig .
verheiratet
getrennt ...
verwitwet
geschieden
2545
.. 91
158
393
405
Zu 2. Das System der bayrischen Heimathöfe:
Die Arbeit der von Standartenführer Alarich S e i d 1 e r geleiteten
„Heimathöfe“ des bayrischen Landesverbandes für Wander- und Heimat¬
dienst ist aus der Arbeit freier Kolonien hervorgegangen und anerkennt
ausdrücklich die Verdienste der freien Kolonien in der Vergangenheit. Die
Bodel.schwinghsche Arbeit ging von den Nöten der großstädtischen Indu¬
striearbeiterschaft aus und war ein Beitrag zur Lösung der „Arbeiter¬
frage“ in einer Zeit, deren Sozialgesinnung und deren soziale Probleme
sich vielfach von der heutigen Zeit unterschieden. Die bayrischen Heimat¬
höfe sind demgegenüber aus einem überwiegend ländlichen und mittel-
.ständischen Lebenskreis heraus entstanden. Ihre Arbeit wird von der
Volksnähe und Volksverbundenheit .spezifisch süddeutschen Volkstums ge¬
tragen, der Heimatgedanke steht im Mittelpunkt dieser Arbeit.
Im System der bayrischen Heimathöfe nimmt das Programmatische,
Grundsätzliche einen sehr breiten Raum ein. Diese Tatsache unterscheidet
sich vorteilhaft von der traditionsgebundenen Fürsorgepraxis sonstiger
Länder und Provinzen. Nach den Satzungen des BLVW. (Bayr. Landes¬
verband für Wandei’- und Heimatdienst) ist der „Zw'eck des Verbandes
die Regelung der Wanderfürsorge, insbesondere ist Aufgabe des
Verbandes die Betreuung, Arbeitsschulung und Arbeitsumschulung bedürf¬
tiger oder gefährdeter Personen beiderlei Geschlechts, die Berufsertüchti¬
gung körperbehinderter Personen zum Zwecke ihrer Arbeitseinsatzfähig¬
keit, die Errichtung und Unterhaltung von Arbeitsanstalten und Alters-
heimen für Personen, deren anderweitige Erziehung und Unterbringung
aus besonderen Gründen nicht möglich ist“. „Der Verband erstrebt durch
die Übernahme der Betreuung dieser schwierig zu behandelnden Personen
eine Entlastung der Fürsorgeverbände zugunsten wichtigerer Aufgaben.
Das Ziel des Verbandes ist es in erster Linie, jeden einsatzfähigen Menschen,
der durch besondere Lebensumstände gefährdet ist, der deutschen Volks¬
gemeinschaft zurück zugewinnen“. Bemerkenswert ist, daß in diesen
programmatischen Sätzen, die den „Zweck“, die „Aufgabe“ und das „Ziel“
des Verbands auf so mannigfaltige Art umschreiben, der Asozialenbegriff
keine Verwendung findet. In dem 466 Seiten starken Sammelband „Der
nichtseßhafte Mensch“, der als literarischer Niederschlag dieses „Systems“
angesprochen werden darf, kommt die Bezeichnung „asozial“ nur etwa
zwanzigmal vor. Einmal ist davon die Rede, daß „dem ausgesprochenen
Asozialentum unerschrocken und mit erfrischender Deutlichkeit die asoziale
Maske vom Gesicht zu reißen sei, während dem Arbeitswilligen (!) durch
die persönliche Behandlung die Wertung zugesprochen werden müsse, die
jedem tätigen Volksglied zukomme“ (S. 432). In seiner grundsätzlichen
„Einführung“ unterscheidet Alarich S eid 1 e r zwischen „Gemein¬
schaftsfähigen“ und „Gemeinschaftsunfähigen“:
„Gemeinschaftsfähig ist, wer in den Grenzen seiner Gesundheit und
seiner Arbeitsfähigkeit durch Leistung und kameradschaftliches Verhalten
sich zur Gemeinschaft bekennt und so beweist, daß er die wirtschaftliche
und ideelle Eingliederung in die Volksgemeinschaft erstrebt“.
„Gemeinschaftsunfähig ist, wer trotz vorhandener Arbeitsfähigkeit
sich als arbeitsscheu erweist oder wer in seinem sonstigen Verhalten gegen¬
über der Gemeinschaft in egoistischer Weise den Gemeinschaftsfrieden
stört, insbesondere die Neigung zu Vergehen oder Verbrechen bekundet“.
Diese Begrenzungen und Begn'üfsbestimmungen sind ebenso für die
Bedürfnisse einer bestimmten Verwaltung geprägt wie die mehrfach
zitierten Asozialenbegriffe. Bei den „gefährdeten“ und „schwierig zu
behandelnden Personen“ der bayrischen Heimathöfe handelt es sich im
übrigen um dieselben Typen von Menschen wie bei den „Asozialen“ der
großstädtischen Bewahrungseinrichtungen Berlins und Hamburgs. Hier
wie dort sind „die Grenzen der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ meist
mehr oder weniger eng gezogen, dabei ist das subjektive „Streben“ oft
genug gemeinschaftsbejahend und braucht moralische Minderwertigkeit
nicht ohne weiteres vorzuliegen. (Die subjektive Bindung an die Gemein¬
schaft ist vielleicht sogar bei notorischen Schwächlingen stärker als bei
Menschen von normaler Lebenstüchtigkeit, denn die Schwachen sind ja
mehr von der Gemeinschaft abhängig als die Starken.) In den Veröffent¬
lichungen des BLVW. wird die Gemeinschädlichkeit des „nichtseßhaften
Menschen“ durch umfangreiche wissenschaftliche Forschungsergebnisse
klargestellt und die Notwendigkeit seiner Bewahrung erhärtet. Ander¬
seits bringen gewisse programmatische Veröffentlichungen des Verbandes
mit Recht zum Ausdruck, daß die besondere Gefährdung und Verwahr¬
losung vieler Personen sozial bedingt ist und nicht auf persönlichem Ver-
•schulden oder Böswilligkeit beruht. Vermutlich wird der Asozialenbegriff
in der Arbeit der „Heimathöfe“ deshalb vermieden, weil mit diesem Begriff
infolge seiner einseitigen Formulierungen — insbesondere von seiten einer
gewissen Verwaltungsbürokratie — schon zu viel Mißbrauch getrieben
worden ist. Für den beschränkten Verwaltungs- und Behördenmenschen,
der sich mit spießerischer Selbstgefälligkeit gegen den Reichtum des
Lebens hinter grünen Schreibtischen verschanzt, wird der Asozialenbegriff
194
leicht zum bequemen Inbegriff von biologischer und moralischer Minder¬
wertigkeit jeder Art. Vor allem verschließt sich „Sankt Bürokratius“
gern der unbequemen Erkenntnis, daß Drückebergerei, Faulheit und Lieder¬
lichkeit durchaus keine Monopole von Anstaltspfleglingen und ähnlichen
armseligen Tröpfen sind, vielmehr unter den Berufstätigen aller sozialen
Schichten weitgehend vertreten und sogar in seiner nächsten Umgebung
gar nicht so selten sind. Er bläht sein eigenes Selbstwertbewußtsein
künstlich auf, indem er sich die Asozialen als Menschen zweiter Klasse
und als „außerhalb der Volksgemeinschaft“ stehend vorstellt. (Wo ihm
dann allerdings asoziale Personen im Leben selber begegnen, pflegen sie
ihn mühelos über den Löffel zu barbieren.) Im Einzelfall wird nach den
primitiv-beschränkten Auffassungen von „Sankt Bürokratius“ die Asozialen-
frage entscheidend dadurch gelöst, daß man auf den Aktendeckel des
Elenden, von dem festgestellt worden ist, daß er vom Asozialenbazillus
besessen ist, den großen Bürostempel „asozial“ aufdrückt. Um das
Unordentliche, Unerquickliche und Peinliche, das dem Fall von Hause aus
anhaftet, vollends auszugleichen, wird er dann noch in eine große, sehr
sauber geführte Asozialenkartei übertragen. Zu den Akten wird der Fall
gewissermaßen dadurch geschrieben, daß man seine Kasernierung —
möglichst auf Nimmerwiedersehen — in einer gefängnismäßig strengen
Anstalt anordnet, deren Etatmittel möglichst stark zu beschneiden sind.
Mit dieser Bewahrungskaseme kann man — das ist im Grunde ihr Haupt¬
vorzug — allen schwierigen Elementen bange machen, vor allem den bösen
Menschen, die den braven, friedlichen Amtsschimmel ärgern. Demgegen¬
über ist die Arbeit der bayrischen „Heimathöfe“ nicht aus dem künstlichen
Schematismus abstrakter Begriffe, sondern aus dem Reichtum lebendigen
deutschen Volkstums und aus der Schönheit der bayrischen Landschaft
erw'achsen: Der Hauptvorzug dieser Arbeit ist, daß sie nicht nach Tinte
riecht. Der „nichtseßhafte Mensch“ wird hier nicht bekämpft, sondern
in die Volksgemeinschaft, in das lebendige heimatliche Volkstum einge¬
gliedert. Die Bewahrungsfürsorge der Heimathöfe ist keine Schuttablade-
stelle und kein Komposthaufen, sondern ein Arbeitsgebiet von höchster
sozialpädagogischer Wichtigkeit. In schörferisch großzügiger Art ward
hier an schwierigen und gefährdeten Menschen Erziehungsarbeit
geleistet, und weil der Erziehungsgedanke das Gesicht der Heimathöfe
entscheidend bestimmt, wird alles vermieden, was das Ehrgefühl der
Untergebrachten verletzen oder gar ertöten könnte. Die Schützlinge dieser
Anstaltsfürsorge brauchen sich nicht als Volksgenossen zweiter Klasse
zu fühlen. Es gilt weder als Schande, in den Heimathöfen zu leben noch
dort zu sterben! Die Verpflichtung der Gemeinschaft zur Erziehungshilfe
am schwächei'en Volksgenossen findet in den Heimathöfen vorbehaltlose
Bejahung. Vor allem ist die geschickte und großzügige Art, mit der für
den Gedanken der Erziehungshilfe in der breitesten Öffentlichkeit geworben
und wertvollste Aufklärungsarbeit geleistet wird, ein starkes Aktivum der
Arbeit des BLVW.
Rechtlich i.st der bayrische Landesverband für Wander- und Heimat¬
höfe eine selbständige Körperschaft des öffentlichen Rechts. Der Verband
erfüllt seine Aufgaben als Vollzugsstelle des bayrischen Innenministeriums
und „unter Zusammenfassung der an den Aufgaben der Wanderfürsorge
beteiligten Bezirksfürsorgeverbände, Landkreise und Gemeinden“. Mit der
völligen Beseitigung des Landstreicherunwesens ist zwangsläufig an Stelle
der Wanderfürsorge im großen ganzen die „Bewahrungsfürsorge“ getreten.
Diese ist hier vom großen Aufgabenkreis der Fürsorgeverbände losgelöst
und verselbständigt (zwecks „Entlastung der Fürsorgeverbände zugunsten
195
wichtigerer Aufgaben“). Durch diese Verselbständigung wird zunächst
die grundsätzliche Bedeutung der Bewahrungsfürsorge unterstrichen, es
werden aber auch wichtige organisatorische Vorteile gewonnen: Die Heran¬
bildung eines Mitarbeiterstabes von tüchtigen Sozialkräften, die die ent¬
scheidende Voraussetzung jeder erfolgreichen Anstaltsarbeit bildet, wird
begünstigt. Und sodann wird durch Erlangung der verwaltungsmäßigen
Autonomie die Selbstverantwortlichkeit, Entschlußkraft und Beweglichkeit
der Anstaltsleitungen in wirtschaftlicher Beziehung gestärkt. Das letztere
ist besonders bedeutungsvoll, weil für die Zukunft der Bewahrungsfürsorge
der produktive Arbeitseinsatz der Anstaltskräfte immer ausschlaggebender
wird.
Nach dem letzten Arbeitsbericht des BLVW. für 1940 betrug der
Personenstand in den Wanderhöfen und Wanderarbeitsstätten am 1. 1. 1940
1003 Personen.
Vom 1. 1. 1940 bis 13. 12. 1940 sind zugegangen:
1142 Personen. 74,6 % Männer, 25,4 % Frauen ... 100 %
Eingewiesen wurden: . 948 Personen
nach erfolgter Festnahme durch die Polizei. 34,3 %
nach Entlassung aus dem Strafvollzug . 17,2 %
durch Maßnahmen der Fürsorge . 8,9 %
nach § 20 RFV. 15,6 %
als Krankenhausbummler erfaßt und überstellt_4,6 % 80,6%
Freiwillig zugegangen sind . 194 Personen
Diese freiwilligen Zugänge kennen die Ein¬
richtungen und melden sich sofort, wenn sie in
eine Notlage geraten. (?) Mancher Rückfall
wird dadurch vermieden. Die Arbeitsschulung
und Arbeitsvermittlung dieser Personen wird
besonders gefördert . 19,4 %
100 %
Dieser wörtlich wiedergegebene Personenbewegungsbericht ist inso¬
fern besonders aufschlußreich, als sich die bayrischen Entwicklungstenden¬
zen weitgehend mit den Berliner Tendenzen decken. So ist der prozentual
geringe Anteil der Einweisungen „durch Maßnahmen der Fürsorge“ und
der verhältnismäßig starke Einschlag der Freiwilligkeit charakteristisch
für beide „Systeme“. Die Heimathöfe sind aus der Freiwilligkeit der
Koloniearbeit hervorgegangen. Durch die Einheitlichkeit der öffentlichen
Regelung und Planung für einen größeren räumlichen Bezirk sind sie weit
über die spezifische Koloniearbeit hinausgewachsen; trotzdem ist weit¬
gehende Freiwilligkeit ein Wesenszug der Arbeit der Heimathöfe geblieben.
Die Abgeschiedenheit der landschaftlichen Unterbringung und vor allem
auch die Schönheit der süddeutschen Heimatlandschaft, die mehr oder
weniger auch den Stumpfsinnigsten bindet, macht Einrichtungen streng¬
geschlossener Anstaltsfürsorge, die anderswo, vor allem in der Großstadt,
notwendig sind, weitgehend entbehrlich. Als Rechtsgrundlage der Unter¬
bringung stehen in Bayern, ähnlich wie in Hamburg, landespolizeiliche
Bestimmungen an erster Stelle. Trotz aller Vorzüge dieser gesetzlichen
Regelung ist m. E. zu bedauern, daß in den Heimathöfen keine Arbeits¬
hausunterbringung nach § 42 StGB, vollzogen wird. Der Vollzug der
gerichtlichen Unterbringung Asozialer in streng gefängnismäßigen Arbeits¬
häusern ist die Kehrseite der bayrischen Medaille! Durch Einheitlichkeit
3 *
196
des gerichtlichen und fürsorgerischen Bewahrungsvollzugs würde m. E.
sowohl die Arbeit der Heimathöfe an Stetigkeit gewinnen, als der typische
Bewahrungsgedanke entscheidend gefördert.
Zu 3. Das großstädtische Bewahrungssystem Hamburg-Berlin:
In der Bewahrungsfürsorge der Großstädte Hamburg und Berlin spielt
der Asozialenbegriff eine wichtige Rolle. Bemerkenswert sind die grund¬
sätzlichen Ausführungen des Leiters der Hamburger Wohlfahrtsanstalten,
Direktor Steigertahl, im 68. Band April/Maiheft 1939 der Blätter
für Gefängniskunde („Der Vollzug der Unterbringfung im Arbeitshaus, Asyl,
in der Trinkerheilanstalt und in der Heil- und Pflegeanstalt“). Die Ge¬
danken Steigerthals haben auch in Berlin Schule gemacht und er selbst
beruft sich darauf, daß Berlin dem Beispiel der von ihm geleiteten Ham-
f burger Anstalten gefolgt sei. Steigerthal unterscheidet zwischen asozialen
und sozial „schwierigen“ Elementen und meint mit den letzteren die
Zwischenschichten zwischen den „eigentlichen“ oder „ausgesprochenen“
Asozialen und den sozial wertvollen Elementen. Vielleicht hat der Asozialen¬
begriff, der ja ein durchaus relativer Begriff ist, durch diese Unter¬
scheidung, die sich weitgehend eingebürgert hat, eine gewisse Starrheit
erhalten: Die Feststellung, daß eine Person asozial sei, wird im Einzelfall
zu einer schwerwiegenden Behördenentscheidung und führt zwangsläufig
zu einer Deklassierung des Einzelnen und oft genug auch seiner ganzen
Familie. Infolgedessen trägt die Verwaltungspraxis ihrerseits gegen die
Anwendung dieses Begriffs in vielen Fällen Bedenken, in welchen sicherlich
Anstaltsbewahrungsbedürftigkeit vorliegt, so bei harmlosen, aber lebens¬
untauglichen Schwachsinnigen, bei typischen Altersverwahrlosungsfällen,
bei gutmütig-haltlosen Trinkern, bei eigenbrötlerisch-unbeholfenen und
weltfremden Psychopathen, bei Schwächlingen von geringer Arbeitsdauer
und ähnlichen Grenzfällen. Wenn man einen starren Asozialenbegriff zum
Ausgangspunkt der Bewahrungsfürsorge nimmt, so wird letztere auf die
mehr oder weniger aussichtslosen Dauerbewahrungsfälle eingeengt und so
werden die ausgesprochenen Erziehungsfälle, deren Anstaltsbetreuung am
meisten Sinn hätte, seltener erfaßt. In den Hamburger Anstalten, vor
allem im Versorgungsheim Hamburg-Farmsen, sind überwiegend hoch¬
gradig Schwachsinnige, unverbesserliche Trinker und Altersverwahrlosungs¬
fälle untergebracht. Darauf deutet schon die große Rolle hin, die die
Entmündigung in der Hamburger Praxis spielt. Unter den etwa 1000
zwangsweise in den genannten Anstalten eingelieferten Insassen bildeten
nach dem Steigerthalschen Aufsatz bei nicht weniger als 690 Insassen die
Entmündigungsparagraphen des BGB. die Handhabe für die zwangsweise
Einweisung durch drei in der Fürsorgebehörde tätige Sammelvormünder.
(Demgegenüber waren nur 225 Insassen aufgrund des Hamburger Polizei¬
gesetzes eingewiesen, die gerichtliche Arbeitshausunterbringung hat sich
in Hamburg überhaupt nicht eingebürgert.) Der prozentuale Anteil der
Entmündigungen an der Gesamtbevölkerung liegt in Hamburg wesentlich
höher als anderswo. Diese Ausweitung der Entmündigungspraxis, die
wohl im wesentlichen darauf beruht, daß die Kommunalverwaltung eigene
ärztliche Gutachter für die Bewahrungsfürsorge stellt, hat u. a. dazu
geführt, daß die Hamburger Gerichte auch wegen moralischen Schwach¬
sinns entmündigen, während im allgemeinen die Berliner Entmündigungs¬
praxis den Begriff der Geistesschwäche nur auf den intellektuellen Schwach¬
sinn anwendet. (Vgl. die Schrift von Günter Hartmann, „Die Ent¬
mündigung als Mittel der Verbrechensverhütung unter besonderer Berück¬
sichtigung ihres Verhältnisses zu den übrigen Sicherungsmaßregeln des
197
neuen Staates“. Verlag Ludwig Röhrscheid, Bonn a. Rh. 1937.) Da die
Entmündigung in der Regel schwere Anlageschäden voraussetzt, müßten
eigentlich die meisten entmündigten Anstaltsinsassen als Dauerbewahrungs¬
fälle gelten. Die Praxis dürfte hiervon überall noch sehr weit entfernt
sein. Immerhin wird durch Steigerthal und durch die von ihm geleiteten
Anstalten mit dem Gedanken der Dauerbewahrung von Anstaltsinsassen,
deren Lebensbewährung nach allen Vorgängen sehr zweifelhaft erscheint,
weitgehend Emst gemacht: Hierin liegt m. E. das besondere Verdienst des
Hamburger (und des Berliner) Systems. Steigertahl, der hierbei vor
allem auch am traditionsgebundenen Arbeitshausvollzug Kritik übt, vertritt
folgende Auffassungen:
„Die bisherigen Vollzugsmethoden nehmen noch zu wenig
Bedacht auf langfristige und auf lebenslange Anstaltsunterbrin¬
gung“. . . .
„Um die Kosten einer langfristigen Unterbringung für die
Volksgemeinschaft erträglich zu gestalten, muß seitens der Anstalten
von halboffenen und offenen Stationen neben geschlossenen Stationen
mehr Gebrauch gemacht werden als bisher“. . . .
„Die Arbeitskraft des Insassen ist als ein Faktor der deutschen
Volkswirtschaft so günstig wie nur möglich zu verwerten“. . . .
„In den Anstalten muß hinsichtlich der Menschenführung ein
gesundes Verhältnis zwischen menschlicher Wärme und überlegener
Strenge vorhanden sein. Insassen, die g^uten Willens sind, können
mit allmählich steigendem Entgegenkommen behandelt werden; die
Widersetzlichen, Querulanten und Faulenzer müssen aber, sofern sie
nicht geisteskrank sind, mit allen verfügbaren Zuchtmitteln ohne un¬
nötigen Kostenaufwand fügbar gemacht werden“. . . .
„Wir in Hamburg beurlauben lieber einmal zuviel, als daß wir
zu früh entlassen“. . . .
„Je mehr die Vollzugsformen aufgelockert und Abstufungen
in den Anstaltsbetrieb eingefügt werden, umso häufiger werden auch
Personen eingeliefert, mit denen noch etwas anzufangen ist“. . . •
„Es kommt nicht darauf an, nach irgendeiner vorgefaßten
Meinung theoretisch richtig zu konstruieren, sondern darauf, die
Asozialen von den Landstraßen und aus den großstädtischen Elends¬
ecken wegzuholen und auf lange Sicht in geeignete Anstalten zu
bekommen“. . . .
„Je mehr wir die Behandlung der Asozialen der Behandlung
der Antisozialen angleichen, um so weniger erreichen wir, denn die
Anstalten bleiben leer .... harte Maßnahmen gegen die Asozialen
verengen den Personenkreis und verkürzen die Verbleibsfristen,
weniger harte Maßnahmen neben harten erweitern den Personen¬
kreis und ermöglichen lange Verbleibsfristen“. . . .
Das sind goldene Worte für die Praxis der Bewahrungsfürsorge, aber
leider wird bis jetzt noch sehr wenig nach diesen Grundsätzen gearbeitet.
In Stadt und Land werden immer noch viel zu viele Paradepferdchen
geritten!
Nach dem Asozialenbegriff, wie er in verschiedenen Dienstblattver¬
fügungen der Stadt Berlin in den Jahren von 1934 bis 1938 Umrissen
wurde, gilt als „asozial, wer sich infolge eines nicht nur vorübergehenden
Zustandes körperlicher, geistiger oder sittlicher Unzulänglichkeit nicht in
das freie Gemeinschaftsleben einordnen kann oder will und dadurch das
198
Volk, seine Familie oder sich selbst schädigt oder gefährdet, insbesondere
wer verwahrlost ist oder zu verwahrlosen droht“. Dieser Begriff ist in¬
sofern der umfassendste der bisher aufgeführten, als er sowohl die Anlage-
als die Willensbedingtheit asozialen Verhaltens betont. Wohl unter dem
Eindruck der vielfachen Kritik, die das fachliche Schrifttum am Mi߬
brauch des Asozialenbegriffs übte, hat Berlin in seiner neusten Dieni?t-
blattverfügung vom 13. 1. 1941 den Asozialenbegriff im wesentlichen durch
den Begriff der Bewahrung.sbedürftigkeit (unter ähnlicher Formulierung)
abgelöst. Es ist sicherlich besser, wenn der Asozialenbegriff der wissen¬
schaftlichen und grundsätzlichen Erörterung Vorbehalten bleibt und wenn
sich die Verwaltungspraxis mit der Aufzählung von Einzeltatbeständen
nach dem Vorbild des § 361 StGB, und der Fürsorgepflichtverordnung
behilft. Die Verwaltungspraxis der ausführenden Dienststellen ist er¬
fahrungsgemäß für abstrakte Begriffe — gelinde gesagt — wenig emp¬
fänglich, zumal wenn über diese Begriffe sogar in der Theorie eine so
vorbildliche Unklarheit herrscht. Von entscheidender Wichtigkeit ist —
sowohl für die Dauerbewahrung der Lebensuntüchtigen als für die Er¬
ziehungsbehandlung der aussichtsreicheren Fälle —, daß in allgemeinen Er¬
lassen alles vermieden wird, was die Anstaltsfürsorge als Abschreckungs¬
oder Strafmittel erscheinen läßt.
Das städtische Arbcits- und Bewahrungshaus Berlin-Rummelsburg
i.st ebenso wie das Versorgungsheim Hamburg-Farmsen eine von Haus aus
geschlossene Anstalt, die im Zuge der planmäßig ausgebauten Bewahrung.s-
für.sorge weitgehend aufgelockert worden ist und einen Stufenvollzug von
geschlossenen, halboffenen und offenen Abteilungen aufweist.
Am 1. Juli 1939 setzte sich der Gesamtbestand der Anstalt wie folgt
zusammen;
Rechtsgrundlage
der Unterbringung
Bestand
Davon:
unter
21 Jahren
entmündigt [
wegen jj
Geistes- ' Trunk- j
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IX
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Männer:
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Zusammen.
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139 1
HM
37
94
59
Das „Arbeits- und Bewahrungshaus“ ist stolz darauf, daß seine
Organisation und seine Arbeitsmethoden seit 1934 stetig im Fluß einer
lebendigen Entwicklung standen und immer noch stehen. Beim ersten
Aufbau der Anstalt nach der Machtergreifung spielte das finanzielle
Moment eine bedeutsame Rolle: Durch Überweisung der Trinker, Psycho¬
pathen und sonstigen Grenzfälle der Irrenpflege aus den Heil- und Pflege¬
anstalten in das Bewahrungshaus wurden erhebliche 'Kosten eingespart,
199
insofern die Pflegesätze der ersteren die Kosten der Bewahrungshausunter¬
bringung um ein mehrfaches übersteigen. Auch in den letzten Jahren,
insbesondere seit Kriegsbeginn, sind durch Ausbau des produktiven
Arbeitseinsatzes (Außenabteilungen bei Industriebetrieben und kommunalen
Verwaltungsbetrieben) die Unterbringungskosten entscheidend gesenkt
worden. Der Charakter der Anstalt wird in erster Linie durch die Aufgabe
der Dauerbewahrung lebensuntüchtiger, dabei verhältnismäßig harmloser
und im Rahmen der Anstalt weitgehend arbeitseinsatzfähiger Elemente
bestimmt. Daneben zeigt die freiwillige Anstaltsunterbringung wie auch
die Aufnahme ausgesprochener Erziehungsfälle seit mehreren Jahren
stetig ansteig^ende Tendenz.
Die Unterschiede zwischen den bayrischen Heimathöfen und den
Bewahrungseinrichtungen Berlins und Hamburgs sind dadurch bedingt,
daß die Asozialenfrage in mittelständischen Bezirken vor vielfach anderen
Aufgaben steht als in industriellen Großstädten. Die Gefahren der Ver¬
wahrlosung sind in den letzteren größer, die Großstädte ziehen die ver¬
kommeneren und minderwertigeren Elemente an, die Dringlichkeit der
Bewahrung, und zwar weitgehend der geschlossenen Bewahrung, wird daher
in den Industriestädten stärker empfunden. In den Großstadtanstalten
steht die Aufgabe der Dauerbewahrung erheblich anlagegeschädigter
Asozialer an erster Stelle, während in den Heimathöfen das Interesse
für die Erziehungsbehandlung aussichtsreicherer Fälle überwiegt. Beide
Arbeitsgebiete überschneiden sich sachlich und personell weitestgehend und
beide Systeme könnten und sollten noch viel von einander lernen.
Im Kampf gegen soziale Not und asoziales Verhalten sind in den
Jahren seit der Machtergreifung große, entscheidende Durchbruchs¬
schlachten gewonnen worden, doch die Einkesselung gefährlicher Wider¬
standsherde ist noch nicht abgeschlossen und viele örtliche Säuberungs¬
aktionen sind noch zu vollenden, bis der Feind endgültig geschlagen und
die Asozialenfrage gelöst ist!
III. Psychologie der Asozialen
Nicht nur der Begriff, sondern auch die psychologische Eigenart des
asozialen Menschen ist schwer zu begrenzen und umschreiben. So sollte
man meinen, daß über den Unterschied zwischen Asozialen und Anti¬
sozialen Klarheit herrscht; als Charakteristikum der Asozialen denkt man
sich für gewöhnlich eine weitgehende Passivität, während die Antisozialen
als die aktiveren Elemente gelten. Doch hören wir, was ein Praktiker der
Sicherungsverwahrung über die Wesensart von Sicherungsverwahrten
.schreibt (Dr. Franz Weber, Brandenburg-Görden über „Erfahrungen in
der Sicherungsanstalt“ in „Blätter für Gefängniskunde“, 68. Band, Februar/
März-Heft 1938): Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung, die das
Verbrechen aus irregeleiteter Aktivität versteht, bestreitet Dr. Weber, daß
die meisten Verbrecher „aktiv im echten Sinn“ seien.
„Es kommt auf die Grundhaltung, nicht auf die einzelne Handlung an.
Ein Mensch, der aktiv genannt werden will, muß in seinem Streben und
in seiner Ausdauer über die Nahziele hinausgehen. So kann eine Bande
von Einbrechern, die sehr planmäßig und aktiv vorgeht, doch zum größten
Teil aus passiven Naturen besteheir. Das gilt auch von den Organisatoren
und Führern; ihr Leben mag zwar eine Reihe aktiver Episoden aufweisen,
ohne doch den Charakter der wahren Aktivität zu tragen.
200
Wenn wir diejenige Eigenschaft bezeichnen sollen, die am ehesten
als gemeinsamer Besitz der Verwahrten anzusprechen ist, so kann dies nur
die Haltlosigkeit sein. Von einer Eigjenschaft zu sprechen, ist allerdings,
streng genommen, nicht zulässig. Richtiger wäre es, von einer Privation
zu reden. Dieser Mangel ist, wie mir scheint, auch im äußeren Erscheinungs¬
bild vieler Verwahrten so ausgeprägt, daß er dem Beobachter bald aufTallen
muß.
Die Haltlosigkeit äußert sich in ihrem Lebenslauf gleichsam in ver¬
schiedenen Farbtönen, von denen bald dieser, bald jener mehr ins Auge
fällt.
Wir möchten vier dieser Abstufungen näher bezeichnen; Verführbar¬
keit, Leichtsinn, Weichheit oder Willensschwäche und Unstetigkeit.
Verführbarkeit: unsere Verwahrten zeigen sich übermäßig beein¬
flußbar, wenn ein Stärkerer sie zieht, wenn geschlechtliche Lockung,
die des Alkohols und anderer Genußgifte an sie herantritt.
Leichtsinn: sie dringen nicht gründlich ein, leben unbeschwert,
kennen kein Ziel, handeln aus der Augenblickseingebung heraus, begnügen
sich mit dem ersten Erfolg, dem flüchtigen Genuß, verschließen ihren Blick
vor den Folgen und der Zukunft, es mangelt ihnen an \sdrtschaftlicher
Vorsorge.
Weichheit: sie möchten sich nicht wehe tun, scheuen alles Harte
und Schwierige, wie Anstrengung, Arbeit, Beruf, Pflicht, Verantwortung,
klare Erkenntnis, besonders die des eigenen Ichs.
Unstetigkeit: weil sie an der Oberfläche bleiben, gewinnen sie kein
Interesse, geben das Angefangene bald wieder auf, wenden sich einem
anderen Gegenstand zu.“
Somit reicht mindestens das Merkmal der Passivität zur Charakteri¬
sierung der Asozialen nicht aus! Es dürfte weitgehend von Umwelt und
Zufall abhängen, ob aus gewissen psychischen Mängeln nur Asozialität oder
Kriminalität erwächst, der „geborene Verbrecher“ ist keineswegs die Regel
und die Anlagebestimmtheit des Verbrechertums meist keine eindeutige.
Je fraglicher nun die psychologischen Unterschiede zwischen Asozialen und
Antisozialen erscheinen, umso bedeutsamer erscheint kriminalpolitisch, als
Maßnahme vorbeugender Verbrechensbekämpfung, die Bewahi-ungsfürsorge.
In der Tat beweisen die Vorstrafenverzeichnisse asozialer Anstaltsinsassen,
daß Kriminalität im Lebenslauf der meisten Asozialen einen breiten Raum
einnimmt.
Im Folgenden soll versucht werden, die große Verschiedenheit und den
Typenreichtum des als asozial bezeichneten Personenkreises zu beschreiben.
Dies dürfte wichtiger sein, als nach dem gemeinsamen seelischen Besitz
der Asozialen zu forschen, denn es ist ein weitverbreiteter Fehler, sich bei
grundsätzlichen Erörterungen einen asozialen Einheitstypus vorzustellen
und darüber die Vielverschlungenheit der einschlägigen Problemkonnexe
zu verkennen.
Besonders gelagert sind die Fälle, in denen asoziales Verhalten ledig¬
lich durch ein bestimmtes Lebensalter bedingt ist: Typen der reinen Jugend¬
verwahrlosung oder der reinen Altersverwahrlosung. Hiermit auf einer
Stufe stehen die Fälle reiner Umweltverwahrlosung. Und schließlich
bleiben als Fälle typischer Asozialität die geborenen Asozialen. (In der
Praxis handelt es sich um die Frage, welcher von den die Charakterent-
wäcklung beeinflussenden Faktoren im Einzelfall überwiegt, das Vor¬
kommen einer reinen Jugend-, Alters- oder Umweltverwahrlosung ist
ebenso wenig die Regel wie die lediglich anlagebedingte Asozialität.)
1
201
A. Typen reiner Jugendverwahrlosung
Hierher gehören die ausgesprochenen Erziehungsfälle der Jugend¬
bewahrung: Junge Menschen, deren charakterliche Reifung durch unzu¬
längliche Erziehung oder sonstige Umweltschäden gestört oder beein¬
trächtigt ist. Oft handelt es sich auch um eine konstitutionell bedingte
Spätreife, seltener um Fälle von Frühreife oder von jugendlichem Kraft¬
überschuß, der zu Extratouren und Entgleisungen drängt. Leider sind
die letzteren Fälle selten, denn sie sind zwar disziplinär mit am schwierig¬
sten, aber erzieherisch die aussichtsreichsten: das gesunde Lausbubentum,
das allzukräftig über die Stränge schlägt! Nicht hierher gehören die
„lebenslänglichen Fürsorgezöglinge“, deren seelischer Wesenskem dauernde
Asozialität bedingt, wenn auch ihr äußeres Erscheinungsbild der reinen
Jugendverwahrlosung ähnlich ist. — Da die reinen Jugendverwahrlosungs¬
typen psychologisch sich nicht von den Typen der Fürsorgeerziehung unter¬
scheiden, über die ja schon umfangreiches Schrifttum besteht, soll hier
nicht weiter auf diese Fälle eingegangen werden.
B. Typen reiner Altersverwahrlosung
Hier handelt es sich um Menschen, die bis zur Erreichung einer \
gewissen Altersgrenze, meist oberhalb der Grenze der Zeugungs- oder
Empfängnisfähigkeit liegend, ein ordentliches und arbeitsames Leben
geführt haben, deren soziale Einordnungsfähigkeit jedoch durch den meist
langsam einsetzenden Alterszerfall der Verstandes- und Willenskräfte
allmählicher Zerstörung anheimfällt oder anheimfiel und die infolge Aus¬
falls einer bewahrenden Umwelt, vor allem in Ermanglung einer tragenden
Familiengemeinschaft (oft nach dem Tod eines Ehegatten) verwahrlosen
oder zu verwahrlosen drohen. Die Gruppe der reinen Altersverwahrlosung
nimmt ira Rahmen des gesamten Bewahrungsproblems, sowohl in der
gerichtlichen Arbeitshausunterbringung als in der Bewahrungsfürsorge,
einen sehr breiten Raum ein. Die Zahl der Altersverwahrlosungsfälle
zeigt stark ansteigende Tendenz, je ungünstiger sich der Aufbau der
Alterspyramide des Volks gestaltet und je mehr die tragenden Familien¬
gemeinschaften, insbesondere infolge sinkender Geburtenzahl, schrumpfen.
Im Krieg wird die Altersverwahrlosung außerdem durch die Schwierig¬
keiten der äußeren Lebenshaltung (Rationierung der wichtigsten Ver¬
brauchsgüter und Wohnungsnot) gefördert. Wichtig als vorbeugende
Maßnahme gegen Altersverwahrlosung sind gute Altersheime; es kommt
hier nicht nur darauf an, den wirtschaftlichen Anforderungen gerecht zu
werden, sondern auch auf psychologisches Verständnis und geschickte
Menschenführung. Denn alte, insbesondere altersdemente Menschen sind
oft starrköpfig, querköpfig, uneinsichtig, rechthaberisch, larmenhaft,
schmutzig und unordentlich. Ihre schlechten Gewohnheiten, insbesondere
ihre Trunksucht, sind sowohl durch wirtschaftliche Fürsorge als durch
seelische Betreuung zu bekämpfen. Auch ernstere Verwahrlosungserschei¬
nungen, wie die Neigung gewisser Greise zu Sexualvergehen an Kindern,
sind oft nur eine Folge sozialer V'emachlässigung. Die Bewahrungsfür¬
sorge für Altersverwahrloste und die normale Altersfürsorge überschneiden
sich weitgehend. Ausgesprochene Alterspflegefälle sind nicht nur in Alters¬
und Siechenheimen untergebracht, sondern sie bilden heute auch das Gros
der Insassen von Arbeitshäuseni, Arbeiterkolonieri und ähnlichen Anstalten.
In Anstaltspflege befinden sich neben normalen Alterspflegefällen Fälle
reiner Altersverwahrlosung, geborene Asoziale, die disziplinär immer noch
202
schwierig sind, und solche, deren Asozialität infolge köiperlicher oder
geistiger Altersschwäche nicht mehr in Erscheinung tritt. In der heim¬
mäßigen Altersfürsorge müßte der privaten Initiative größter Spielraum
verbleiben, da persönliche Tüchtigkeit auf diesem Gebiet reiche Wirkungs¬
möglichkeiten besitzt. In gutgeleiteten Altersheimen sind viele schwierige
Fälle als „normale Alterspflegefälle“ tragbar, die sonst als Altersver¬
wahrlosungsfälle erscheinen würden.
I
C. Typen reiner Umweltverwahrlosung
Als Umwelt kommt hier in erster Linie die Doppelsphäre der Familie
einerseits, des Wirtschafts- und Berufslebens anderseits in Frage, weniger
der sogenannte „schlechte Umgang“, denn Verführbarkeit durch schädliche
Umwelteinflüsse der letzteren Art setzt meist gewisse Anlageschäden
voraus. Hier handelt es sich einmal um Menschen, deren seelisches Lebens¬
zentrum durch irgendein intimeres Erlebnistrauma verletzt ist, um
Menschen, die aufs tiefste durch schwerste Enttäuschungen des Liebes- und
Familienlebens seelisch verwundet sind und dadurch gleichgültig oder
zermürbt sind. Es sind meist Familienschicksale, die dem einzelnen das
seelische Gleichgewicht rauben und ihn auch sozial entwurzeln. Es können
aber auch Mißerfolge des Wirtschafts- und Berufslebens oder finanzielle
Katastrophen sein. In Krisenzeiten stehen die wirtschaftlichen Existenz¬
schwierigkeiten (Arbeitslosigkeit) an erster Stelle. Es ist jedoch zu
berücksichtigen, daß asoziale Personen mit Vorliebe dem Schicksal oder
der Umwelt die Schuld an der eigenen Verwahrlosung zuschreiben, wo
diese in Wirklichkeit auf persönlichen Voraussetzungen beruht.
D. Typen geborener Asozialer
Die Asozialität der geborenen Asozialen ist überwiegend anlage¬
bedingt. (Von Verwahrlosung kann man bei den meisten Schwächlingen
weniger reden, die jahrelang wohlbehütet in Anstalten leben.) Die Mehr¬
zahl der asozialen Lebensläufe wird mehr durch eine gewisse stumpfe
Monotonie als durch starke Schwankungen und Entwicklungen charakteri¬
siert. Aber auch soweit die Kurven der sozialen Brauchbarkeit von Lebens¬
alter zu Lebensalter überraschende Entwicklungen aufweisen, bleiben die
Erbanlagen das immer wiederkehrende Leitmotiv.
Allerdings wird die Asozialität der geborenen Asozialen in der Regel
nicht eindeutig durch die Anlagen bestimmt. Wer langjährige
Erfahrungen im Umgang mit Asozialen besitzt, lernt auch bei diesen
Men.schen zwischen Harmlos-Willigen und Hinterhältig-Bösartigen unter¬
scheiden. Wer nicht an die Freiheit des Willens glaubt, kann zwar ein
sehr geistreicher Modeschwätzer sein, ist aber kein Menschenkenner. Wer
aber die Gabe besitzt, die Menschen zu sehen, wie sie sind, wird auch ein
Augenmaß für das letzten Endes immer geheimnisvolle Schuldgefühl
besitzen, das im Seelenleben auch der Asozialen eine so wichtige Rolle
spielt. Gewiß fällt es den psychologischen Modetheorien nicht schwer,
auch für dieses Schuldgefühl mechanistisch-flache Patenterklärungen zu
foiTnulieren, aber eine wirkliche „Tiefenpsychologie“, die die Menschen nicht
durch die Brille einer psychologischen Schulmeinung sieht, wird sich mit
diesen Patenterklärungen nicht zufriedengeben. Alles verzeihen heißt
nichts verstehen! Sicherlich hat der freie Wille des Normalen einen
weiteren Aktionsradius als der des Schwachsinnigen und Psychopathen
und sicherlich gibt es weite Bezirke von Asozialität (sowohl bei den Schwach¬
sinnigen als bei den Antriebsarmen), die jenseits von Gut und Böse liegen,
203
aber Faulheit und Liederlichkeit ist nie eindeutig konstitutionsbedingt.
Die trotz ungünstiger Erbanlagen errungenen Charaktereigenschaften
sind die sittlich wertvollsten, und von allen theoretischen
Fragen um die Willensfreiheit abgesehen, muß es
immer die erste Aufgabe jeder Erziehung sein,
das Bewußtsein der Selbstverantwortung zu stärken.
Unter den geborenen Asozialen lassen sich zwei große Gruppen von
Personen unterscheiden, die in ihrer seelischen Grundhaltung wesensver-
.schieden voneinander sind: die asozialen Schwächlinge und die asozialen
Sonderlinge.
1. Die asozialen Schwächlinge
Hierunter fällt der größte Teil der geborenen Asozialen. Ihre
Schwächlichkeit beruht entweder auf Mängeln des Gefühls- und Willens¬
lebens (Antriebsarmut der Schwerfällig-Stumpfen und Flachheit der
Unbeständig-Weichen) oder aber mehr auf intellektueller Debilität. Sehr
viele Asoziale sind Schwächlinge auf der ganzen Front des seelischen
Lebens. Die Asozialität der Antriebsarm-Stumpfen und der meisten
Schwachsinnigen beschränkt sich im wesentlichen darauf, daß sie ausge¬
sprochen lebensuntauglich, zu nichts zu gebrauchen sind und bei jeder
Arbeit versagen. Die Asozialität der Flachen, Unbeständig-Weichen
dagegen äußert sich überwiegend in alkoholischer oder sexueller Ver¬
wahrlosung.
a) Die Antriebsarmen: Ihre Schlaffheit und Schlappheit
bietet zunächst wenig Auffälliges, ihre Willensschwäche beruht mehr auf
natürlicher Schwerfälligkeit als auf Mängeln des sittlichen Charakters,
ihr äußeres Erscheinungsbild ist das des harmlosen Durchschnittsmenschen,
doch ihre Lebenstüchtigkeit, vor allem ihre Arbeitsleistung, liegt weit
unter dem Durchschnitt. Solange sie mit leichten Aufgaben befaßt werden,
stellen sie zur Not ihren Mann. Doch sie bleiben immer Schlafmützen und
benötigen lebenslänglich Fürsorge. Sie können sich in keiner Arbeit
halten, kommen nie mit ihrem Geld zurecht und finden keine geeignete
Wohnunterkunft. Ihre Schwächlichkeit äußert sich nicht zuletzt auch in
äußerer Unsauberkeit und Schlampigkeit. Intellektuell sind sie vielfach
noch mäßiger Durchschnitt, so wie alles an ihnen mäßig bis mittelmäßig ist,
sie sind nicht Fisch und nicht Fleisch und ihre einzige Tragik besteht
darin, daß es zu wenig Nachtwächterposten auf dieser nicht immer nur
gemütvoll-behäbigen Welt gibt. Ihre Kriminalität beschränkt sich vielfach auf
Haftdelikte und allenfalls situationsbedingte kleinere Eigentumsvergehen.
Das Schneckentempo ihrer Arbeitsweise bringt jeden Betriebsführer zur
Verzweiflung, ln Krisenzeiten sind sie Stempelbrüder in Permanenz, wenn
nicht Landstreicher und Gewohnheitsbettler, und wenn die Wirtschaft auf
vollen Touren läuft, pendeln sie durch hundert Arbeitsstellen. Zu schwäch¬
lich, um irgendwo Wurzel zu schlagen, stehen sie immer am Rande jeder
Gemeinschaft. Sie sind anspruchslos und bescheiden, von jener Bescheiden¬
heit, die nach Goethe nur die Lumpen besitzen. Meist lebenslängliche Jung¬
gesellen aus Stumpfheit, sind sie auch in ihrem Geschlechts- und Liebes¬
ieben schlapp und trottelhaft. Auf dem Boden dieser Anlagen wachsen
und gedeihen leicht schlechte Lebensgewohnheiten aller Art, insbesondere
Landstreichertum, Gewohnheitsbettel, getarnter Bettel, primitiver Betrug
und Wohlfahrtsschnorrertum, zumal in Zeiten, wo die öffentliche Für¬
sorge, aus Mangel an Kraft und Zielstrebigkeit, Penner züchtet. Gründlich
lernen sie im Laufe ihres Lebens das „Untertauchen“: Sie spielen den
204
Gepäckträger, den Teppichklopfer, den Gläserspüler, den Zeitungsträger,
die Emteaushilfe, das Markthallenfaktotum, den Gelegenheitshausierer und
den Straßenhändler, kurz sie sind lebenslängliche Fünfgroschenjimgen.
Instinktiv klammem sie sich an jeden gutmütigen Trinkgeldspender und
lieben das Almosen in jeder Form. Sie sind allzeit dankbare Anstalts¬
insassen und in allen Arbeitshäusern und Arbeiterkolonien Deutschlands
heimisch. Es ist ihnen völlig gleichgültig, ob in diesen Häusern eine
gefängnismäßig-straffe Zucht oder ein gemütlicher Schlendrian herrscht,
die Hauptsache ist der Futtemapf. Sie strotzen in den Anstalten von
Biederkeit und Sanftmut, sie sind zuverlässige Hausreiniger, Büroreiniger,
Lazarettreiniger und Küchenhelfer, alles in allem glückliche Druckposten¬
jäger außerhalb wie innerhalb der Anstaltsmauem. Sie lieben im Grunde
den Anstaltszwang, weil ihnen nichts so sehr widerstrebt wie das selb¬
ständige Denken. Sie sind der verkörperte Anstaltszopf, das zeitlose
Element aller Anstalten und ihr äußerer Rahmen. Das Gesetz der Schwer¬
kraft ist und bleibt das große Gesetz ihres Lebens. Diese Asozialen vom
reinsten Fahrwasser haben sehr viel menschlich-allzumenschliche Züge,
weil sie die Wesensart der trägen Masse am reinsten verkörpern!
b) Die Schwachsinnigen: Ihr Erscheinungsbild ist weit¬
gehend dasselbe wie das der Antriebsarmen. Die Harmlos-Schwachsinnigen
hat der Schöpfer nicht ohne weiteres im Zorn erschaffen. Sie sind meist die
zufriedensten Menschen, überblickslos, aufgeschlossen-spielerisch oder
wunschlos-stumpf. Mit einer Fülle von Treuherzigkeit ausstaffiert, sind
sie doch in allen Lebenslagen hundertprozentige Versager. Im freien
Leben wird diesen Menschen das Fell über die Ohren gezogen und sie leben,
um von anderen ausgenützt zu werden. Das ist die Sorte von Asozialen,
mit denen die Gesellschaft Schindluder treibt! Ihre rein passive Brauch¬
barkeit (in Anstalten) hat viele Abstufungen: eine Minderheit ist zu keiner
Arbeit zu gebrauchen, die Mehrheit ist, je nach Grad und Art des mehr
theoretischen oder mehr praktischen Schwachsinns und je nach dem
körperlichen Konstitutionstyp, unter Aufsicht gut verwendbar und leistungs¬
fähig, sei es zu grober, massiver Arbeitsverwendung als Land-, Bau- oder
Transportarbeiter, sei es zu feinerer Geduld- oder Maschinenarbeit, sei es
zu manueller Geschicklichkeitsarbeit. (Insbesondere der Arbeitseinsatz der
Schwachsinnigen verlangt große Anstalten mit reichgegliederten
Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist wichtig, die Anstalten nicht nur als
psychologische Museen und Sammlungen bunter und seltsamer Menschen¬
vögel zu sehen, sondern auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die im
Menschenmaterial der Anstalten schlummern, auszuwerten.)
c) Die haltlosen Trinker: Es handelt sich hier weder um
die kleine Minderheit von Trinkern, die nur oder überwiegend medizinisches
Interesse bieten, noch um das große Heer der Durstigen, deren bürgerliche
Brauchbarkeit durch die Vorliebe für den Alkohol nicht wesentlich beein¬
trächtigt wird, sondern nur um die spezifisch asozialen Trinker. Mehr
oder weniger neigen die meisten ^.sozialen zum Alkoholmißbrauch.
Reine Trinkerfürsorge geht wohl in ihren Ursprüngen immer auf eine Zeit
zurück, wo es noch kein ausgesprochenes Asozialenproblem gab. Auch
kann man wohl sagen, daß der Gesichtskreis der reinen Trinkerfürsorge
immer etwas eng und einseitig bleibt: durch Alkoholentzug allein wird
der asoziale Trinker noch lange nicht resozialisiert, davon abgesehen, daß
Totalabstinenz auf die Dauer immer schwer durchführbar ist. — Es
gibt Gewohnheitstrinker unter asozialen Schwächlingen und Sonderlingen
aller Art, so auch unter den Gefühlsstumpfen, Antriebsarmen und Gleich-
205
grültig-Trägen. In besonderer Weise sind jedoch die gutmütig-weichen,
flachen, leichtlebigen und leichtsinnigen Sanguiniker alkoholischen
Verführungen ausgesetzt. Sie stellen das Gros der asozialen Trinker.
Eine gewisse Einsichtslosigkeit und Überblickslosigkeit, vor allem Mangel
an Mut und Ehrlichkeit gegen sich selber, ist für diese Menschen typisch.
Sattsam bekannt ist der Einschlag vieler haltloser Trinker ins Schwätzerisch¬
überhebliche, Renommistische, manchmal auch Pseudologistische oder gar
Hochstaplerische. Doch fehlt es diesen Menschen meist nicht an jeder
Selbsterkenntnis, so sehr sie auch ihre schlechten Gewohnheiten — mit dem
billigen Hinweis auf die große Masse der nicht viel Besseren — zu baga¬
tellisieren pflegen. Sie markieren gern den starken Mann, solange sie es
nur mit schwachen Frauen und schwächlichen Männern zu tun haben, aber
sie sind im Grunde weich und lenkbar. Sie sind Alkoholiker aus Mangel
an seelischen Inhalten, aus Gleichgültigkeit und Unselbständigkeit. Die
persönliche Note dieser Menschen ist meist nicht sehr ursprünglich. So
.sehr ihr Alkoholismus anlagebedingt ist, beruht doch die Verwahrlosung
gerade dieser Typen meist auch auf persönlicher Schuld. Sie lassen sich
eben gehen und haben nicht den Mut und die Kraft, gegen die eigenen
Anlagen ernstlich den Kampf aufzunehmen. Bei der Erziehungsbehandlung
der haltlosen Trinker ist eine gewisse Straffheit und Strenge erforderlich.
Es gibt nichts Dümmeres als die Art und Weise, wie die Trinker früher
vielfach als verantwortungsunfähige „Patienten“ behandelt wuirden. Zur
endgültigen Verwahrlosung gewisser Trinker dürfte die frühere Praxis
von Heil- und Pflegeanstalten viel beigetragen haben, die die fünfzig- bis
hundertmal im Vollrausch Eingewiesenen nach wenigen Tagen, Wochen oder
Monaten yvieder zu entlassen pflegten. Für viele dieser Trinker war es
geradezu zur Gewohnheit geworden, die kräftigsten Räusche in Anstalten
auszuschlafen und die ärztliche Exploration (womöglich mit psychoanaly¬
tischer Durchleuchtung des Trieblebens) gehörte zum eisernen Bestand
ihrer Katzenjammer! Statt als traurige Lumpen, wie sie es wohl verdienten,
wurden sie als interessante Phänomene behandelt, alles auf Kosten der
öffentlichen Fürsorge oder gar der Krankenkassen. Die polizeiliche Ein¬
lieferung randalierender Betrunkener in Heil- und Pflegeanstalten auf
Grund kreisärztlicher Gutachten ist oft nur eine unzulängliche Augen¬
blicks- und Verlegenheitslösung, da ja in der Regel nicht eine ärztliche Heil¬
behandlung, sondern Erziehung und Bewahrung in Frage kommt. In Heil-
und Pflegeanstalten gehören nur ausgesprochen geisteskranke Trinker!
Es ist aber auf die Dauer sowohl ein juidstischer als ein medizinischer
Unfug, wenn aus einem randalierenden Betrunkenen immer zuerst ein
„gemeingefährlicher Geisteskranker“ gemacht werden muß, damit eine
vorläufige Bewahrung erreicht wird, nur weil das herrschende Polizeirecht
teilweise noch an spezifisch liberalistische Formulierungen gebunden ist.
Die meisten Trinker neigen zu periodischer Verwahrlosung (Quartal¬
säufer). Sie können so und können auch anders. Ihr Leben ist ein ab¬
wechselungsreiches Hügelland von Rausch und Katzenjammer. Es fehlt
nicht an schönen Reuegefühlen und guten Vorsätzen. Auch eine gewisse
flache Religiosität ist für viele dieser Trinker charakteristisch. Manchmal
kommen sogar ernstliche Anläufe zur Besserung vor und meist gibt es
längere oder kürzere Nüchtemheitsinterv alle, in denen der Vormund oder die
liebe Umwelt herzhaft über die auffallende Besserung staunen. Aber dann
geht es meist wieder rasch und rasend abwärts. Unter den haltlosen Trinkern
gibt es keine faustischen, totalitären Naturen. Wirkliche „Bekehrungen“
sind selten, ln der Regel fehlt die Kraft und der Wille, um dem ver¬
pfuschten Leben eine entschiedene Kehrtwendung zu geben, an kritischen
#
Wendepunkten kommt allenfalls der so charakteristische hysterische Selbst¬
mordversuch, eine alberne Theaterkomödie, oder gar nur die lächerliche
Suiziddrohung. Sie überlassen Entscheidungen mit Vorliebe Dritten. Es
sind Schwächlinge, die lebenslang Führung vmd eine feste Hand benötigen,
und deren Lebensschicksal oft genug von der Überlegenheit einer klugen
und tatkräftigen Ehegattin abhängt (die sich selbstverständlich selten
findet). Bei Anstaltsunterbringung vollzieht sich an diesen Menschen meist
eine überraschend schnelle und gründliche Wandlung. Man kennt sie oft
gar nicht mehr wieder und sie selber sind über die Auffrischung der ver¬
wahrlosten und verrotteten Lebensgeister im Grunde froh. Manche Trinker
•sind nur in geschlossenen Anstaltsabteilungen zu einem menschenähnlichen
Dasein fähig, bei anderen genügt die Unterbringung in halboffenen
Abteilungen, ein gewisser erzieherischer Druck, ein gewisser
Zwang und ein Mindestmaß von Aufsicht. Gerade das Verhalten von
Trinkern in Anstalten zeigt, daß nicht der Alkohol als solcher die
Ursache ihrer Asozialität ist, sondern ihre Un.selbständigkeit. Viele
würden auch verwahrlosen, wenn sie in völlig alkoholfreien Bezirken leben
würden. Sie sind lebenslänglich wie Bäume, die nur wachsen und gedeihen,
solange sie durch fremde Stämme künstlich gestützt werden. Bei entsprechen¬
der Anleitung kommt der sanguinische Trinker trotz seiner Unbeständigkeit
und Oberflächlichkeit zu sehr brauchbaren Arbeitsleistungen. Die Trinker
sind immer die besten Arbeitskräfte von allen Anstaltsinsassen. Das
Gefährliche am Trinker ist seine Abhängigkeit von Umwelteinflüssen (noch
stärker als bei anderen „asozialen Schwächlingen“), Hierauf beruht die
umfangreiche Kriminalität des Trinkers. Neben der kleinen Kriminalität
der Haftdelikte spielen die spezifischen Trinkerdelikte die Hauptrolle
(Körperverletzung, Widerstand, Hausfriedensbruch, grober Unfug, öffent¬
liches Ärgernis, Beleidigung, Bedrohung u. a. — die Trinker sind als
solche meist schon an ihren Vorstrafenverzeichnissen erkennbar). Aber
auch schwere und schwerste Verbrechen gegen Leben und Eigentum der
Mitmenschen sind keine Seltenheit. Ein großer Prozentsatz der Insassen
von Gefängnissen und Zuchthäusern sind von Haus aus asoziale Trinker
der gescliilderten Art.
d) Typen sexueller Verwahrlosung: Zwischen
den alkoholischen und den sexuellen Verwahrlosungstypen bestehen weit¬
gehende seelische Übereinstimmungen. Eine gewisse sexuelle Verwahr¬
losung findet sich auch bei den meisten Trinkern und häufig lösen sich bei
haltlosen Trinkern Perioden sexueller mit solchen alkoholischer Verwahr¬
losung ab (die sexuelle Verwahrlosung ist lediglich sozial unauffälliger,
sie ist meist nur eine moralische Verwahrlosung). Die Dime kann weit¬
gehend als weibliches Gegenstück zur Verwahrlosung der männlichen
Trinker gelten. Auch das Dirnentum ist weitgehend in angeborener Flach¬
heit und Antriebsarmut begründet, die Dime ist kein Produkt besonders
.starker Vitalität, ihre Triebhaftigkeit ist vielmehr ausgesprochen negativ
bestimmt, die Willensanlagen sind noch stärker unterwertig als der sittliche
Charakter. Vor allem ist jedes Dirnentum durch die Unfähigkeit zu
tieferem Erleben bedingt. An die Romantik eines aus tieferen seelischen
Spannungen geborenen Dirnentums glaubt nur, wer den Selbstbetrug sucht.
2. Die asozialen Sonderlinge
Das Gesicht der bisher geschilderten Asozialentypen, des Schwach-
sinnigen, des Antriebsarnien, der alkoholischen und sexuellen Verwahr¬
losung, wird überwiegend durch negative Momente bestimmt; Dummheit,
207
Trägheit, Unselbständigkeit, Eigenschaften, die massenpsychologisch
besonders häufig sind. Es sind die schlechten Eigenschaften der großen
Masse, die sich hier in besonders krasser Ausprägung finden. Im Gegensatz
hierzu wird das Gesicht der asozialen Sonderlinge durch Eigenschaften
bestimmt, die verhältnismäßig selten sind. Diese Menschen sondern sich
in recht auffälliger Art von der großen Masse ab, zu der sie keinerlei
seelische Beziehungen haben. Sie sind „gemeinschaftsfremd“ im subjek¬
tiven Sinn, während das subjektive Gemeinschaftsgefühl der asozialen
Schwächlinge durchaus nortnal ist und lediglich ihre tatsächliche Ein¬
ordnung in die Gemeinschaft immer wieder mißglückt. Die relative Zahl
der „Sonderlinge“ ist gering, verglichen mit der Häufigkeit der „Schwäch¬
linge“. Das absolute Vorkommen dieser Sonderlinge bleibt immerhin beträcht¬
lich. Die asozialen Schwächlinge sind unbeständig aus Mangel an see¬
lischem Gehalt und an seelischem Schwergewicht. Die schöpferische Un¬
ruhe des künstlerischen und religiösen Menschen ist unter diesen Unbe¬
ständigen selten. In der schönen Sprache der Dichter, etwa bei Eainer
Maria Rilke, ist wohl der Bettler das Symbol letzter seelischer Einfachheit
und einer heiligen Unrast. Doch in der Wirklichkeit ist er schlechterdings
eine Null, etwas Unpersönliches, Farbloses, ohne Ursprünglichkeit und
letzten Endes ein Inbegriff von Banalität. Asoziale Sonderlinge sind dem¬
gegenüber Menschen, wie sie etwa die grandiose Phantasie eines Balzac
gestaltete. Sie sind viel ursprünglicher, wesentlich für sie ist eine tief¬
greifende seelische Gegensätzlichkeit, doch wesentlich für diese Ursprüng¬
lichkeit ist auch ihre verhältnismäßige Seltenheit. Der Typenreichtum
der Sonderlinge ist viel stärker als der der Schwächlinge. Im Grunde ist
jeder dieser Sonderlinge ein „Typ an sich“. Man kann sie ruhig in ein
charakterologisches Schema einreihen und man kann Einheitstypen auf¬
stellen, nur muß man wissen, daß diese Typisierung etwas Behelfsmäßiges
bleibt, das den Reichtum des persönlichen Lebens niemals ausschöpft.
In diesem Sinn kann man etwa folgende Grundformen der asozialen Sonder¬
linge unterscheiden: Die Phantasten, die Überempfindlichen, die Explosiven,
die Rechthaberischen und die Schiebernaturen. Gemeinsam ist ihnen
eine krankhafte Egozentrik, die in jeder Umwelt Konflikte schafft und
ihre soziale Einordnung immer wieder vereitelt.
a) Die Phantasten: Sie sind die zahlreichste Kategorie
der Sonderlinge, im übrigen zugleich die harmlose.ste, in mancher
Beziehung der psychologische Übergang von den Schwächlingen zu den
Sonderlingen. Als Exzentriker entsprechen sie noch nicht dem reinen
Typus des Egozentrikers, wenn sie auch alle an einer gewissen Megalomanie
leiden. Sie bauen von der frühesten Jugend bis ins späteste Greisenalter
große Luftschlösser der verschiedensten Art. In den Anstalten sind am
häufigsten die „Erfinder“ vertreten, die sich berufen halten, der Mensch¬
heit das Perpetuum mobile oder irgendein sonstiges „Tischlein deck dich“
der Technik zu erobern. In Erwartung eines erträumten Millionensegens
bemühen sie sich meist um kümmerliche Bettelgroschen und begnügen sich
vorläufig damit. Zahlreich sind auch die vom Künstlerwahn Besessenen,
die einer ästhetisierenden Romantik nachjagen und dabei Gott und die
Welt anschnorren. Ein anderer Typus läuft ständig hinter phantastischen
Geldgeschäften her, die nie zustande kommen. Die meist recht glücklich
verträumten Phantasten leben von psychologischen Vorschüssen auf Selig¬
keiten, die sie stets erhoffen, doch nie erringen, und werden dann am
Schluß auf Armenkosten beerdigt. Eine große Rolle spielt die Phan¬
tasterei in der reinen Jugendverwahrlosung, doch die Jugendphantasterei
ist entwicklungspsychologisch im Grunde eine recht glückliche Angelegen-
208
heit, wenn sie auch die größten Jugendtorheiten im Gefolge hat: sie
zeuget von einer gewissen Kraft, von Idealismus, Mut und Selbstvertrauen.
Die Phantasterei Erwachsener setzt demgegenüber mangelnde Selbster¬
kenntnis, flachen Dilettantismus und Verantwortungslosigkeit voraus.
Tragikomisch ist die gar nicht so seltene Phantasterei der Altersverwahr¬
losten: „Am Grabe noch pflanzt er die Hoffnung auf!“
b) Die Überempfindlichen: Das sind Menschen, denen es
weder an Bildungswerten noch an idealen Lebenszielen noch an Kraft und
Tiefe des Gefühls mangelt. Sie sind zu heroischer Haltung fähig und
leiden an tragischen seelischen Spannungen. Zwischen ihrem Streben und
ihrem Tun, zwischen ihren Lebenszielen und ihren Lebenserfolgen klafft
ein grotesker, schicksalhafter Gegensatz und aus dieser Gegensätzlichkeit
heraus stehen sie dem Leben und der bürgerlichen Welt in ewiger Hilflosig¬
keit und scheuer Gehemmtheit gegenüber. Sie sind Träumer, Grübler,
keine Tatmenschen. Sie sind die unverstandenen Weitschmerzier, die
unglücklichen Liebhaber und meist ausgesprochen familienfremd. Schon
die Lösung von der Herkunftfamilie wird oft als lebenslängliche Tragik
erlebt. Diese ewig Unzufriedenen und Unbeständigen stellen immer ein
gewisses Kontingent unter den Landstreichern und Bummlern aller Art.
Sie kommen in allen sozialen Abstufungen vor, vom philosophierenden Hand¬
werksburschen, der sein halbes Leben in Arbeitshäusern verträumt, bis
zum Intellektuellen, der aus dem Vielerlei seiner geistigen Interessen heraus
nie zu erfolgreicher Berufsarbeit durchfindet.
c) Die Explosiven: Auch sie leiden an tiefgreifenden, konsti¬
tutionsbedingten Spannungen. Aber ihre Grundhaltung ist nicht die Flucht
ins Reich der Phantasie und der weltschmerzlerischen Gefühle, sie sind
Menschen der vorschnellen Tat, von unüberlegtem und unmotiviertem Drauf¬
gängertum. Sie besitzen wohl ein ausgeprägtes Ehrgefühl, ihre leiden¬
schaftliche Natur ist zu allem Guten und Bösen, doch zu keinem schöpfe¬
rischen Ausgleich fähig. Es fehlt die versöhnliche Güte und das Augen¬
maß für das psychologische Detail der Umwelt. Sie sind ungerecht gegen
ihre Mitmenschen. Unfähig, das Leben mit kluger Überlegung zu meistern,
.‘schafft ihre Sprunghaftigkeit überall Unannehmlichkeiten und Zwiespalt.
d) Die Rechthaberischen: Sie sondern sich weniger durch
die egozentrische Tat als durch die Blässe des egozentrischen Gedankens
von der Gemeinschaft ab. Ihr Glaube an den Götzen des eigenen Ichs
hat etwas Sektiererisch-Verbohrtes. -\us ihrer Rechthaberei wachsen wahr¬
haft monströs-abartige Charaktere, oft genug mit einem Einschlag ins
Heimtückisch-Niederträchtige. Sie sind meist zugleich Querulanten und
Denunzianten. Diese Menschen sind die größten Nervtöter und die größte
Plage für ihre Mitmenschen. Vor allem ist ihr unkameradschaftliches, doppel¬
züngiges Wesen eine unerträgliche Belastung für jeden Arbeitsbetrieb.
e) Die Schiebernaturen: Ihr Lebenselement ist der schlau
eingefädelte Betrug, die Gerissenheit und Geriebenheit wird diesen
Menschen zum Selbstzweck. Sie verstehen es, den Augenblick zu nützen
und Situationen abzuwägen. Zu persönlichen Lebensbeziehungen sind sie
weitgehend unfähig. Von Haus aus sind sie nicht eigentlich Asoziale,
ihre Verwahrlosung ist mehr moralische und oft genug kriminelle Ver¬
wahrlosung. Der ehrliche Weg der Pflichterfüllung ist ihnen nicht gut
genug, doch ihre skrupellose Raffiniertheit wird ihnen häufig zum Ver¬
hängnis und, wenn sie erst einigemale gestrauchelt und gestrandet sind,
sinken sie von Stufe zu Stufe und machen sich schließlich die armseligsten
Schnorrergewohnheiten zu eigen.
209
Die Asozialität der Schwächlinge folgt mit einer zwingenderen Logik
aus den Anlagen als die der Sonderlinge, deren Entwicklung viel mehr
Überraschungsmomente aufweist. Die Schwächlinge ändern sich wenig,
die Sonderlinge ändern sich viel und auffällig. Die Asozialität der Schwäch¬
linge steht regelmäßig schon an den Anfängen ihrer Entwicklung. Ob
und wann aus der Verkrampftheit, Verschrobenheit und Unausgeglichen¬
heit der Sonderlinge moralische Verwahrlosung, Kriminalität oder
Asozialität erwächst, darüber wird erst im Verlauf einer oft genug hoch¬
dramatischen Entwicklung entschieden (die kriminelle Gefährdung der
meisten Sonderlinge ist größer als die der Schwächlinge). Unter den
Schwächlingen überwiegt der Typus des cycloiden Psychopathen, unter den
Sonderlingen der des schizoiden Psychopathen, mit allen Abstufungen der
Gefühlsskala von der pathologischen Überempfindlichkeit bis zur patho¬
logischen Gefühlskälte. Die Schwächlinge sind selten aussichtsreiche
Erziehungsfälle. Die Gewohnheiten sind die Marksteine ihres Lebens. Ob sie
je sozial eingliederungsfähig sind, hängt davon ab, inwieweit gewisse
schlechte Gewohnheiten schon zur zweiten Natur geworden sind. Gewiß
kann die Erziehung zur Eindämmung dieser Gewohnheiten beitragen,
eine ausschlaggebende Rolle wird sie hierbei in den seltensten Fällen
spielen. Die Sonderlinge sind menschlich unsympathischer und disziplinär
.schwieriger, aber sie sind prognostisch günstiger als die Schwächlinge.
Asoziale Gewohnheiten bilden sich auch im Leben der Sonderlinge, auch
sie können dem Landstreichertum, der Trunksucht, dem Müßiggang ver¬
fallen, aber ihre Gewohnheiten sind weniger starr, endgültige Verwahr¬
losung durch völlige Erstarrung der asozialen Lebensgewohnheiten ist
bei den Sonderlingen seltener, w'eil ihre seelische Dynamik stärker ist.
IV. Persönlichkeit und Gemeinschaft
Das Fremdwort Sozialismus ist in einem doppelten Sinn verdeut¬
schungsfähig: Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung, Das sind
die Pai'olen von zwei völlig gegensätzlichen Weltanschauungen und
Sozialprogrammen. Das Sozialprogramm des marxi.stischen Sozialismus
erstrebt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, eine mechanistisch¬
zentralistisch organisierte Wirtschaft und ein durch diese Wirtschaft
mechanisiertes und atomisiertes Menschenmaterial. D^ Sozialprogramm
des nationalen Sozialismus erstrebt die Volksgemeinschaft und eine den
Zwecken des Volkes und seiner lebendigen, organischen Glieder dienende
Wirtschaft. Der Marxismus, die Religion der Entwurzelten, sieht im Flug¬
sand die Bausteine einer kommenden besseren Zeit. Im Mittelpunkt der
nationalsozialistischen Weltanschauung steht der Gemeinschaftsgedanke
und die familientreue, heimattreue, berufs- und arbeitstreue Persönlich¬
keit (der Begriff der „Arbeitstreue“ ist eine besonders charakteristische
Neuprägung).
Persönlichkeit und Gemeinschaft sind die Pole der neuen Sozial¬
gesinnung und auch der Asozialenbegriff muß seine Prägung durch diese
Bipolarität erhalten: Asozialität ist eine Störung der
lebendigen und organischen W'echselbeziehungen
zwischen den beiden natürlichen Polen Persönlich¬
keit und Gemeinschaft. Der asoziale Menschist
der E i n z e 1 m e n s c h , dem die Gesellschaft nicht zur
Gemeinschaft geworden ist, der Mensch ohne
stärkere und tiefere seelische Bindungen an die
natürlichen Gemeinschaften der Familie, des
4
210
Berufs, der Heimat und des Volks. (Der „asoziale
Mensch“ ist im wesentlichen dasselbe wie der „nichtseßhafte Mensch“.)
Die Störung der Wechselbeziehungen zwischen den beiden Polen Persönlich¬
keit und Gemeinschaft kann sowohl von der Persönlichkeit als von der
Gemeinschaft ausgehen, sie kann sowohl individuell als sozial bedingt sein.
Vorwiegend sozial bedingt ist die Asozialität der reinen Umwelt¬
verwahrlosung, aber auch die der reinen Jugend- oder reinen Altersverwahr¬
losung (hier verwahrlost der Einzelmensch, weil er nicht die erforderliche
Erziehung oder Pflege von seiten der Gemeinschaft erhält). Vorwiegend
individuell bedingt ist die Asozialität der geborenen Asozialen.
Irgendwie ist jede Asozialität sozialbedingt. Jede Asozialität
bleibt zugleich immer etwas Relatives, sowohl bezüglich ihrer individuellen
als bezüglich ihrer sozialen Voraussetzungen. Diese Relativität des
Asozialenbegriffs haben die Bürokraten am gründlichsten übersehen! Die
A.sozialen sind nicht absolut „gemeinschaftsunfähig“, insbesondere bei
vielen asozialen Schwächlingen ist die subjektive Bereitschaft zur sozialen
Einordnung durchaus vorhanden. Diese subjektive Einordnungsbereit¬
schaft gilt es durch tatkräftige Erziehungshilfe von seiten der Gemeinschaft
zu stärken. Jede Asozialität, auch die der geborenen Asozialen, kann
dadurch verhütet, beseitigt oder wenigstens verringert werden, daß den per¬
sönlichen Belangen, insbesondere der psychologischen Eigenart des gefähr¬
deten Einzelmenschen, von seiten der Gemeinschaft ein kluges und gro߬
zügiges Ver.ständnis entgegengebi’acht wird.
INHALT
I. Da.s Arbeitshaus . 163
Rassen- und Bevölkerungspolitisches
Entwicklungsstadien der öffentlichen Meinung
Die Asozialen als Meister der Tarnung
Der Strafgedanke
Mängel des Vollzugs
Der Arbeitseinsatz
Erziehung und Bewahrung
II. Bewahrungsfüfeorge . 176
Vorbeugungshaft
Jugendschutzlager
Stufen der Nichtseßhaftigkeit
Das Arbeitsamt ’
Systeme der Bewahrungsfürsorge
1. Das Sy.stem der Arbeiterkolonien
2. Das System der bayrischen „Heimathöfe“
3. Das großstädtische Bewahrungssystem Hamburg-Berlin
III. Psychologie der Asozialen . 199
A. Typen reiner Jugendverwahrlosung
B. Typen reiner Altersverwahrlosung
C. Typen reiner Umweltvei-wahrlosung
D. Typen geborener Asozialer
1. Asoziale Schwächlinge
2. Asoziale Sonderlinge
IV. Persönlichkeit und Gemeinschaft
209
211
Aus der Gefängnisverwaltung
Beköstigung der Gefangenen auf eigene
Rechnung eines Justizbediensteten
von Amtsrat Hogräfer, Berlin
I. Vorbemerkungen
Mit der AV. v. 17. 7. 1941 (Dt. Justiz S. 793) über die Beköstigung
der Gefangenen auf eigene Rechnung eines Justizbediensteten wird ein
weiterer Schritt zur reichseinheitlichen Regelung der Anstaltswirtschaft
getan. Gerade auf dem Gebiet der Beköstigungswirtschaft bei den kleinen
Vollzugsanstalten bestanden in den bisherigen Länderbestimmungen erheb¬
liche Unterschiede, die dem Aufbau einer einheitlichen Wirtschaftsver¬
waltung hindernd im Wege standen. Es war daher notwendig, für die
geplante Neuregelung dieser Beköstigungswirtschaft zunächst eine einheit¬
liche GruAdlage zu schaffen. Zu diesem Zweck erging die RV. v. 6. 3. 1941
(4540 III si 195), die gleichzeitig den Vollzugsbehörden Gelegenheit gab,
zu der beabsichtigten Neuordnung und allen hiermit im Zusammenhang
stehenden Fragen Stellung zu nehmen.
Durch die neuen Bestimmungen wird insbesondere ein klares Ver¬
gütungssystem für die Feststellung und Zahlbarmachung der den Justiz¬
bediensteten für die Lieferung der Gefangenenkost zustehenden Ent¬
schädigung g^eschaffen, ein System, das unter bewußter Ausschaltung klein¬
licher Berechnungen eine erhebliche Vereinfachung bringt und den Vorteil
hat, daß jetzt wenig.stens für das Müheentgelt einheitliche, für das
ganze Reichsgebiet geltende Entschädigungssätze festgesetzt sind. Durch
die getrennte Berechnung von Beschaffungskosten und Mübeentgelt w'erden
zugleich auch Schwierigkeiten, die sich früher beim Steuerabzug ergeben
haben, beseitigt.
II. Geltungsbereich
Die AV. V. 17. 7. 1941 (Dt. Justiz S. 793) gilt für alle Vollzugs¬
anstalten (einschl. der Jugendarrestanstalten), bei denen die Gefangenen
nicht unmittelbar auf Rechnung des Reichs beköstigt werden. Welche
Vollzugsanstalten diese sind, wird in der RV. v. 25. 4. 1938 (4540 III si 384)
■wie folgt bestimmt;
Ab.schn. I Ziff. 1 b): Die Beköstigungswirtschaft wird geführt bei den
Vollzugsanstalten mit einer Durchschnittsbelegung bis zu 10
Gefangenen auf Rechnung eines Anstaltsbeamten (Justizbedien¬
steten). Sowmit bisher eine höhere Durchschnittsbelegung als Grenze
maßgebend war, kann bei einer Durchschnittsbelegung bis zu
25 Köpfen die Verpflegung durch den Aufsichtsbeamten (Justiz¬
bediensteten) beibehalten werden. (Die Durchschnittsbelegung ist
nach der Belegung des voraufgegangenen Jahres zu berechnen.)
Abschn. 1 Ziff. 3): Soweit in .A.usnahmefällen, z. B. bei Außenarbeits¬
stellen, bei nur geringer Anstalt.sbelegung (etwa bis zu 3
Gefangenen) oder aus anderen Gründen die Beköstigung der
Gefangenen nach den vorstehenden Be.stimmungen (Abschn. I
Ziff. 1 b) unwirtschaftlich ist oder sonstige Schwierigkeiten
bereitet, kann die Aufsichtsbehörde genehmigen, daß es bei der
bisherigen Übung verbleibt, oder eine abweichende Regelung zu¬
lassen.
4 '
212
III. Führung der Beköstigungswirtschaft
1. Übertragung der B e kö s t i gu n g s w i r t s c h a f t auf
einen Justizbediensteten
Die Beköstigung der Gefangenen gehört zu den Dienstobliegenheiten
des Aufsichtspersonals. Werden mehrere Aufsichtskräfte beschäftigt, so
bestimmt der Anstaltsleiter, wer von ihnen die Gefangenenbeköstigung zu
übernehmen hat. In der Regel wird ein Justizbediensteter auserwählt, der
verheiratet ist und auf dem Eehördengrundstück wohnt. Wie die Bezeich¬
nung „Justizbediensteter“ erkennen läßt, kann auch ein Justizwachtmeister
oder ein Aushelfer mit der Beköstigung beauftragt werden, voraus¬
gesetzt, daß dieser ständig, d. h. regelmäßig und nicht nur gelegentlich
Aufsichtsdienst leistet. Hiernach kann z. B. auch einem Justizwachtmeister,
dem neben seinen eigentlichen Dienstobliegenheiten Geschäfte des Auf¬
sichtsbeamten übertragen sind, oder der auf Privatdienstvertrag als Ver¬
treter eines erkrankten oder abgeordneten Aufsichtsbeamten eingestellte
Hilfsaufseher mit der Gefangenenbeköstigung beauftragt werden, und zwar
wird dies häufig notwendig sein, wenn ein zweiter Aufsichtsbeamter
nicht vorhanden ist.
Der beauftragte Justizbedienstete ist für die Führung der Bekösti¬
gungswirtschaft auch dann verantwortlich, wenn er die Küchengeschäfte
von seiner Ehefrau wahmehmen läßt oder wenn er andere Hilfskräfte
oder Gefangene zu seiner Unterstützung heranzieht.
2. Beschaffung der Lebensmittel
Der Justizbedienstete hat alle für die Ernährung der Gefangenen
erforderlichen Lebensmittel nach den Gebräuchen einer sparsamen Haus¬
wirtschaft auf seine eigenen Kosten zu beschaffen. Zur ordnungsmäßigen
Hauswirtschaft gehört auch die übliche Anlegung von Vorräten, ins¬
besondere an Kartoffeln, eingesäuerten Gemüsen usw.
Für die Auswahl der Lebensmittel, die Gestaltung und Ausgabe der
Kost an die Gefangenen gelten die einschlägigen Bestimmungen — z. Z.
insbesondere die RV. v. 16. 1. 1940 (4540 III s^ 93/40) — und die Kost¬
ordnungen, diese jedoch nur insoweit, als sie nicht durch die vorbezeichnete
RV. ihre Bedeutung verloren haben. Hiernach muß also in der Regel die
gleiche Kost geliefert werden, wie sie bei der Regiebeköstigung den
Gefangenen gewährt wird. Überhaupt hat der Justizbedienstete alle für
<lie Gefangenenbeköstigung erlassenen allgemeinen Bestimmungen zu
beachten, soweit sich nicht ihre Anwendung durch die Sonderregelung der
ihm übertragenen Beköstigungswirtschaft von selbst ausschließt.
3. Hilfeleistungen durch Gefangene
Mit Genehmigung des Anstaltsleiters darf der Justizbedienstete
auch Gefangene zu Hilfeleistungen bei der Kostzubereitung heranziehen.
Aber nur „Hilfe“ darf der Gefangene leisten, also Kartoffeln schälen,
Gemüse putzen usw. Die selbständige Bereitung der Kost darf ihm
dagegen nicht anvertraut werden. Der Justizbedienstete hat hierfür einen
Arbeitslohn nach Nr. 7 der AV. v. 28. 12. 1940 (Dt. Justiz S. 66/1941)
zu zahlen. Bei der Heranziehung von Jugendlichen in Jugendarrestanstalten
wird jedoch ein solcher Arbeitslohn nicht erhoben (RV. v. 11. 11. 1941
— 4412/2 — III .sl 2599/41 —).
4. Küchengeräte
Alles Geschirr, wie Kochtöpfe, Bratpfannen, Wasserkessel, Geschirr
zum Austragen der Speisen in die Zellen, ferner Eßbestecke, Teller, Tassen
213
usw. werden auf Kosten der Reichskasse beschafft und instandgehalten.
Das gleiche gilt auch für alle Vorrichtungen, die für die Aufbewahrung
dieser Geräte und der Vorräte in Küche und Keller erforderlich sind. Der
Bedienstete kann hiernach eine Entschädigung für die Abnutzung dieser
Gegenstände selbst dann nicht beanspruchen, wenn er diese ausnahmsweise
aus eigenen Beständen zur Verfügung stellt.
5. Feuerungsstoffe
Der mit der Kostlieferung beauftragte Justizbedienstete hat außer
«len Lebensmitteln auch die erforderlichen Feuerungsstoffe (Kohlen, Gas)
bereitzustellen. Diese werden den beamteten Justizbediensteten der
RBesGr. A 9 u. 10, den nichtbeamteten Justizbediensteten der VergGr. IX u.
X der TO. A, TO. B und der entsprechenden Tarifordnungen dann unent¬
geltlich überlassen, wenn ihnen nach Nr. 28 der DWV. bzw. Nr. 8 der WWV.
gestattet ist, die Feuerungsstoffe für den eigenen Bedarf aus den Vorräten
der Behörde zu entnehmen. Das gleiche gilt für Aufsichtsbeamte der
RBesGr. A 8, soweit ihnen ausnahmsweise die Entnahme von Feuerungs¬
stoffen aus Behördenbeständen gestattet ist. Unter der gleichen Voraus¬
setzung werden die Feuerungsstoffe auch solchen mit der Lieferung der
Gefangenenkost beauftragten Obervenvaltern und Verwaltern bei den
liandgerichtsgefängnissen und Geidchtsgefängnissen unentgeltlich geliefert,
die keine eigene Küche besitzen. Gefolgschaftsmitglieder, denen hiernach
die Entnahme der Feuerungsstoffe aus Behördenbeständen nicht gestattet
ist, müssen diese auf eigene Kosten beschaffen. Aus Behördenbeständen
dürfen an diese Bediensteten Feuerungsstoffe auch gegen Entgelt nicht
abgegeben werden.
IV. Beköstigungsvergütung
1. Kosten der Lebensmittelbeschaffung
Für die Beköstigung der Gefangenen erhält der Justizbedienstete
eine Vergütung (Beköstigungsvergütung). Sie setzt sich zusammen aus
der Entschädigung für die Beschaffungskosten für Lebensmittel und ggf.
Feuerungsstoffe und einem Müheentgelt. Für die Feststellung der
Beschaffungskosten wird ein Tagessatz festgesetzt. Dabei werden alle
Lebensmittel einschließlich der notwendigen Zutaten berücksichtigt, die
nach den einschlägigen Verwaltungsbestimmungen füi; die Ernährung der
Gefangenen verwendet werden dürfen. Da von Waren der gleichen Art
aber in verschiedenen Preislagen in der Regel nur mittel- bis geringer¬
wertige Lebensmittel verwendet werden sollen, dürfen auch nur die für
diese angemessenen Preise angesetzt werden. Es werden auch nur die
tatsächlich entstandenen und notwendigen Beschaffungskosten berück¬
sichtigt. Notierungen der Preisbehörden, die höhere als die ortsüblichen
Preise zulassen, dürfen nicht dazu verleiten, etwa diese höheren Preise an¬
zusetzen. Die Preisbehörden befinden sich bei den unteren Veinvaltungs-
stellen (Oberbürgermeister, Landräte). Ihre Befragung dürfte sowohl den
Interessen der Bediensteten als auch der Behörde dienen. Lebensmittel, die
der Justizbedienstete selbst erzeugt, werden zu dem örtlichen Kleinhandels¬
preise berechnet.
2. Kosten für Feuerungsstoffe
Bei der Festsetzung des Beschaffungskostensatzes können Auf¬
wendungen für Feuerungsstoffe nur bei denjenigen Justizbediensteten
berücksichtigt werden, denen die Entnahme dieser Brennstoffe aus den
Beständen der Behörde nicht gestattet ist. Da in diesen Fällen die
214
Bediensteten die Feuerungsstoffe anderweitig aus eigenen Mitteln besorgen
müssen, werden ihnen die Beschaffungskosten erstattet. Die Aufwendungen
dürfen aber nur insoweit berücksichtigt werden, als die Brennstoffe zur
Herstellung der Speisen und der damit verbundenen Unterhaltung des
Herdfeuers notwendig sind. Dies ist besonders bei gemeinschaftlicher
Küchenbenutzung zu beachten, wenn also die Speisen des Justizbedien.steten
sowie seiner Hausstandsangehörigen und die Gefangenenkost auf demselben
Herdfeuer bereitet werden. In solchen Fällen ist ein angemessener Betrag
als eigener Anteil des Bediensteten an den Feuerungskosten auszuscheiden
und bei der Berechnung des Bekö.stigungssatzes unberücksichtigt zu lassen.
3. Festsetzung des Beschaffungskostensatzes
Den Beschaffungskostensatz setzt die höhere Vollzugsbehörde (General¬
staatsanwalt) nach Nr. 5 der AV. v. 17. 7. 1941 fest. Dabei wird darauf
zu achten sein, daß die für die einzelnen Anstalten des Bezirks bestimmten
Sätze keine größeren Unterschiede aufweisen. Es wii-d anzustreben sein,
möglichst für alle in einem geschlossenen Wirtschaft.sgobiet befindlichen
Vollzugsanstalten einen einheitlichen Satz zu bestimmen. Eine Änderung
des einmal festgesetzten Beschaffungskostensatzes im Laufe eines Rechnungs¬
jahres soll nur dann vorgenommen werden, wenn sich die Beschaffungs¬
kosten erheblich verteuert oder verbilligt haben. Demgemäß wird es bei
den heutigen stabilen Preisen in der Regel nicht nötig sein, den Satz im
Laufe des Rechnungsjahres abzuändern.
4. Müheentgelt
Das Müheentgelt ist — losgelöst von den nach früheren Regelungen
einzelner Länder bestehenden Bindungen an den Beschaffungskostensatz —
in einem selbständigen Tarif festgesetzt. Der Tarif wei.st eine progressive
Staffelung auf und vermeidet daher Überschneidungen an den Stufen¬
grenzen. Bei der Feststellung der Hafttage ist zu beachten, daß Hafttage
mit Selbstbeköstigung ausscheiden. Sie bleiben daher völlig unberück¬
sichtigt. Soweit aber bei nicht voller Selb.stbeköstigung die Anstaltskost
teilweise geliefert \sdrd, z. B. die v'olle Morgen- oder Abendkost, oder die
vollen Schwerarbeiterzulagen oder Lang- und Nachtarbeiterzulagen gewährt
werden, werden für diese Leistungen die vorgesehenen Bruchteile angesetzt.
5. Einbußezuschlag
Der Einbußezuschlag ist zur Abgeltung aller nicht vermeidbaren
Verluste, die durch Schwund, Fäulnis oder aus anderen Gründen ent.stehen
können, bestimmt. Der Einbußezu.schlag beträgt 10 v. H. der Beschaffungs¬
kosten einschließlich der nach Nr, 6 Abs. 2 Satz 2 der AV. v. 17. 7. 1941
mitzuberücksichtigenden Kosten für solche Feuerungsstoffe, die nicht aus
Behördenbeständen überlassen sind. Die Gewährung eines solchen Einbuße¬
zuschlags war in keiner der bisher geltenden einschlägigen Länder¬
bestimmungen vorgesehen. Seine Bedeutung geht weiter, als es die
Bestimmung der AV. auf den ersten Blick erkennen läßt. Er wird gewährt
ohne Rücksicht darauf, ob irgendwelche Verluste entstanden sind, und soll
den Justizbediensteten für alle unvorhersehbaren tatsächlichen oder ver¬
meintlichen Verluste entschädigen, die bei der Fe.stsetzung des Beschaffungs¬
kostensatzes von der höheren Vollzugsbehörde nicht berücksichtigt werden
können. Er dient also auch dem Ausgleich bei kleinen Steigerungen der
Beschaffungskosten und bei anderen kleineren Mehrbelastungen und verfolgt
im Endziel den Zweck, den Bediensteten vor Schaden zu bewahren, ohne
daß es nötig wäre, den Beschaffungskostensatz zu ändeni.
I
%
215
Allgemeine Verfügungen des RJM.
Entschädigung der Behördenangehörigen für Dienstleistungen im Erweiter¬
ten Selbstschutz. AV. vom 11. 10. 1941 — Dt. Just. S. 993 —.
Zusatz zur AV. v. 18. 9. 1939 — Dt. Just. S. 1525 — i. d. Fassg. d.
AV. vom 6. 5. 1941 — Dt. Just. S. 547 —: Vergütungen u. Ent¬
schädigungen, insbesondere auch das Zehrgeld bis zu 3 MM für den
einzelnen Einsatz, unterliegen nicht der Einkommensteuer.
Beurlaubung von behördenangehörigcn Führern der Hitler-Jugend zu
Sonderlehrgängen der Wehrmacht. AV. vom 22. 10. 1941 — Dt. Just.
S. 1021 —.
Bekanntgabe des RdErl. des RMdJ. und RFM. vom 2. 10. 1941 —
II 3809/41 — 6461 —: Die Richtlinien für die Beurlaubung von
Behördenangehörigen aus besonderen Anlässen vom 20. 5. 1939
(RMBliV. S. 1102), Erster Teil, Abschn. B Ziff. 1 Abs. 2 finden
auf die 8- oder 14tägigen Sonderlehrgänge der Führer der HJ.
bei der Wehrmacht sinngemäße Anwendung. Bezüge sind fort¬
zuzahlen.
Reisebeihilfen an abgeordnete Gk'folgschaftsmitglieder. AV. vom 21. 10.
1941 — Dt. Ju.st. S. 1021 —.
Reisebeihilfen für abgeordnete verheiratete Gefolgschaftsmit¬
glieder ohne eigenen Hausstand, bei denen der Umzug angeordnet
ist usw. ^
Unmittelbarer Geschäftsverkehr zwischen Justizbehörden außerhalb des
Protektorats Böhmen und Mähren und Verwaltungsbehörden im Protek¬
torat. AV. vom 22. 10. 1941 — Dt. Just. S. 1021 —.
Unmittelbarer Ge.schäftsverkehr in besonderen Fällen.
Vollstreckung des Jugendarrestes bei Angehörigen der Wehrmacht. AV.
vom 20. 10. 1941 — Dt. Just. S. 1025 —.
Zurückstellung der Vollstreckung bei Verurteilten, die vor Ein¬
leitung des Vollzugs unmittelbar zur Wehrmacht einberufen sind.
Deutsche Dienstpost im Bezirk Bialystock. AV. vom 3. 11. 1941 — Dt. Just.
S. 1035 —. (AV. V. 9. 9. 1941 — Dt. Just. S. 906; Bl. f. Gefängniskunde,
Bd. 72 S. 154 —).
Gebiet von Grodno-Stadt und Kreis Grodno ist postalisch dem
Bezirk Bialystock zugeteilt worden.
Dienstverhältnisse der auf Privatdienstvertrag beschäftigten Gefolgschafts¬
mitglieder der Reichjustizverwaltung. AV. vom 4. 11. 1941 — Dt. Just.
S. 1035 —.
Änderung in den Besonderen Dienstordnungen (BDO.) der RJVer-
waltung zu den Tarifordnungen für Gefolgschaftsmitglieder im
öffentl. Dienst (ATO., TO. A, TO. B).
Verbrauchsregelungs-Strafverordnung. Haus.schlachtungen: Selbstversorger
mit Fleisch und Fett (außer Butter). AV. vom 28. 10. 1941 — Dt. Just.
S. 1037 —.
Auszugsweise Bekanntgabe des RdErl. des Reichsmini.sters für
Ernährung und Landwirtschaft vom 28. 8. 1941, abgedr. im Dt.
Reichsanzeiger u. Pr. Staatsanzeiger v. 18. 9. 1941 — Nr. 218 —
und im Verkündungsblatt des Reichsnähr.st. v. 3. 10. 1941 —
Nr. 59 S. 362 —.
Änderung der Strafvollstreckungsordnung. AV. vom 31. 10. 1941 — Dt.
Just. S. 1038 —.
Neufassung des § 67 Abs. 1 der Strafvollstreckungsordnung.
216
Personalnachrichten
Beamte des höheren StrafvoUzugsdienstes
Ernannt:
Regierungsrat Richter zum Oberregierungsrat in Brieg,
Erster Staatsanwalt E11 b o r g zum Oberregierungsrat in Bremen-
Oslebshausen,
Regierungsrat Dicknether zum Oberregierungsrat in Marburg
(Drau),
Verwaltungsamtmann Dr. Zoller zum Regierungsrat in Leipzig-
Kleinmeusdorf,
Verwaltungsamtmann Dr. Weber zum Regierungsrat in Bautzen,
Verwaltungsamtmänn Dr. Brandstätter zum Regierungsrat in
Mürau,
Vei'waltungsamtmann W e n d 1 e r zum Regierungsrat in Zwickau.
Versetzt :
Regierungsrat von Rüdiger in Leipzig nach Werl,
Regierungsrat G r o s s i e n in Schröttersburg nach Danzig,
Regierungsrat T h ü m m 1 e r in Zwickau nach Leipzig,
Staatsanwalt Tank in Eger als Regierungsrat nach Freiburg
(Breisgau).
Verstorben:
Regierungsrat Dr. Beckmann (auf dem Felde der Ehre gefallen
am 15. 9. 1941).
Beamte des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes
Ernannt:
Strafanstaltsamtmann Leißling zum Verwaltungsamtmann in
Darmstadt,
Verwaltungsoberinspektor Mayr zum Verwaltungsamtmann in
Vechta,
Verwaltungsoberinspektor Falkenowski zum Verwaltungs¬
amtmann in Tapiau, ^
Verwaltungsoben'nspektor N o s s o 1 o i k zum Verwaltungsamtmann
in Rendsburg,
Verwaltungsoberinspektor Lennarz zum Verwaltungsamtmann in
Wronke,
Verwaltungsoberinspektor H e b o 1 d zum Verwaltungsamtmann in
Halle (Saale),
Verwaltungsoberinspektor Hüttebräucker zum Verwaltungs¬
amtmann in Werl,
Verwaltungsinspektor S k r z i d 1 o zum Verwaltungsoberinspektor in
Gütersloh (Oberems),
Verwaltungsinspektor S d r e n k a zum Verwaltungsoberinspektor in
Wartenburg (Ostp.),
Venvaltungsinspektor S t a n d k e zum Verwaltungsoberinspektor in
Brieg,
Verwaltungsinspektor Partheymüller zum Verwaltungsober-
in.spektor in Niederschönenfeld,
' Oberlehrer Knappe zum Verwaltungsoberinspektor in Wronke,
217
Verwaltungsinspektor M a 11 h i e s zum Verwaltungsoberinspektor in
Bochum,
Verwaltungsinspektor Werner zum Verwaltungsoberinspektor in
Halle (Saale),
Verwaltungsinspeklor Beyer zum Verwaltungsoberinspektor in
Halle (Saale),
Verwaltungsinspektor Berg zum Verwaltungsoberinspektor in Kiel,
a. pl. Verwaltungsinspektor F ü 11 i n g zum Verwaltungsinspektor
in Bautzen,
a. pl. Venvaltungsinspektor Knappitsch zum Verwaltungsinspektor
in Kaiser-Ebersdorf,
a. pl. Verwaltungsinspektor H e i n z e 1 zum Verwaltungsinspektor
in Beuthen,
a. pl. Verwaltungsinspektor v. Lucadou zum Verw'altungsinspektor
in Sosnowitz,
a. pl. Verw'altungsinspektor Hoppe (Bemh.) zum Verwaltungs¬
inspektor in Bromberg,
a. pl. Verwaltungsin.spektor Gohrbandt zum Verwaltungs¬
inspektor in Hamburg-Altona,
a. pl. Verwaltungsinspektor D o r m e h 1 zum Verwaltungsinspektor
in Diez,
a. pl. Verw'altungsinspektor Kapp zum Verwaltungsinspektor in
Aachen,
a. pl. Verwaltungsinspektor Willenborg zum Venvaltungsinspektor
in Koblenz,
Verwaltungssekretär T h e i s m a n n zum Verwaltungsinspektor in
Bromberg.
Versetzt :
Verw'altungsoberinspektor Zimmermann in Augsburg nach
Regensburg,
Verwaltungsinspektor Schlecht in Diez nach Frankfurt (Main),
Verwaltungsinspektor Dankmeyer in Berlin nach langen,
Verwaltungsinspektor H o h e i s e 1 in Oels nach Bromberg,
Verwaltungsinspektor S c h ö b e 1 in Schweidnitz nach Glatz.
Verstorben:
Verwaltungsamtmann H a u b i t z in Köln.
Ausgeschieden:
Verwaltungsinspektor Meyer (Paul) in Zwickau.
Geistliche
Entlassen auf Antrag:
Pfarrer Brandstetter in Kassel-Wehlheiden.
Verstorben:
Oberpfaner Gutfleisch in Freiburg (Breisgau).
Oberlehrer
Ausgeschieden auf Antrag:
Oberlehrer Hans Schulz in Stuhm (Übertritt in den Volksschul¬
dienst).
In den Ruhestand getreten:
Oberlehrer Jonas in Werl (Kr. Soest).
218
Schrifttum
Bücher Inland
„Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage“ von Prof. Dr. M e z ge r ,
Universität München. Zweite we.sentlich umgearbeitete Auflage. 284
Seiten. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart. 1942 Halbl. 19,60
Wie der Verfasser im Vorwoi’t ausführt, soll das Werk aufzeigen, was
wir nach dem heutigen Stande vom Wesen und den Erscheinungsformen des
rechtbrechenden Menschen wissen und wie wdr dieses Wissen in den Dienst
des Rechtes und damit des ganzen Volkes stellen können» Diese Aufgabe
ist in vortrefflicher Weise gelöst. Der Verfasser führt nicht nur in knapper
und klarer Ausdrucksweise den Leser in alle einschlägigen Probleme ein,
sondern nimmt auch zu den einzelnen Fragen in überzeugender Weise
abschließend Stellung. Das Werk ist somit nicht nur ein vorzügliches
Lehrbuch über den Stand der Kriminalpolitik, sondern gibt zugleich das
aus reicher Lebenserfahrung und tiefer Wissenschaftlichkeit gewonnene
Forschungsergebnis des bekannten Münchner Strafrechtslehrers wieder.
Der Leser w'ird immer von neuem beeindruckt werden von der Fülle des
Wissens, das hier zusammengetragen und verarbeitet w’orden ist. Wer auf
dem Gebiete der Kriminalpolitik tätig ist, braucht dieses Buch und es muß
in den Verwaltungsbüchereien aller Vollzugsanstalten einen Platz finden.
Oberregierungsrat Dr. S t r u b e , Berlin-Moabit
„Kommentar zum Strafgesetzbuch“ von Dr. Adolf S c h ö n k e , ord. Prof,
der Rechte an der Universität Freiburg i. B. Erste und zweite
Lieferung (umfassend §§ 1—210), 432 Seiten Lexikonformat. Geheftet
6,50 und 5,80. Verlag C. H. Beck, München und Berlin, 1941.
Trotz des heutigen Tempos der Gesetzgebung und der Fortentwicklung
des Rechts ein neuer größerer Kommentar zum Strafgesetzbuch! Das ist
besonders freudig zu begrüßen. Damit wird eine seit langem empfundene
Lücke ausgefüllt. Die beiden ersten Lieferungen zeigen bereits, daß das
Werk den gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung, Rechtsprechung und
Wissenschaft in herv'orragender Weise vermittelt. Es trägt dem neuen
Rechtsdenken überall Rechnung und gibt unter Berücksichtigung der straf¬
rechtlichen Reformarbeiten die erforderlichen Hinweise auf das kommende
Recht. Das Grundsätzliche und Wesentliche wird klar herausgearbeitet,
Wissenschaftlichkeit mit praktischer Brauchbarkeit in bester Weise ver¬
bunden. Übersichtlichkeit in der Anordnung ermöglicht ein rasches Zu¬
rechtfinden. Der Kommentar wird für die Ausbildung des Rcchtswahre.r-
nachwuchses und insbesondere für den Praktiker von außerordentlicher
Bedeutung werden. Eine Gesamtwürdigung des Werkes nach vollständigem
Erscheinen bleibt Vorbehalten.
■ Landgerichtsdirektor Mittendorff, Berlin
Gleitze, Bruno. Die Konjunkturkriminalität. Eine statistische Unter¬
suchung über die konjunkturellen und demographischen Einflüsse auf
<lie Kriminalitätsentwicklung. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart und
Berlin 1940. 108 Seiten. Preis 6,30
Im Gegen.satz zu anderen derartigen Veröffentlichungen verläßt die
vorliegende Arbeit bewußt das vom Strafgesetzbuch her entwickelte
Schema der Deliktsgruppierung und betrachtet den Kriminalitätsverlauf im
Zusammenhang mit der sozialen Umwelt. Tn zeitlicher Beziehung liegt der
219
Arbeit die Kriminalität der wirtschaftlich überaus unruhigen Epoche von
1925 bis 1933 mit ihren scharfen Konjunkturschwankungen zugrunde, in
der die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsverlauf und Straffälligkeit
besonders kraß zutage treten.
Die mit einer Reihe äußerst instruktiver Schaubilder ausgestattete
Arbeit, die zum gj'oßen Teil die Methodik der Konjunkturforschung und
der modernen Sozial- und Wirtschaftsstatistik anwendet und die ein neuer
Beweis dafür ist, wie fruchtbar diese Methoden auch auf einem Grenzgebiet
der eigentlichen Wirtschaftsforschung eingesetzt werden können, besteht
in ihrem speziellen Teil aus 6 Abschnitten, wobei zunächst die Bestimmungs¬
gründe für den wechselnden Verlauf der Kriminalität behandelt werden.
Wie sich die Wandlungen in der Altersbesetzung der Bevölkerung auf den
Kriminalitätsgrad auswirken, ist der Inhalt des folgenden Abschnittes.
Sodann gelangen die verfügbaren Meßziffern zur Beobachtung der konjunk¬
turellen Bewegung sowie die verschiedenartige Intensität der konjunk¬
turellen Einflüsse auf die Kriminalitätsentwicklung zur Darstellung. Die
beiden letzten Kapitel .sind dem differenzierten Verhalten der Altersstufen
im Konjunkturverlauf einerseits, den Unterschieden in der Konjunktur¬
empfindlichkeit der Kriminalität der landwirtschaftlichen und der übrigen
Bevölkerung anderseits gewidmet.
Unter Benutzung des riesigen Zahlenmaterials, das durch die seit
Jahrzehnten im Stati.stischen Reichsamt bearbeitete Reichskriminalstatistik
zu.sammengetragen ist, bringt die Untersuchung Gleitzes aufschlußreiche
Feststellungen, vor allem, wenn man sie auf die Frage ausdehnt, wie weit
die Jugendlichen, die Männer im Alter des ausgeprägten Berufslebens und
die weiblichen Personen der einzelnen Jahrgänge verschiedenartig in ihrer
kriminellen Betätigung auf wirtschaftliche Einflüsse reagierten. Es hat
sich hierbei gezeigt, daß jede Altersstufe eben eine eigene Kriminalitäts¬
struktur hat. Deshalb ist die altersmäßige Zusammensetzung der Bevöl¬
kerung für die Art und Höhe der Kriminalität von entscheidender Bedeu¬
tung. Stadt und Land unterscheiden sich ebenfalls in krimineller Hinsicht.
Das Untersuchungsergebnis hat vor allem aber gezeigt, daß sich für
die Wende des zweiten und dritten Jahrzehnts durch die Schärfe der wirt¬
schaftlichen Konjunkturschwankungen eine wohl für lange Zeit einzigartig
bleibende Möglichkeit bietet, die Zusammenhänge zwi.schen Wirtschaftslage
und Kriminalitätsentwicklung zu betrachten.
Das eingehende Studium dieses Werkes, dem noch ein umfangreicher
Tabellenanhang sowie ein Stichwortverzeichnis beigegeben sind, wird bestens
empfohlen, da es wegen seiner grundsätzlichen und auch neuartigen Aus¬
führungen über das in seinen Anfängen übrigens bis in das klassische Alter¬
tum zurückreichende Problem „Wirtschaftslage uijd Straffälligkeit“ geeignet
ist, den an kriminologischen Fragen tiefer Interessierten neue Anregungen
zu vermitteln. Dr. E. R o e s n e r , Berlin
Loduchowski, Hans-Willi. Die Tötungsdelikte (Mord, Totschlag und Kindes¬
tötung) im Landgerichtsbezirk Koblenz in den Jahren 1910 bis 1939.
Untersuchungen zur Kriminalität in Deutschland. Herausgegeben von
Prof. Dr. von Weber. Heft 11. Verlag der Fraumannschen Buch¬
handlung Walter Biedermann. Jena 1941. 107 Seiten. Preis 6.—
Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, die Tötungsdelikte zu unter¬
suchen, die in den Jahren 1910 bis 1939 im Landgerichtsbezirk Koblenz
begangen w'orden sind, der mit seinen rd. 6000 qkm Fläche und seinen 30
-Umtsgerichtsbezirken augenblicklich der größte Bezirk die.ser Art im
220
Reich ist, während die Einwohnerzahl von jetzt 782000 Personen hinter der
anderer Landgerichtsbezirke weit zurückbleibt.
Die Arbeit gliedert sich in 3 Hauptabschnitte. Nachdem in der Ein¬
leitung der Umfang der Arbeit, das Material und die Fehlerquellen, sowie
die speziell wirtschaftlichen Charakteristika des Untersuchungsgebietes
behandelt werden, werden in den 6 Unterabschnitten des zweiten und
erklärlicherweise umfangreichsten Hauptteils behandelt: 1. Die im Be¬
richtsbezirk festgestellten Tötungsdelikte (zeitlicher Verlauf im ganzen wie
im einzelnen), 2. die wirkliche Kriminalität (Dunkelziffer), 3. die Modali¬
täten der Tat (Ort und Zeit der Tat, Tatmittel und Begehungsform, Tat¬
opfer), 4. die Täter (Alter, Geschlecht, Personenstand, Beruf und andere
natürliche und soziale Eigenschaften, Persönlichkeit [hervorstechende
Charaktereigenschaften sowie körperliche und geistige Erkrankungen], das
Verhalten der Täter nach der Tat [Selbstmord, Flucht und Widerstand
bei der Verfolgung, Selbstanzeige und Geständnis], die Tatmotive), 5. die
Tätertypen und 6. die Reaktion auf das Verbrechen.
Der dritte und letzte Hauptteil befaßt sich mit der Kritik, der legis¬
lativen Bedeutung und der kriminalpolitischen Wertung der gefundenen
Ergebnisse, die im besonderen für den Kriminalpolitiker zeigen, daß die
Hebung des geistigen, moralischen und sittlichen Niveaus des Volkes nicht
nur der Verhütung der Sittlichkeitsdelikte dient und aller anderen damit
zu.sammenhängenden Straftaten, sondern daß diese auch geeignet ist, zur
Verminderung der Tötungskriminalität beizutragen. Weiter zeigt das Unter¬
suchungsergebnis dem Kriminalpolitiker, daß die Bekämpfung des chro¬
nischen Säufertums, des Landstreicher- und Müßiggängertums durch die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die bessere Überwachung der häuslichen
Erziehung der Jugendlichen und die Verbesserung ihrer Umweltverhält¬
nisse, z. B. durch gesunde Wohnungsbau- und Siedlungspolitik sowie vor
allem die Angleichung der Gehälter und Löhne an die teuren Preise der
Lebensgüter — also die Verbesserung des Auskommens überhaupt —,
günstig auf die Tötungskriminalität wirkt, und daß auch das Erbgesund¬
heitsgesetz in der Zukunft seine verbrechensverhütende Wirkung zeigen
wird.
Dem Gesetzgeber schließlich zeigt das Untersuchungsergebnis, daß die
Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag nach gerechteren und ma߬
geblicheren Gesichtspunkten, die Beseitigung des Sondertatbestandes des
Kindesmordes und zusätzliche vorbeugende Maßnahmen gegen chronische
Gewaltverbrecher über die Möglichkeiten der §§ 20 a und 42 e StGB,
hinaus zur wirksameren Bekämpfung der Tötungskriminalität beitragen
A\’ürden.
Eine fleißige und aufschlußreiche Arbeit, die auch dem Strafvollzugs¬
beamten mancherlei interessante Anhaltspunkte bietet.
Dr. E. Roesner, Berlin.
Zeitschriften
Inland
Zcntralblatt für Psychotherapie, herausgegeben von Professor Dr. M. H.
Gering im Verlag von S. Hirzel in Leipzig.
Eine Fülle wertvoller, auch für die Gefängniskunde aufschlußreicher
Abhandlungen bringen die in dem Band 12 zusammengeschlos.senen 6 Hefte
aus dem Jahre 1940.
Gleich zu Beginn fesselt der Artikel von A i c h e 1 e : „Das Tier in
Traum und Phantasie der Jugendlichen“ das Interesse des Kriminalwissen-
221
schaftlers. An einer Reihe überzeugender Beispiele zeigt die Verfasserin,
wie das im Traum erscheinende Tier die jeweilige innerseelische Situation
des Jugendlichen manifestiert. Löwe, Tiger und Schlangen, ja selbst die
Riesentiere der Vorwelt beherrschen das Feld und bringen Angst und
und Schrecken. Nach der Verfasserin ist dabei das Wesentliche die Tat¬
sache, „daß sich unter diesen Bildern seelische Zustände und Strömungen
versinnbildlichen, welche unserem bewußten Willen nicht zugänglich sind“
(Heft 1, Seite 22).
Immer wieder erscheint der Alkoholsüchtige vor den Schranken des
Gerichts, um zu sühnen, was er im Rausch angerichtet hat. Wir kennen die
schweren Erregungs- und Depressionszustände, die ihn nach der Inhaftierung
durch die radikale Absperrung von jedem Alkoholgenuß überfallen, und
beobachten sein schnelles Aufblühen, sobald er sich mit der Entwöhnung
abgefunden hat. Da sind uns die lichtvollen Ausfühmngen willkommen, die
Dr. Fritz Meyer „zur Psychologie und Behandlung des Alkoholkranken“
macht. Er lehnt den Begriff einer spezifischen Alkoholsucht als falsch ab;
statt dessen sicht er in ihr „das komplizierende und komplizierte Symptom
einer meist recht buntscheckigen Neurose“ (Heft 1, Seite 24). Gegenüber
diesen Süchtigen versagt die Kretschmersche Typologie. Unterschiede
lassen sich nur hinsichtlich der Reaktionsweise auf den Alkohol machert.
Ungeklärt ist die Frage nach der Giftwahl, die bei dem einen auf Alkohol,
bei dem anderen auf Morphium, bei dem dritten auf Schlafmittel fällt.
Eindeutig klar dagegen ist es, daß wir in dem Alkoholkranken eine neu¬
rotische Persönlichkeit vor uns haben, die vor der Wirklichkeit flieht und
sich eine trügerische Scheinwelt errichtet und ausbaut (Heft 1, Seite 30).
ln der Therapie unterscheidet der Verfasser die kürzere pharmakologische
und die längere seelische Entgiftung. Die letztere erfolgt durch eine
exakte psychotherapeutische Behandlung, welche die Wurzeln der Neurose
bloßlegt und die Gespaltenheit der Persönlichkeit harmonisiert. Er spricht
von einem „Aufbaujahr“ (Heft 1, Seite 35). Zu einem solchen könnte
sicherlich auch die Strafhaft werden. Von jedem alkoholsüchtig Gewesenen
verlangt der Verfasser dauernde Enthaltsamkeit, die er als Gebot für die
Jugend aufstellt.
Mit tiefgründigen Betrachtungen des verstorbenen japanischen
Professors M o r i t a über den Begriff der Nerv'osität, ihre Entstehungs¬
bedingungen und ihre Klassifizierung schließt das erste Heft des 12.
Bandes. Sie zeigen uns, daß man auch im fernen Osten mit den gleichen
Problemen ringt und zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie bei uns.
In dem Heft 2/3 des Bandes 12 legt zunächst Dr. Böhm die Er¬
fahrungen nieder, die er in der Poliklinik des Deutschen Institutes für
Psychologische Forschung und I’sychotherapie gemacht hat. Wenn er auf
Seite 72 schreibt; Des Therapeuten Tätigkeit besteht darin, „Klagen
anzuhören, Geständnisse entgegenzunehmen, Mißerfolge und kriminelle
Taten sich schildern zu lassen“, so gilt das alles auch für den Strafanstalts¬
beamten, der gleichfalls in einem „psychischen Seuchenlazarett“ steht.
Im weiteren Verlauf des Heftes legt Prof. I. H. Schultz, der
Schöpfer des autogenen Trainings, ein in langer Arbeit entwickeltes, stark
spezialisiertes Diagnosenschema für werdende Therapeuten vor.
Mit der Abhandlung; „Psychotherapie und Erblehre“ in Heft 4/5
berührt der Erbforscher Luxenburger ein Gebiet, das auch von der
Kriminalwissenschaft intensiv bearbeitet worden ist. Ich nenne nur
Johannes Lange; „Verbrechen als Schicksal“, Martin Riedl;
„Studie über Verbrecherstämmlinge“ und vor allem die umfangreichen
Arbeiten von Friedrich Stumpf 1 ; „Die Ursprünge des Verbrechens“,
222
„Die kriminellen Verwandten“ u. a. m. Die kriminalwissenschaftliche
Literatur stellte sich nach 1933 in manchen Ausführungen auf den Stand¬
punkt des Erbfatalismus. Dr. Riedl schreibt in seiner Studie über
Verbrecherstämmlinge (Archiv für Kriminologie, Band 93); die ererbte
Persönlichkeitsartung ist ein irreversibler Zustand, der keine Korrektur,
keine innere Um- und Rückbildung erlaubt und allem menschlichen
Handeln in Pädagogik und Therapie nur eine beschämend schwache Kraft
übrig läßt. Diesen Standpunkt des Erbfatalismus teilt Luxenburger nicht.
Statt des.sen untei'scheidet er zwischen dem, was unbedingt schicksalhaft,
und dem, was nur bedingt schicksalhaft ist. Er spricht von einem freien
Kräftespiel zwischen Anlage und Umwelt und vertritt damit eine These,
für die das Kaiser-Wilhelm-Institut für Erblehre (Prof. Gottschaidt)
die Formulierung prägte: Erbanlage und Umweltwirkung stehen in funk¬
tionaler Wechselwirkung. Eine schöne Formulierung hat auch von
Hentig gefunden (Strafrecht und .4uslese): „Die Umwelt klopft wie
der Quellensucher mit der Wünschelrute an und findet die Minderwertigen
heraus.“ Rastlose Forscherarbeit ist am Werk, in diese Zusammenhänge
.ständig tiefer einzudringen. Luxenburger betont immer wieder, daß „mit
seelischen Mitteln geheilt werden kann, was auf seelischem Wege ent¬
standen ist“, und anerkennt damit die Psychotherapie wie jede seelische
Beeinflussung als vollberechtigt und notwendig.
ln eine schwierige Problematik führt der Artikel „Über sogenannte
Unfallneurosen“ von Viktor von Weizsäcker hinein. Es ist nicht so,
daß das Opfer des Verkehrsunfalls nur „eine Niete im Lotteriespiel des
täglichen Straßenlebens gezogen hat“ (Heft 4/5, Seite 213). Der Unfall
ist überhaupt kein mechanischer Einbnich von kausal-blinder Art, er ist ein
Ereignis mit Vor- und Nachgeschichte, die in der Persönlichkeit des
Betroffenen wurzeln. Die Beurteilung der Unfallfolgen bürdet der Wissen-
.schaft fast unlösbare .4ufgaben auf. Es muß geholfen werden dem Kranken,
dem Institut der Sozialversicherung und dem Richter, der nach der Meinung
des Verfassers hier auf einen sehr sachverständigen Gutachter angewiesen
ist. Die Hilfe für den vom Unfall Betroffenen darf nicht nur in Berentung
bestehen, sondern in Behandlung und Neueingliederung in den Erwerbs¬
prozeß und in die Arbeitsgemeinschaft.
In die Arbeit derAr;stalt für Erziehungsbedürftige in Kaiser-Ebersdorf
läßt uns hineinschauen eine Abhandlung von Otto Schürer von
W a 1 d h e i m ; „Die Ursachen der beruflichen Unbeständigkeit dissozialer
Jugendlicher“. Die Berufswahl der 14 und 15jährigen hat nach .seinen
Beobachtungen noch wenig Be.stand, da die erforderliche Reife fehlt.
72 '/< der dissozialen Jugendlichen geben den in die.sem .41ter gewählten
Beruf später wieder auf. Den geeigneten Zeitpunkt für die Berufswahl
sieht der Verfasser im 16. Lebcn.sjahr. Vei’wöhnung wie auch erziehliche
Vernachlässigung erschweren die berufliche Einordnung oft außerordentlich.
.4ufschlußreich sind die Beziehungen zwischen Berufswahl und Körperbau¬
typus. Die leptosom-asthenischen Konstitutionen bevorzugen die ,,Reiz¬
mangelberufe“ mit geringer Beanspruchung der Muskelkraft; die athle¬
tischen Konstitutionen ziehen die Reizberufe vor, während die Pykniker
sowohl das eine wie auch das andere Extrem ablehnen. Zwischen häufigem
Berufswech.sel und Kriminalität gibt es zahlreiche Zu.sammenhänge.
Die Anregung des Verfassers, ähnliche Untersuchungen vorzunehmen,
um das Problem des ‘Berufswechsels einer weiteren Klärung zuzuführen,
verdient aufgegriffen zu werden. .4uttallig ist z. B. das Fehlen eines
.stabilen Lebensaufbaues oder die Spannung zwischen dem ausgeübten und
dem eigentlich gewünschten Beruf bei vielen Homosexuellen.
223
Das Heft 6 des Zentralblattes endlich enthält eine Abhandlung von
Dr. H o 11 m a n n : „Neurose, Krankheit und soziales Schicksal“. Er
setzt sich mit den Einwänden auseinander, die gegen eine psychologische
oder psychotherapeutisch erweiterte Medizin erhoben werden, und schildert
die besonderen Gefahren, von denen er das Arbeiter-, Bauern- und Bürger¬
tum aus ihrem sozialen Schicksal bedroht sieht. Der Arbeiter, welcher um
seine Würde kämpfen mußte, der Bauer, der die Bindung an seinen Boden
verliert, der Bürger, welcher erlebt, daß die für ihn gültigen Gesetze über¬
lebte Vorurteile werden im Durchbruch neuer Zeiten, sie alle können mit
neurotischen Reaktionen antworten.
Mit einem Artikel des Berliner Psychotherapeuten H. Schultz-
H e n c k e über das Unbewußte in seiner mehrfachen Bedeutung schließen
die wissenschaftlichen Abhandlungen. Er zeigt, daß sich die Tiefen-
p.sychologie fortan auf die Autorität von Leibniz berufen darf, der bereits
im Jahre 1703 das Unbewußte diskutiert und beschrieben hat. Schultz-
Hencke will das Unbewußte einer verschwommenen Atmosphäre und Viel¬
deutigkeit entreißen und einer größeren Klarheit zuführen. Zu diesem
Zweck stellt er vier Arten des Unbewußten zur Diskussion: das meta¬
physische, das kollektive, das phylogenetische und das ontogenetische
Unbewußte.
^ Jedem Heft ist eine umfangreiche Literaturbesprechung angeschlossen.
Hingeviesen sei auf das in Heft 4/5 Seite 290 zitierte, Werk eines franzö¬
sischen Psychologen, der die Juristen je nach dem Überwiegen von Intelli¬
genz und Logik oder Gefühl und Intuition in zwei grundsätzlich verschiedene
l’ypen einteilt.
Die vorstehenden Au.sführungen lassen erkennen, daß die Disziplinen
der Psychotherapie und der Kriminalwissenschaft ein gutes Stück Weges
parallel gehen und einander sehr bereichern können. Ein weiterer Ausbau
der gegenseitigen Beziehungen würde für beide Teile Gewinn bringen.
Dr. Ohm, Berlin
Ausland
Kivista di diritto penitenziario, studi teorici e pratici. Herausgeber:
Dr. Giovanni N o v e 11 i, Rom. Jahrgang XII.
Heft 3 (Mai-Juni 1941).
Ein ausführlicher und beachtlicher Aufsatz von Prof. P e n d e,
Direktor des biotypologischen orthogenetischen Instituts der Kgl. Universi¬
tät Rom, Prof, di Tu 11 i o und Dr. N ar di über den „Verbrecher aus
Hang“ berichtet über Untersuchungen, die in dem erwähnten Institut in
Rom durchgeführt worden sind. Das italienische Recht sieht bekanntlich in
.Artikel 108 StGB, neben dem rückfälligen, dem gewohnheitsmäßigen und
dem gewerbsmäßigen Verbrecher die besondere Rechtsfigur des Verbrechers
aus Hang vor, die namentlich auch auf dem Ersten Internationalen Kongreß
für Kriminologie in Rom (Oktober 1938) zu interessanten wissenschaft¬
lichen Erörterungen Anlaß gegeben hat (vgl. darüber Römischer Kongreß
für Kriminologie, Beiträge zur Rechtsemeuerung, herausgegeben von
F r e i s 1 e r und Schlegelberger, Heft 8 Seite 56 ff). Zur genauen
Erforschung der Figur des Verbrechers aus Hang ist in Italien eine
besondere Kommis.sion eingesetzt worden.
Die Verfasser haben nun die Persönlichkeit von 20 Verurteilten, die zu
Hangverbrechern ira Sinne des Artikels 108 StGB, erklärt worden waren,
einer näheren Prüfung unterzogen, um einen neuen Beitrag zu den Arbeite*
der Kommission zum Studium des Verbrechers aus Hang zu liefern. Die
224
Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, daß von den 20 bei 9 Fällen die
Voraussetzungen des Artikels 108 erfüllt, bei weiteren 9 nicht erfüllt waren
(delinquenti di tipo occasionale-passionale), während 2 Fälle zweifelhaft
erschienen.
Das spezifische Merkmal des Verbrechers aus Hang ist eine besondere
Hinneigung zum Verbrechen, die ihre Ursache in der besonders bösartigen
Anlage des Schuldigen findet. Die Verfasser haben festgestellt, daß die
physico-psychischen Konstanten des Verbrechers aus Hang eine Hyper¬
trophie der grundlegenden egoistischen Triebe und ein nur geringes
Hemmungsvermögen sind, worin der Grund dafür liegt, daß die Anreize
zum Verbrechen, auch wenn sie nur schwach sind, leicht das Übergewicht
erhalten. Sie haben weiter festgestellt, daß die besondere Prädisposition
oder Neigung zum Verbrechen der Ausdruck einer Hypoevolution der
Persönlichkeit ist, namentlich hinsichtlich der vom psychosozialen Stand¬
punkt aus bedeutsameren und edleren Züge. Die Verfasser kommen zu dem
Schluß, daß auch die Verbrecher aus Hang besserungsfähig seien. Die
Neigungen zum Verbrechen, die nicht auf krankhafter Ursache beruhten,
seien immer mehr oder minder stark beeinflußbar.
Anschließend wird der Bericht der Unterkommission für die Straf¬
entlassenenfürsorge der Internationalen Stafrechts- und Gefängnis-
kommission abgedruckt, der von ORR. Dr. S t r u b e ins Deut.sche über¬
setzt und im 17. Jahrgang der „Monatsblätter für Straffälligenbetreuung
und Ermittlungshilfe“ veröffentlicht werden wird.
R. V o z z i, Richter im italienischen Justizmini.sterium, behandelt
einige Fragen der Untersuchungshaft, die sich überwiegend auf die An¬
rechnung der Untersuchungshaft auf die Strafzeit beziehen. Vozzi unter¬
sucht namentlich das Problem der Anrechnung der Untersuchungshaft bei
Mehrheit von Taten, das auch in der neueren deutschen Rechtsprechung zu
§ 60 StGB, und zu § 450 RStPO. nicht selten eine Rolle spielt; in der
deutschen Praxis zeigt sich hier eine gewisse Unsicherheit. Zum Schluß
behandelt der Verfasser das — durch ausführliche Vorschriften nicht gere¬
gelte — Verhältnis der Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls und
einer Strafe und geht hierbei von dem Grundsatz des Vorrangs der Straf¬
vollstreckung gegenüber der Vollstreckung der Untersuchungshaft aus. Er
führt aus, daß nach italienischem Recht eine Unterbrechung der Straf¬
vollstreckung zum Zwecke der Vollstreckung von Untersuchungshaft nicht
zulässig .sei, wenngleich der Haftbefehl in gewisser Weise auf die Durch¬
führung des Strafvollzugs einwirke. Ebensowenig sei bei einem Beschuldig¬
ten, der sich in Untersuchungshaft befinde, ein Aufschub der Strafvoll¬
streckung mit Rücksicht auf die Untersuchungshaft zulässig. Die letztere
Frage und wohl auch die erstere sind nach deutschem Recht anders zu
beantworten, allerdings unbeschadet des Grundsatzes, daß man, soweit
möglich, die Strafvollstreckung unter Aufschub oder (namentlich bei
kurzen Strafen) in Unterbrechung der Volkstreckung der Untersuchungs¬
haft durchführen wird.
Der italienische Ministerrat hat im Juni 1941 einem umfassenden
Gesetzentwurf über die Verfassung der Amtsgerichtsgefängnisse zuge¬
stimmt. Di» sachlichen Ausgaben für die Gefängnisse fallen hiernach —
von einem .staatlichen Zu.schuß abgesehen — den Kommunen zur Last.
Landgerichtsrat Dr. D a 11 i n g e r, Berlin
Herausgeber und Hauptschriftleiter i. N.: Oberregierungsrat Dr. W. Strube,
Berlin-Moabit. — Verlag; Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidel¬
berg, Luther.str. 50. — Druck: Strafgefängnis Berlin-Tegel, Seidelstr. 39.
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Preise der erschienenen Hefte
Von den Bänden 1 bis 26 sind einige Hefte vergriffen. Im Bedarfs¬
fälle wird um Nachfrage beim Verlag gebeten. Das Generalregister
zu Band 1 bis 26 kostet 2,50
Bd.; Heft; Preis;
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Sonderheft
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Reg.z.
Bd.1-40
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Bd.: Heft:
Preis:
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A und B:
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Inhaltsverzeichnis
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3C>S'.0S'
Deutsche Gesellschaft für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
THf L18RAKT 011 «t
Blätter für 8 1947
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube
Oberregierungsrat. Berlin
Ständige Mitarbeiter:
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Reichsjustizministerium, Berlin
72. Band
Sechstes Heft
Februar—März 1942
HEIDELBERG 1942
Verlag Carl Winters Universitätsbuchhandlung
CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG / HEIDELBERG
Blätter für Gefängniskunde
Verzeichnis der erscliienenen Sonderhefte
Band:
Heft!
47
S
Schwandner- v. Jagemann-Klein, Vor¬
schläge zu einem Rcichsgesetze über den Vollzug
der Freiheitsstrafen und sichernder Maßnahmen,
85 Seiten, 1913 ...
1,50 m
59
s
Weber, Die Strafentlassenenpflege, 76 Seiten, 1928
2,40
ft
60
s
S c h u n c k , Das Gefängniswesen des ehemaligen
Herzogtums Zweibrücken, 60 Seiten, 1929 .
2.—
ff
62
SI
Hauptvogel, Aufzeichnungen über das Gefäng¬
niswesen Englands, 219 Seiten, 1931 .
6,60
tf
62
SU
Rahne, Die Gefangenenarbeit im Rahmen des
Erziehungsstrafvollzugs, 98 Seiten, 1931 .
2,80
ff
63
s
Heß, Die Kirche im Strafvollzug, 88 Seiten, 1932
2,40
ff
64
1
Stumpf, Abgrenzung der Vollstreckung und des
Vollzugs der Strafen und der mit Freiheitsent¬
ziehung verbundenen Maßregeln der Besserung und
Sicherung, 110 Seiten, 1933 .
2,80
ff
64
s
Röhrbein, Übersetzung der italienischen Dienst¬
ordnung für Sicherungs- und Strafanstalten vom
18. Juni 1931, 139 Seiten, 1933 .
3,80
ff
65
SI
Weissenrieder, Reichsrechtliche Vollzugs¬
grundsätze (Text der Grundsätze von 1923), 69 Sei-
ten, 1934 .
2,—
65
SH
Pfeiffer, Neuzeitliche Gefängnisbauten und ihre
Geschichte, 182 Seiten, 1934 .
6.-
65
SN
B 1 0 e m , Die Situation der Straferwartung in der
Untersuchungshaft, 86 Seiten, 1934 .
2,40
fl
66
1
Hauptvogel, Gefängniswesen in England,
Berichte über einen Studienaufenthalt, 114 Seiten,
1935.
3.-
ff
67
4 B
Amtlicher Text der AV. des RJM. über den Jugend¬
strafvollzug vom 22. Januar 1937, 23 Seiten, 1936
0,60
ff
68
3
Quentin-Sieverts, Die Bebandlung der
jugendlichen Rechtsbrecher im Alter von 17 bis
23 Jahren in England unter besonderer Berück¬
sichtigung des Borstal-Systems, 74 Seiten, 1937 ...
2.-
ff
68
6
Hildebrardt - Weber - Schiefer-
Fratzscher-Eberhard, Über die Siche¬
rungsverwahrung, 56 Seiten, 1938 .
2,—
69
2
Kosinski, Strafgerichtsbarkeit und Strafvoll¬
streckung im alten Berlin, 41 Seiten, 1938 .
2,-
>1
70
2
W i 11 i g , Das Werden der deutschen Gefängnis¬
schule, 59 Seiten, 1939 .
2,40
i>
71
3
Meißner, Die Besserungsanstalt zu Tapiau
(1787—1806) als erstes preußisches Arbeitshaus
moderner Richtung, 65 Seiten, 1940 .
2 ,-
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72
5
T r e s s , Die Asozialenfrage, 48 Seiten. 1942 .
9 _
Deutsche Geseilschatt für Gefängniskunde
in der Akademie für Deutsches Recht
Blätter
für
Gefängniskunde
Herausgeber:
Dr. jur. W. Strube, Oberregierungsrat, Berlin
Ständige Mitarbeiter:'
Dr. jur. E. Schmidt
Ministerialrat im Beichsjustiz'ministerium, Berlin
Dr. jur. H. Eichler
Ministerialrat im Keichsjustizministerium, Berlin
72. Band / Sechstes Heft / Februar—März 1942
Heidelberg 1942 / VerlagCarlWintersUniversitätsbuchhandlung
Inhalt
des 6. Heftes des 72. Bandes:
Abhandlungen Seite
Dr. Hogräfer, Ein Beitrag zur Lehre vom Tätertypus im
Strafrecht . 227
Dr. Gregor und Dr. Zink, Soziale Eingliederung und Prognose
aus dem Jugendgefängnis Entlassener . 241
Aus der Gefängnisyerwaltung
Allgemeine Verfügungen des RJM. 291
Personalnachrichten . 296
Mitteilungen
Satzung der Deutschen Gesellschaft für Gefängniskunde . 298
Schrifttum
Bücher — Inland . 300
Zeitschriften — Ausland . 301
Inhaltsverzeichnis des 72. Bandes . 304
Die Scbriftleituns der „Blätter für Gefängmiskunde" befindet sich Berlin W 9, Leipziner
Platz 16 — Fernsprecher: 12 70 76 — Der Zablungrsverkehr läuft unter der Anschrift:
,,Deutsche Geselischaft für Gefäneniskunde in der Akademie für Deutsches Recht" —
Bankkonto: 3676S bei der Bank der Deutschen Arbeit in Berlin C2 — Postscheck¬
konto : 1764 92 Berlin — Die persönliche Anschrift des Herausgebers lautet:
Oberrcglerungsrat Dr. Strube. Berlin NW49, Alt-Moabit 12 a — Die ..Blätter für Gefängnis-
kunde" erscheinen alle zwei Monate — Jeder Band umfaßt sechs Hefte — WissenschafUiche
Abhandlungen größeren Umfangs erscheinen in Sonderheften.
2 ^
Ein Beitrag zur Lehre vom Tätertypus
im Strafrecht
von Dr. Rolf Hogräfer, Berlin
(z. Z. im Heeresdienst)
Die junge Lehre vom Tätertypus, die seit Mai 1940 auch in die
Rechtsprechung des Reichsgerichts und der Sondergerichte Eingang ge¬
funden hat, gehört in den größeren Zusammenhang der fortschreitenden
Subjektivierung des Strafrechts. Es erscheint daher innerlich begründet,
daß sie überwiegend von solchen Autoren vertreten wird, die das Wesen
des Verbrechens weniger in der Rechtsgutsverletzung als in der subjektiv
stark betonten Pflichtwidrigkeit erblicken.
Die erste nachhaltige Belebung erfuhr der Tätergedanke von der
Seite des Willensstrafrechts. Die Anhänger der Idee des Willensstraf¬
rechts blieben nicht bei der Tat als dem Ausdruck des verbrecherischen
Willens stehen, sondern machten auch den Täter als Träger dieses Willens
zum Gegenstand des Strafrechts. Freisler erklärt bereits in seiner Ab¬
handlung über „Willensstrafrecht; Versuch und Vollendung“ i): gerade
ein Willensstrafrecht bedürfe „einer richtigen Beurteilung der Täterpersön¬
lichkeit“. An anderer Stelle 2) fordert er eine möglichst weitgehende Ver¬
wendung von Tätertypen an Stelle von Handlungsbeschreibungen. Für
das kommende Strafrecht kündigt er an, es werde weitgehend den Grund¬
satz der Tatbestrafung durch den der Persönlichkeitsbestrafung ersetzen;
für das neue Recht sei „der Tätertyp als Maßstab für die Prüfung der
Strafbarkeit des Täters“ viel besser geeignet als der Tattyp^).
Eine weitere Förderung dieser Bestrebungen bedeutet der Versuch,
dem Strafrecht durch eine am Gemeinschaftsprinzip ausgerichtete Denk¬
weise einen neuen Sinn zu geben- Besonders die Arbeiten von Schaff-
stein4) und Dahmö) auf dem Gebiet der Ehrenstrafe und des Verrats
haben diese Entwicklung beeinflußt. Das Verbrechen wird in seiner Eigen¬
art nach der verletzenden oder zerstörenden Wirkung auf die Gemeinschafts¬
bindungen des Rechtsbrechers begriffen. D a h m sieht in der Strafe ein
Urteil über den Wert oder Unwert des Täters für das Volk (vgl. Anm.6)6).
Sie bringe zum Ausdruck, wie weit sich der Verbrecher von der Gemein¬
schaft gelöst habe, ob und unter welchen Voraussetzungen der Bruch mit
ihr geheilt werden könne'^). Jedes schwere Verbrechen wird deshalb im
tieferen Sinne als Treubruch gegenüber der Volksgemeinschaft aufgefaßt.
Es kann danach nicht als Tat, sondern nur aus dem Wesen des Täters, aus
seiner Gliedstellung im Ganzen erfaßt werden.
1) Gürtner» ^Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission**.
I. 2. Aufl. S. 27.
2) ZStW. 65/517.
3) Freisler, a. a. O., und G ü r t n c r , 11, 2. Aufl. S. 59, 65.
4) ».Ehrenstrafe und Freiheitsstrafe“, DStrR. 34/273 ff.
5) ,,Die Erneuerung der Ehrenatrafe“, DJZ. 34 Sp. 821 fT. ,.Verrat und Verbrechen“,
Zeitschr. L d. Kes. Staatswiss. 95/286 ; s. auch ,.Verbrechen und Tatbestand“, 19S5, S. 46
0) Ähnlich auch Rietzach, ,.Oie Strafen und Maßregeln der Sicherungr, Ben«
serunfT und Heilung“ in G ü r t n e r , 1, 2 S. 118 ft. ,
7) DJZ. 34 Sp. 827,
So scheint sich das neuere Strafrecht immer mehr am T'ätergedankert
zu orientieren. Das gilt nicht nur de lege ferenda, sondern auch für das
geltende Gesetz, soweit nicht der einzelne Tatbestand eine tätertypologische
Auslegung verbietet. Besonders in den Tatbeständen des Kriegsstrafrechts
wird in zahlreichen Fällen eine Beschreibung von Tätertypen gesehen, ohne
daß nach allgemeiner Anschauung darin ein Gedanke zum Ausdruck kommt,
der wegen des Ausnahmecharakters der Kriegsgesetze nur vorübergehende
Bedeutung hat. Diese Entwicklungsrichtung vom Tat- zum Täter¬
strafrecht hebt Gleispachin seinem Vortrag auf der Münchener Tagung
der Strafrechtsgruppe vom 22.—24.11.1940 '?»)ausdrücklich hervor. Er wei-st
gleichzeitig darauf hin, daß die Lehre vom Tätertypus bereits auf der
Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Stral'rechtslehrer im Sep¬
tember 1940 in Weimar allgemeine Zustimmung gefunden hat. Inzwischen
sind jedoch von verschiedenen Seiten Bedenken vorgetragen worden. Besonders
Nagler8), Klee9) und Schwarz 10) sehen in der Verwendung von
Tätertypen keinen Fortschritt und vermissen vor allem eine klare Inhalts¬
bestimmung und fe.ste Begrenzung des Begriffs H). An dieser Kritik
erscheint zunächst so viel richtig, daß eine klare Ausdeutung vor allem
des sogenannten „generellen“ Tätertyps bisher nicht erreicht, vielfach be¬
wußt oder unbewußt nicht einmal versucht worden ist. Die Folge sind
Mißverständnisse im Schrifttum. Auch in der Rechtsprechung läßt sich
eine unklare Verwendung dieses Begriffs nachweisen. Es erscheint daher
von Nutzen, die neue Lehre einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
Dabei darf wohl unterstellt werden, daß von keiner Seite beabsichtiget ist,
durch die Verwendung von Tätertypen eine Auflö.sung der dem deutschen
Rechtsdenken eignen architektonisch festen Ausprägung der Rechts¬
begriffe herbeizuführen oder auch nur in Kauf zu nehmen.
I.
Die übliche Unterscheidung zwischen kriminologischem (-individu¬
ellem) oder generellem (-normativem) Tätertyp lehnt sich äußerlich an
den Sprachgebrauch an. Die Aussage, jemand sei ein Betrüger, Dieb oder
Brandstifter, kann zunächst bedeuten, daß eine Person sich durch eine
bestimmte Handlung des Betruges, Diebstahls oder der Brandstiftung schul¬
dig gemacht habe. In diesem Falle kann nur die Frage nach dem generellen
Tätertyp auftauchen. Sie kann aber auch zum Ausdruck bringen wollen,
daß der Täter einen Hang, eine Neigung zu Betrügereien, Diebstählen oder
zur Anlegung von Bränden besitze (kriminologischer Tätertyp). Hier
knüpft das Urteil nicht an ein konkretes Tun oder Unterlassen an, sondern
kennzeichnet den Täter in seinem kriminellen Sein. Die Einzeltat ist hier
nur Symptom für eine verbrecheri.sche Entartung der gesamten Persönlich¬
keit, nicht primärer Strafgrund. Sie ist Verbrechen nur dann, wenn sie
Ausfluß der „asozialen Existenz“ des Täters ist
Da die Charakterisierung des Täters eine Aussage auf Grund einer
kriminologischen Tatsachenfeststellung in Beziehung auf die individuelle
7a) AbKedruckt ln DStrR. 41/1 IT.
S) ÜS. Bd. 114, H. 3/6, S. 133 ff.
B) DStrR. 40/97 ff.
10) ZAKDR. 1941, S. 108.
11) Ähnlich auch Bockeimann, ZAKDR. 1940, S. 312.
13) H. Mayer, DStrR. 38/105 ; Kohlrnusch-GUrtner, II. 2 S. 501 ;
D a h m . ZStW. 59 S. 143 ff; M e z (t e r , ZAKDR. 40/62 u. a.
229
Eigenart des Täters enthält, ist die Bezeichnung: kriminologischer >3)
oder individueller Tätertyp zutreffend. Die hiermit begrifflich geforderte
Verallgemeinerung im Sinne einer Typenbildung auf Grund der Auslese
nach einem zusammenfassenden gemeinsamen Merkmal ist leicht zu er¬
kennen. Die Zuordnung zum Typus geschieht durch die Feststellung, daß
der Täter die Summe derjenigen Eigenschaften besitze, die in ihm einen ein¬
gewurzelten Hang zur wiederholten Begehung von Straftaten in einer be¬
stimmten Richtung begründet. Dieser konstanten Unwertrichtung der
Persönlichkeit entspricht vielfach ein bestimmter Deliktstyp. Der Ver¬
schiedenheit der Tattypen entspricht in diesen Fällen auf der anderen Seite
eine analoge Unterscheidung der Tätertypen. Notwendig aber ist das nicht,
wie z. B. dem Mord u. a. die Tätertypen des Lustmörders und Raubmörders
entsprechen.
Der kriminologische Tätertyp erfaßt die ganze Persönlichkeit in ihrer
eigenartigen Struktur. Seine Hauptbedeutung liegt daher nicht im Straf¬
recht, sondern im Bereich der Spezialprävention. Im Sicherungsrecht, wo
die Tatfolgen der Persönlichkeitsartung angepaßt sind, herrscht dieser
Tätertyp vor. Das geltende Strafrecht ist dagegen grundsätzlich ein
Tatstrafrecht. Jedenfalls wird allgemein anerkannt, daß es kein Täter¬
strafrecht in dem Sinne ist, daß die rechtliche Wertung an die Eigenart
der individuellen Persönlichkeit anknüpft. Die Äußerung D a h m s *5), Dieb
sei nicht jeder, der den Tatbestand des § 242 StGB, erfülle, „sondern nur,
wer seinem Wesen nach ein Dieb ist“, ist von diesem inzwischen richtig¬
gestellt worden 16). In der Tat kann die Frage, ob zu der einmaligen Be¬
gehung eines Delikts noch außerhalb des Tatbestandes eine schon vor der
konkreten Handlung gegebene konstante kriminelle Gesinnung hinzutreten
müsse, nicht ernsthaft erwogen werden. Wer einen Betrug, Diebstahl, Ehe¬
bruch, Raub, Mord begangen hat, ist strafbar, auch wenn er seiner Natur und
.seinem Vorleben nach kein Betrüger, Dieb, Ehebrecher. Räuber oder Mörder
ist. Wenn auch in diesen Fällen die Frage nach dem Tätertyp aufgeworfen
wird, so kann es sich hierbei niemals um den kriminologischen, sondern
lediglich um den sogenannten „generellen Tätertyp“ handeln. Diese Fest¬
stellung bedarf deshalb besonderer Betonung, weil trotz der Bemühungen
Dahmsll) auch im neuesten Schrifttum und besonders in der Rechtsprechung
immer wieder ein Abgleiten auf den kriminellen Tätertyp festzustellen ist.
So ist in manchen Fällen unmöglich zu erkennen, ob sich die Ausführungen
im Schrifttum auf diesen oder jenen Tätertyp beziehen. Die Untersuchung
soll deshalb dadurch entlastet werden, daß der kriminelle Tätertyp auch ge¬
bietsmäßig beschränkt wird. Er i.st außerhalb des Sicherungsrechts auch als
Problem auf die Gebiete der Strafzumessung und der Schuld beschränkt.
Im Bereich der Strafzumessung ist die Höhe der Strafe für die Einzeltat
davon abhängig, in welchem Maße sie Ausdruck einer konstanten krimi¬
nellen Haltung des Täters istiS), ein Ergebnis, das sich allerdings schon
aus der Mezgerschen Lehre von der Persönlichkeitsadäquanz der Tat ergibt.
Im Bereich der Schuld handelt es sich darum, ob es neben der Einzeltat¬
schuld auch eine sühnende Täterschuld gibt. M e z g e r bejaht diese Frage
für die §§ 51/11, 20a StGB., soweit dem Täter ein Vorwurf daraus
13) So M e * K e r , ZStW. Bd. 57 S, 678 ff.
1<) So D a h m , „Der Tätertyp im Strafrecht".
15) „Verbrechen und Tatbestand“, S. 45, daeegen Klee, DStrR. 40/104 f.
16) D a h m , ..Der Tätertyp im Strafrecht“, 1940, S. 7 f.
IT) ZStW. 57/257 und 59/145.
18) M e z g e r , ZStW. 57/687 f.; Klee, DStrR. 1940/106.
230
gemacht werden könne, daß er die kriminelle Veranlagung auf Grund seiner
Lebensführung erworben habe (Lebensführungsschuld) 19). Axif Grund er¬
erbter Anlagen lasse sich dagegen kein Vorwurf erheben. Hier sei die
Strafschärfung des § 20 a nicht Sühne für Schuld, sondern ihrer Natur nach
spezialpräventive Maßnahme. Bockeimann will dagegen die Zweispurig¬
keit von Strafen und Maßnahmen streng durchführen. Er versteht unter
der Täterschuld nicht nur die Lebensführungsschuld, sondern den ver-
.schuldeten Gesinnungsverfall des Täters, wobei auch die Nichtüberwindung
der ererbten Anlage den Schuldvorwurf begründet 20). Fälle gesetzlicher
Täterbestrafung sieht Bockeimann in §§ 51/11,20a, 181a, 361 Ziff. 3—5
und, obschon in unvollkommener Form, in § 284a StGB. Damit ist der Problem¬
kreis innerhalb desselben, außerhalb des Kriegsstrafrechts, soweit eine
Erörterung des kriminologischen Tätertyps überhaupt möglich ist, Um¬
rissen. Im übrigen kann es sieb nur um den generellen oder normativen
Tätertyp handeln, der den alleinigen Gegenstand der Ausführungen unter
II bildet.
II.
Dem generellen Tätertyp liegt die Vorstellung zugrunde, daß alle2i)
oder doch die Mehrzahl 22) der gesetzlichen Tatbestände nur den Versuch
bedeuten, bestimmte in der Volksanschauung lebende Tätergruppen als in
den Bereich der Strafbarkeit fallend näher abzugrenzen. Der Gesetzgeber
habe seine Aufgabe darin gesehen, durch begriffliche Umschreibungen
z. B. des Diebstahls, der Abtreibung, Hehlerei oder Brandstiftung die
sinnerfüllte (konkrete) Wirklichkeit, nämlich die im Gemeinschaftsleben
geschichtlich gewordenen Bilder des Diebes, Abtreibers, Hehlers oder
Brandstifters nachzuzeichnen. Der eigentliche kriminelle Gehalt eines
Delikts ließe sich danach nur durch ein Zurückgehen auf das zugrunde
liegende Täterbild ermitteln. Die dem generellen Tätertyp beigemessene
besondere Bedeutung baut nun darauf auf, daß infolge der unvermeidlichMi
Unvollkommenheit jeder gesetzlichen Umschreibung nach zwei Richtungen
Inkongruenzen zwischen Tatbestand und Tätertyp auftreten können. So
ist es denkbar, daß jemand zwar der Persönlichkeitsvor.stellung des Er¬
pressers, Hehlers, Versicherungsbetrügers oder Landesverräters entspricht,
ohne jedoch den gesetzlichen Tatbestand zu erfüllen. Als Beispiel werden
diejenigen Fälle angeführt, in denen sich über § 2 StGB, eine Ausdehnung
der Strafbarkeit als notwendig erwiesen hat 23). Umgekehrt besteht die
Möglichkeit, daß Handlungen, die dem Tatbestand formell unterfallen,
durch die zugrundeliegende kriminelle Wertvorstellung nicht mehr gedeckt
.sind. Dadurch werden wuchtige Einschränkungen des Tatbestands möglich,
welche die Handlungsbeschreibung des Gesetzes sonst nicht erlauben würde.
So will D a h m den Arzt nicht wegen Abtreibung bestrafen, der zur Lebens¬
rettung der Mutter ohne ihre Zustimmung die Schwangerschaft unter¬
bricht 24). Ebenso sei auch der rechtswidrig handelnde Arzt kein Mörder,
der dem unheilbar Erkrankten „Sterbehilfe“ leistet. In dieser Weise könne
eine große Zahl von ge.setzlichen Tatbeständen, wie beispielsweise üble Nach¬
rede, Beleidigung, Hehlerei, Erpressung, Betrug, Untreue, Mord u. a..
10) M e z g e r , ZStW. 67/68S IT. und ..GrundriO". S. 72 IT.
20) Bockelmann. „Studien zum Täterstrafrecht", II. 1940. bce. S. 164 ff.
21) So M e z g e r , ZStW. 57/680.
22) So D a h m . ZStW. 59/143.
23) Schaffstein.ln „Gegenwartsfragen der Straf rechtswiBsenschnft“, S. 103 f.
24) D a b m , „Der Tätertyp im Strafrecht“, S. 22.
1 .
231
durch Beziehung auf den konkreten Lebenssachverhalt auf die wirklich
strafbaren Fälle beschränkt werden 26). Die Ausscheidung atypischer Ver¬
ursachungen der sogenannten „kranken“ Fälle führe zu einer Konzen¬
tration und Verdichtung der Tatbestände 26). Damit wird der Tätertyp
zur Grundlage der Auslegung und der Entscheidung über das „Ob“ der
Strafbarkeit. Daneben wird das neue Prinzip auch der Lösung zahlreicher
Fragen des allgfemeinen Teils, insbesondere des Analogie-Problems und
der Unterlassungsfrage, dienstbar gemacht. Die in der Gemeinschafts¬
ordnung gewachsenen Persönlichkeitsbilder sollen dem Richter die Grenzen
der Strafbarkeit verdeutlichen und dem Volke das Recht näherbringen,
weil sie „plastischer“, „holzschnittartiger“ und „bildhafter“ seien als die
notwendig rationalen Begriffe des Gesetzes 27). Auch M e z g e r gibt indiesem
Sinne der „Bild-Technik“ den Vorzug vor der „Merkmal-Technik“ 28).
Diese Skizzierung der Tätertypenlehre macht ohne weiteres sichtbar,
daß der Schwerpunkt strafrechtlicher Betrachtung wesentlich vom Tat¬
bestand auf tieferliegende Vorstellungen der Gesamtheit .vom Täter ver¬
schoben wird. Allerdings wird kein tatbestandsloses Strafrecht in dem Sinne
befürwortet, daß der Primat des Tätertyps gegenüber dem Gesetz gefor¬
dert wird. Wenn die Volksmeinung eine andere Vorstellung von einem
bestimmten Täterbild hat, als es dem erklärten Willen des Gesetzgebers
entspricht, so geht das Gesetz vor. In diesem Sinne wird der Tätertypus
„durch die Tat bestimmt“, wird er als „Schatten des Tatbestandes“ auf¬
gefaßt 29). So kann die Bestrafung wegen Diebstahls nicht deshalb ab¬
gelehnt werden, weil die Volksauffassung nur denjenigen als Dieb ansieht,
der aus Gewinnsucht fremde Sachen wegnimmt. Offenbar hat sich der
Gesetzgeber eine andere Vorstellung vom Dieb gebildet.
Dem Tätertyp wird also in gewissem Sinne _nur subsidiäre Bedeutung
beigemessen. Man fragt sich jedoch, wie es angesichts dieser Tatsache
möglich ist, von der entsprechenden Persönlichkeitsvorstellung aus den
Tatbestand einzuschränken. Der darin liegende Widerspruch 30) könnte
nur so behoben werden, daß man den Tatbestand und das gesunde Volksr
empfinden als zwei verschiedenrangige Mittel zur Gestaltung des Täter¬
bildes auffaßt, das damit zur eigentlichen Grundlage der Rechtsfindung
wird. In diesem Sinne ließe sich vielleicht die von D a h m beschriebene
„Wechselwirkung zwischen Tat und Täter“ deuten 3J).
Bei näherer Betrachtung derTätertypen-Lehre, die eine erhebliche prak¬
tische Bedeutung beansprucht, fällt zunächst auf, daß die im Volke lebenden
Tätervorstellungen in ihrer Dichte und Bestimmtheit erhebliche Gradunter¬
schiede aufweisen. So erscheinen in zahlreichen Fällen wie Hausfriedensbruch,
Nötigung und besonders der Körperverletzung die entsprechenden Lebens¬
vorstellungen wesentlich weniger geschlossen als etwa bei der Zuhälterei,
26) D a h m , „Der Tätertyp im Strafrecht". S. 23 ff., ZStW. 59/143 f.: Bd. 57. 254 ;
Schaffstein. ..GeKenwartafragen der Strafrechtswissenschaft”, S. 103 f. Grund¬
sätzlich zustimmend auch M e z g e r , ZAKDR. 40/62, dessen Stellungnahme nach ZStW. 57
S. 679 noch zweifelhaft sein konnte, da hier das Hauptgewicht auf die Bedeutung des Täter-
typs für die Strafzumessung gelegt wurde.
26) D a h m . ;,Der Tätertyp im StrR.", S. 42.
27) Kreisler, ZStW. 55/517; D a h m , „Der Tätertyp im StrR.", S. 37.
28) ZAKDR. 1940, S. 62.
29) Dahm, „Der Tätei^p im Strafrecht", S. 37; ZStW. 59 S. 151-: zustimmend
N ü s e . Dt. , Just. 1941, B. 369.
SO) Klee, DStrR. 1940, S. lOi'f.
31) ZStW. 69/147.
i
232
Wilderei, dem Mord, Totschlag, Wucher^S), sodaß vielfach statt „plastischer“
Täterbilder nur flüchtig umrissene, mehr oder weniger undeutlich erkenn¬
bare Lebenserscheinungen auftreten. Diese müssen aber notwendig zu einer
unscharfen Gesetzesdeutung führen! Es kann deshalb zweifelhaft er¬
scheinen, ob auf diesem schwankenden Grunde eine Auslegung der Tatbe¬
stände und eine Erweiterung oder Begrenzung der Strafbarkeit mit Erfolg
durchgeführt werden kann. D a h m gibt zu, daß bei der Körperverletzung
die Tätervorstellung so verschwommen ist, daß vielleicht nur von einem
Tattypus gesprochen werden könne. Trotzdem hält er es auch hier für
möglich, das Untypische von der Gesetzesanwendung auszuschließen, weil
auch der Tattyp nur innerlich gleichartige Erscheinungen im Auge habe
(Tätertypus S. 23). Von diesem Standpunkt aus hält er es für denkbar,
eine Körperverletzung zu verneinen, wenn ein Arzt einen kunstgerechten,
aber erfolglosen operativen Eingriff ohne die erforderliche Einwilligung
des Patienten vomimmt. Während also grundsätzlich von der Tätertypen¬
theorie die Frage nach der Tat vom Täter aus gestellt und beantwortet
wird, ist hier der Arzt Nichttäter, weil es an einer Tat fehlt. Diese Fest¬
stellung ist deshalb wesentlich, weil sie zeigt, daß es der neuen Lehre
weniger auf den Tätertyp ankommt als auf eine Ausscheidung der am
kriminellen Gehalt der Tat gemessenen und danach als untypisch und un¬
gleichartig anzusprechenden Fälle aus dem Tatbestand. Damit tritt
eine gewisse Verwandtschaft mit der Welzelschen Theorie der sozialen
Adäquanz hervor. W e 1 z e 1 beschränkt das tatbestandsmäßige Unrecht auf
solche Betätigungen, die aus dem „Rahmen der geschichtlich gewordenen
sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens“ herausfallen 33). Alle
kriegsadäquaten Handlungen sind daher keine Tötungen, Körperver¬
letzungen oder Sachbeschädigungen. Die Äußerung vertraulicher Mit¬
teilungen im engsten Familienkreis ist regelmäßig keine Beleidigung;
sozialadäquate Drohungen fallen nicht unter den Erpressungstatbestand
und kunstgerecht durchgeführte Heilmaßnahmen sind keine Körperver¬
letzungen. Diese Ergebnisse stimmen weitgehend mit denen der Täter¬
typenlehre überein, obgleich die Täterschaft aus rein tatrechtlichen Er¬
wägungen verneint wird. Dabei begnügt sich die Welzelsche Theorie im
wesentlichen mit der Ausscheidung zweifellos nicht strafwürdigen Ver¬
haltens. Bei der Tätertypenlehre wird es dagegen oft so liegen, daß in
Beziehung auf einen bestimmten Typus das Verhalten zwar atypisch ist,
andererseits aber doch strafbar erscheint und damit über die negative
Funktion hinaus die positive Aufgabe der Einordnung in einen anderen
Typus zu lösen ist. Eine andere Strafdrohung wird sich aber auch mit
Hilfe des § 2 StGB, mindestens de lege lata nicht immer finden 34). Will
man den Arzt, der ohne Einwilligung die Schwangerschaft unterbricht,
nicht wegen Abtreibung bestrafen, so kann man ihn zwar nach dem Ent¬
wurf wegen eigenmächtiger Heilbehandlung bestrafen, nach geltendem
Recht aber wird seine Erfassung aus einem anderen Tatbestand erhebliche
Schwierigkeiten bereiten 35). In diesen Fällen bleibt also nichts als die
Rückkehr zum Tatprinzip unter Verzicht auf eine dem Tätertyp ent-
32) Da» erkennt auch D a h m — ..Der Tätertypus im Strafrecht", S. 23 —, ohne
jedoch darin einen schwachen Punkt »einer Typenlehre zu sehen. Beachte auch die An¬
wendungen von Klee, DStrR. 1940/106.
83) „Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen", 1940,
S. 38 f. und ZStW. 58/616 ff.
34) Boekelmann, ZAKDR. 40/313; s. auch D a h m , „Der Tätertyp im Straf¬
recht", S. 46 f.
35) H. Mayer, DStrR. 1939, S. 106, Anm. 143.
233
sprechende Beurteilung übrig. Es tauchen also bereits Zweifel an der
praktischen Brauchbarkeit des Tätertyps auf, bevor eine begrilTliche
Untersuchung dieses Gebildes vorgenominen wurde.
Hier lassen uns nun alle Anhänger der neuen Lehre im Stich. Sie
bezeichnen als Mörder denjenigen, der ein Verhalten gezeigrt hat, ..das den
Täter im Sinne der Volksanschauung als einen Mörder erscheinen läßt, das
für einen Mörder typisch i.st“ 36). Wann dies im einzelnen der Fall ist, wird
nicht angegeben. Dahm erklärt zwar in ZStW. Bd. 59 S. 151, daß die
Vorstellung des Diebe.s, Wucherers oder Zuhälters „nicht weniger greifbar“
sei „als so mancher vom Gesetzgeber geprägte Kunstbegriff“ und sich der
rationalen Deutung und Abgrenzung keineswegs entziehe. Es wird aber
kaum behauptet werden, daß Wendungen wie: „zum Täter gehört das, was
für die Gemeinschaft wesentlich ist“ oder Täterschaft sei „ein bestimmtes
Sein in der Gemeinschaft“ als zureichende Inhaltsbestimmung angesehen
werden können.
Nun darf man allerdings von einer Lehre, die sich bewußt nach den
tatsächlichen Erscheinungen des Lebens ausrichtet, keine Begriffsbildung
im Wege der Abstraktion envarten. Die Frage ist also nicht nach dem
abstrakten Typ des Täters schlechthin, sondern nach dem konkreten Typ
des Brandstifters, Zuhälters, Diebes, Hehlers in seinen einzelnen Merkmalen
zu stellen. Dabei handelt es sich nicht um ein „Sezieren“ („Zerreden“),
vor dem F r e i s 1 e r37) energisch warnt, sondern um ein eminent praktisches
Verfahren, das allein geeignet sein könnte, den neuen „Begriff“ aus
der Sphäre des rein Gefühlsmäßigen herauszuheben und seine Brauchbarkeit
für den Richter uhter Beweis zu stellen. Es ist notwendig, das Bild durch
Vermittlung des Gedankens, den es symbolisch veranschaulicht, aber nicht
ersetzt, dem Richter wirklich greifbar zu machen.
Der Begriff des Typus fordert zunächst notwendig eine gewisse
Verallgemeinerung im Sinne einer Gruppenbildung nach einem oder
mehreren gemein.samen Merkmalen. Die Zusammenfassung kann sich nach
den verschiedensten Richtlinien je nach Auswahl der typisierenden Merk¬
male vollziehen. So wäre es an sich denkbar, bei Tatbeständen, die zu
ihrer Anwendung die persönliche Eigenschaft des Täters als Beamter,
Deutscher, Vormund, Treuhänder voraussetzen, nach diesem Kennzeichen
entsprechende Typen zu bilden. Auf diese Weise würde jedoch der Boden
der Tattypik noch nicht verlassen, da diese Merkmale schon in der Tat
enthalten sind und das Gesetz auch ohnehin nach den der gliedschaftlichen
Stellung in der Gemein.schaft entnommenen Maßstäben ausgelegt wird.
Es geht auch nicht an, das Täterbild aus den Elementen des gesetzlichen
Tatbestandes zusammenzusetzen, da dies nur zu der inhaltslosen Feststel¬
lung führen würde, daß Täter ist, wer eine Tat begeht 38). Soweit der
Tätertyp aus allen oder einzelnen Merkmalen des Tatbestands gebildet
wird, wird auch die Tattypik materiell keineswegs verlassen. Es könnte
nur zugegeben werden, daß von der Seite des Gesetzes die Persönlichkeits¬
vorstellung mitgestaltet wird. Das spezifisch Neue dagegen,
das von der Tätertypen1ehre gefordert werden
müßte, bestände in der Ergänzung jener Persön-
1 i c hk ei t s V o r s t e 11 u n g durch Merkmale, die allein
dem in der V o 1 ksanschauung lebenden Täterbild
36) Dahm, „Der Tätertyi) im Strafrecht“, S. 21 und ZStW. 57 S. 257.
37) Dt. Just. 1940, S. 886 und Dt. Just. 1989/1451.
SS) Bockeimann, ZAKDR. 1940/312.
234
zu entnehmen wären. In diesem Sinne bedeutet es noch keine
Charakterisierung des Betrügers, wenn Schaffstein auf die bereits im
Gesetz zum Ausdruck gelangte Bereicherungsabsicht hinweist 39).
Die eigentliche Aufgabe besteht vielmehr darin, die in der
Volksvorstellung vorhandenen Verbrecherbilder einer rationalen Deutung
zuzuführen, ohne bei den Merkmalen des gesetzlichen Tatbestands stehen
zu bleiben. Dabei kann von einer Heranziehung des kriminologischen
Tätertyps keine Hilfe erwartet werden. Die diesem Typ entsprechende
Vorstellung des Hangverbrechers gründet sich auf faktische Eigenschaften,
die aus der Gleichartigkeit der wiederholten Begehung bestimmter Straf¬
taten zu erschließen sind. In diesem Sinne bedeutet Persönlichkeit „die
für einen bestimmten Zeitraum konstante Reaktionsweise eines Individu¬
ums gegenüber äußeren Erlebnisreizen“ ^9), Eine solche Neigung im Sinne
einer konstanten Wertrichtung setzt der generelle Tätertypus nicht voraus.
Auch die einmalige Begehung einer Tat aus einmaligen Beweggründen
macht den Täter strafbar, soweit sie nur — nach Ansicht der neuen
Lehre — gemessen am kriminellen Gehalt des Delikts, nicht atypisch ist.
Es gilt der alte Satz: „Die Tat tötet den Mann“ Soweit ersichtlich,
wird dies von keiner Seite mehr bezweifelt. Die Einzeltat kann also der
Persönlichkeit des Täters, wie sie soeben beschrieben wurde, durchaus inadä¬
quat sein. Wenn trotzdem der Tätertyp auf einer Persönlichkeitsvorstellung
aufbaut, so müssen dafür offenbar andere Erwägungen maßgebend sein. '
Es kann sich nur um Momente im Augenblick der Tat, um Motive, Absichten
und Strebungen des Täters und die Art der Verbrechensausführung im
Zeitpunkt der Deliktsbegehung handeln, ohne daß es darauf ankommt,
ob der Täter bereits früher ähnliche Persönlichkeitsäußerungen gezeigt
hat (dies hat nur im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung).
Kommt es einerseits nicht darauf an, ob die Tat zum Täter paßt, so
kann anderseits aber auch nicht aus dem Vorhandensein eines kriminolo¬
gischen Täterseins ohne weiteres geschlossen werden, daß auch in concreto
die Tat mit ihren möglicherweise nur vorübergehenden Gesinnungsmomen¬
ten dem gesetzlichen Tatbestand oder dem angeblich vorhandenen gene¬
rellen Tätertyp unterfällt. Der notorische Betrüger braucht keineswegs
auch in diesem Falle betrogen zu haben. Ist jedoch der gesetzliche Tatbestand
erfüllt, so bliebe für den generellen Tätertypus kein Raum mehr, wenn
feststehen würde, daß die Handlung Ausfluß der kriminologischen Gesamt¬
haltung des Betrügers ist. Ob dies aber der Fall ist, kann nur eine Sinn¬
deutung der Einzeltat ergeben, für die der generelle Typus also seine Be¬
deutung behalten müßte. Hat jemand allerdings schon mehrfach Hand¬
lungen begangen, die zu den zweifellosen Betrugsfällen gehörten, so ist
das ein Indiz dafür, daß es auch diesmal so ist. Für den Begriff des
generellen Tätertypus lassen sich daraus jedoch keinerlei Folgerungen
ziehen. Für ihn bleibt weiterhin die Notwendigkeit bestehen, das dem
Tatbestand zugrunde liegende Täterbild in einen Gedanken zu transfor¬
mieren, dem allein Realitätswert zukommt. Warum ist der dem unheilbar
Erkrankten „Sterbehilfe“ leistende Arzt nach der Tätertypenlehre kein
Mörder? An welchem Tätertypenbild jenseits des Tatbestandes soll der
Arzt und sein Verhalten gemessen werden? Welches typisierende Merk-
3B) Schaffstein, in ,,Gegenwartsfragen der Strafrechtswissenschaft". S. 110.
40) M c z g e r , ..Lehrbuch", S. 279 .
41) Dahm. ZStW. Bd. 69 S. 145; ..Der Tätertyp im Strafrecht" S. 8; NUse,
nt. Just. V. 21. März 1941. S. 859 ; Mittelbach, DR. 1941. S. 237; Schwarz, ZAKDR.
V. 1. April 1941, S. 108.
235
mal des Täterbildes fehlt und ermöglicht dadurch die Feststellung seiner
Nichttäterschaft ? Diese Frage ist bisher von niemand beantwortet worden
und läßt sich auch nicht beantworten. Sie stellen, heißt erkennen, daß
lediglich aus dem gesunden Volksempfinden er¬
schlossen wird, daß die Tat nach ihrem kriminellen Gehalt aus dem
Rahmen der zweifellosen Mordfälle herausfällt. Die mehr oder weniger
scharfen Täterbilder der Volksanschauung sind einer rationalen Deutung
unzugänglich und lediglich im Wege einer Art intuitiver Schau zu erfassen.
Handelt es sich aber sachlich doch nur um ein Zurückgehen auf die sozial-
ethische Grundnorm des Delikts, um eine Auslegung und Begrenzung des
Tatbestandes aus dem gesunden Volksempfinden, so sind die Bemühungen
um den Tätertyp nutzlos und nur geeignet, die wirklichen Zusammenhänge
und die mit ihnen verbundenen Gefahren zu verdunkeln. Was einer ratio¬
nalen Deutung zugänglich ist, sind lediglich Elemente des gesetzlichen Tat¬
bestandes. Die Tätertypenlehre bleibt also materiell beim Tattyp stehen <2).
Der generelle „Täter“-Typ kann nicht allgemein bestimmt werden, da
es einen Tätertyp, an dem der Täter und seine Tat gemessen werden könnten,
nicht gibt. Die täterrechtlichen Elemente der Einzeltat sind einer Ver¬
allgemeinerung unzugänglich, wenn man nicht auf den kriminologischen
Tätertyp herauskommen will. Es ist bezeichnend, daß Kohlrausch im
typischen Hehler ohne weiteres nur den „chronischen“ Verbrecher sieht ^3).
Der generelle Tätertyp ist unvorstellbar und sollte zur Vermeidung von
Unklarheiten besonders in der Rechtsprechung aus der strafrechtlichen
Diskussion ausgeschieden werden. Andernfalls besteht die Gefahr, daß
der generelle Tätertypus im falschen Gewände eines festen Begriffs einer
intuitiven Rechtsprechung den Weg bereitet.
Diese Stellungnahme deutet an, daß auch im Bereich der unechten
Unterlassung und der Analogie die Verwendung des Tätertypus keinen
wesentlichen Fortschritt bringt. Der pflichtwidrig Unterlassende wird
dem positiv Handelnden gleichgestellt, „wenn er nach gesundem Volks¬
empfinden als Täter verantwortlich i.st“^4). Da der Tätertypus für die
Entscheidung dieser Frage keine festen Maßstäbe bietet, bleibt auch dieser
dem Vorschläge der Strafrechtskommission zugrunde liegende Lösungs¬
versuch in den unsicheren Anschauung^en der Allgemeinheit über den Täter
.stecken 43). Auch die Frage der analogen Anwendung eines Gesetzes kann
nicht allein davon abhängig gemacht werden, ob der Handelnde einem be-
.stimmten Tätertyp entspricht. Wenn § 2 verlangt, daß die Tat nach gesundem
Volksempfinden und nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes Bestra¬
fung verdient, so kann die zweite Voraussetzung nicht wiederum aus dem ge¬
sunden Volksempfinden begründet werden ^6).
•t'i) Im ErKcbniü übcreinütimmend; N a c 1 e r . ..Krieftsstrafrecht" in GS. Bd. 114
S. 138—144, 204 f., 210, 222 f. und ZAKDK. 1940, S. 226 f.; B o c k e 1 m a n n , „Studien
zum Täterstrafrecht", 1940, II, S. 106 ff.; ZAKDR. 40/311 ff.: Klee, ,,Der Tätertypus
als Mittel der Ausletninp und der Gestaltuns strafbarer Tatbestände" in DStrR. 1940,
S. 97 ff.: Schwarz, ZAKDR. 1941, S. 108; N a r I e r , (,,KrleK88trafrecht" in GS.
Bd. 114, S. 143) erkennt zutreffend im Tätertypus den „subjektiv ttewendeten (d. h. auf
den Handelnden projizierten) Tatbestand". Dazu Mittelbach. ..Der Tätertyp im
Kriettsstrafrecht", DR.-Ausg. A. 1941, S. 237, der die Ansicht vertritt, daß die neue Lehre
einer uferlosen Auslegung des Gesetzes entgegenarbeiten werde.
43) G ü r t n e r . II, 2 S. 600 f.
44) Schaffstein, „Gegenwartsfragen der Strafrechtswissenschaft" (Festschrift
für Graf Gleispach) 1936, S. 70 ff.; D a h m , ZStW. Bd. 69 S. 183 ff., 143 ff.
45) N a g 1 e r . GS. Bd. 111 S. 1 ff., 101 ff.; Drost, GS. Bd. 109 S. 1 ff.. 47 ff.
4B) Kohlrausch, DStrR. 1989, S. 118, a. A, M e z g e r , ZStW. Bd. 676
S. 680 f. und D.Rechtswisfi. 1939, S. 2.59 ff.
236
Es soll aber andererseits nicht das Verdienst der neuen Lehre verkannt
werden, die persönlichen Besonderheiten des Täters wieder der recht¬
lichen Wertunjf zugänglich gemacht zu haben. Sie hat über die juristische
Haftung für Wirkungen und Erfolge hinausgreifend den Täter mit seinen
menschlichen Qualitäten in den Vordergrund gestellt *^). Der Rückschlag
ist jedoch zu stark und hat zu einer einseitigen Überbewertung täterrecht¬
licher Elemente geführt. Tat und Täter stehen auf dem Boden des Tat¬
strafrechts gleichberechtigt nebeneinander. Auch die Sprache des Volkes
bestätigt dies. Für die Kennzeichnung des kriminellen Vorgangs mit dem
Substantiv („A ist ein Mörder“) oder mit dem Verbum („A hat einen Mord
begangen“ — „A hat den B ermordet“) ist lediglich die Richtung der
Fragestellung maßgebend. Die Tat als willensdurchwirktes Geschehen
ist schon durch die Schuld untrennbar mit dem Täter verbunden. Zutreffend
erklärt E. W o 1 f 48); ^^Es wird erforderlich .sein, den Täter als »Täter einer
Tat« und die Tat als »Tat eines Täters« zu begreifen. Mit der Erkenntnis
(„Setzung“ nach Hegel) des einen Begriffs ist der andere schon mitgegeben
und damit auch schon die Synthese, die Tätertat“ 49).
Als Ergebnis halten wir fest: es gibt nur einen Tätertyp, den so¬
genannten kriminologischen oder echten Typ; im übrigen gibt es nur täter¬
rechtliche Elemente der Tat. Erinnern wir uns an den begrenzten Bereich
des echten Tätertyps (s. oben S. 229), so kann die häufige Verwendung von
Tätertypen auch für das kommende Recht nicht befürwortet werden. Es
ist doch offenbar unmöglich, die Strafgesetze nur gegen Gewohnheitsver¬
brecher anzuwenden. Auch die Rechtsprechung, die im folgenden noch
kurz gestreift werden soll, wird selten Gelegenheit haben, sich mit dem
Tätertyp auseinanderzusetzen.
III.
Das Reichsgericht hat sich mit dem Tätertypus erstmalig in seiner
Entscheidung zur au.sbeuterischen Zuhälterei vom 24. 4. 1939 80) au.sein-
andergesetzt. — Folgender Sachverhalt lag zugrunde:
Der Angeklagte unterhielt ein ernstes Liebesverhältnis zu einer
Dime. Er ließ sich von ihr Zuschüsse zu den gemeinsam gemachten
Wirtshauszechen geben und in zwei Fällen seine Wäscherechnung bezahlen.
Insgesamt machten die Aufwendungen der Dirne etwa den sechsten Teil
der von dem Angeklagten geleisteten Beträge aus. —
Es fällt zunächst auf, daß der Fall keinerlei Schwierigkeiten bietet.
Ein von § 181 a StGB, gefordertes „Ausbeuten“ oder auch nur teilweises
Beziehen von Lebensunterhalt kann dann nicht gegeben sein, wenn der
Angeklagte nicht nur rechnungsmäßig.seinen eigenen Unterhalt, .sondern zum
Teil auch noch den der Prostituierten bestreitet. Dennoch zieht es das
RG. vor, zu diesem Ergebnis auf dem Wege über den Tätertyp zu gelangen.
Es bezieht sich zunächst auf die Begründung des § 181 a, nach der die.ee
Vorschrift einen „Verbrechertyp von ausgeprägter Eigenart“ treffen will
und sich gegen Personen richtet, die „gewohnheitsmäßig aus der Prosti¬
tution ihren Erwerb ziehen“. Schon daraus wird ersichtlich, daß das RG.
die Bestimmung im Sinne des kriminologischen Tätertyps auslegt. Es
47) BockelniAnn, ..Tätcrstrafrecht“ II, S. 127.
48) E. W o 1 f , „Der Methodenstreit in der Strafrecht8lchrc und »eine Überwindung"
in D.Recht.swi.ss. Bd. 4 1939, S. 179.
40) Vgl. auch E. Wolf, ZAKDR. 1936, S. 368 ff., wo er eine Zweigliederung der
Verbrechenslehre auf Grund der Unterscheidung von Tat- und Tätertyp versucht.
SO) RGSt. 73/183 = ZAKDR. 1939, S. 539 fl. mit Anm. von D a h m , S. 528.
237
stützt sich unter Aufgabe seines früheren Standpunkts darauf, daß das
eingeklammerte Wort „Zuhälter“ die Bedeutung eines der ausdrücklichen
Feststellung bedürftigen Tatbestandsmerkmals habe. Daher weist das RG.
in seinen Direktiven die Strafkammer an, diejenigen Umstände festzu¬
stellen, die den Täter in seinem individuellen Sein als Zuhälter kenn¬
zeichnen®*). Im einzelnen sei zu prüfen, ob der Angeklagte vorbestraft sei,
ob er in Zuhälterkreisen verkehrte oder Umgang mit anderen Dirnen
hatte, ob er den Dirnen Männer zugeführt habe oder ihnen sonst bei der
Ausübung ihres Gewerbes behilflich gewesen sei®2).
Die Auffassung des RG. kann nicht gebilligt werden. Eine schein¬
bare Annäherung zum kriminologischen Tätertyp könnte allerdings darin
gesehen werden, daß sich die „Ausbeutung“ der Dime nicht in einer ein¬
zelnen Tathandlung erschöpft, sondern eine persönliche Beziehung von
gewisser Dauer voraussetzt®®). Dieses Moment der Dauer ist aber nur
der Ausbeutung eigen; dagegen besteht kein Grund zu der Annahme, daß
der Täter gewohnheitsmäßig Zuhälterei begehe und deshalb nur eine
dauernde Entartung der Persönlichkeit zur Bestrafung aus § 181 a führen
könne. Es bedarf daher auch nicht der Feststellung solcher Umstände,
die auf diese Entartung schließen lassen. Auch wenn sich nach weiteren
Ermittlungen herausstellen sollte, daß der Angeklagte in Zuhälterkreisen
zu verkehren pflegt, mehrfach aus § 181 a vorbestraft ist und seiner Per¬
sönlichkeit nach als typischer Zuhälter anzusehen wäre, so wäre dadurch
sein Verhalten im vorliegenden Fall noch keineswegs als „Ausbeutung“
gekennzeichnet. Es geht also zu weit, wenn Bockeimann ®4) dieser Aus¬
beutungshandlung nicht einmal symptomatische Bedeutung beimißt. Um¬
gekehrt ist vielmehr Klee darin beizutreten, daß jemand Zuhälterei be¬
geht, der zu der Dime hält, sie wirklich, als solche ausbeutet, ohne daß
es darauf ankommt, ob er auch im übrigen die typischen Züge eines Zu¬
hälters aufweist®®). Strafbar macht sich auch der junge Bursche, der
sich von einer Dime die Berufsausbildung bezahlen läßt®®), an der er
ehrlich arbeitet. Die Strafe knüpft auch bei § 181 a an ein bestimmtes
Verhalten an, dem allerdings eine gewisse Dauer eigen ist, weil es sich
zusammensetzt aus den Begriffen der „Ausbeutung“ und des „Beziehens
von Lebensunterhalt“. Wollte man sich auf den Standpunkt stellen, § 181 a
richte sich gegen einen kriminologischen Tätertyp, so würde den Merkmalen
der Ausbeutung und der Schutzgewährung lediglich eine indizierende Be¬
deutung für die Entartung der individuellen Persönlichkeit zukommen,
während die vom Gesetz getroffene Unterscheidung zwischen ausbeute¬
rischer und kupplerischer Zuhälterei ihren Sinn verlieren und im Tätertyp
untergehen würde. Das Urteil hat die ausbeuterische Zuhälterei zum
Gegenstand. Es legt aber darauf Gewicht, daß der Angeklagte der Dirne
bei der Ausübung ihres Gewerbes behilflich gewesen sei, will also offenbar
die erste Art von Zuhälterei durch das Vorliegen von kupplerischer Zu¬
hälterei beweisen, soweit diese einen Schluß auf das kriminologische Täter¬
sein zuläßt — ein nicht ganz korrektes Verfahren, da ja nach Ansicht des
RG. auch dem Merkmal „Ausbeutung“ keine selbständige Bedeutung
51) RGSt. V. 30. 1. 1940, = DR. (A) 1940, S. 4954 hült diesen Standpunkt aufrecht,
82) Auch Bockelmnnn, „Täterstrafrecht“, II S. 66 ff. und Koblrauscb,
StOB., S 181 b, 1, sehen in $ 181a einen kriminologischen Tätertyp unter Strafe gestellt.
' 53) K 1 e e , DStrR. 1940, S. 100 f. : H. Mayer, ÜStrR. 1939, S. 105.
54) ,.Täterstrafrecht“, II S. 57.
55) DStrR. 1940. S. 99.
50) Ebenso H. Mayer. DStrR. 19.39. S. 105; Dnhm, ,.Tätertyp", S. 17,
Nagler, US. Bd. 114 S. 143.
238
zukommen dürfte (dagegen mit Recht Klee, DStrR. 1940, S. 98 f.). D a h m
stimmt mit der Ablehnung des Urteils sachlich in allen Punkten überein &'?),
weil er ebenfalls davon ausgeht, daß § 181 a StGB, keinen kriminologischen
Tätertyp aufstellt. Es ist deshalb nicht recht verständlich, daß er von
einer „sonst ausgezeichneten Begründung“ spricht. Offenbar ist D a h m der
Meinung, daß die Entscheidung wenigstens grundsätzlich den von ihm
vertretenen generellen Tätertyp anerkenne. Die Begründung läßt aber
keinen Zweifel zu, daß sie lediglich den kriminologischen Tätertypus im
Auge hat und gerade dadurch die D a h m sehen Einwendungen erst möglich
werden und begründet sind 58). Spätere Entscheidungen nehmen allerdings
einen anderen Standpunkt ein. Das gilt vor allem für die Rechtsprechung
zur Volksschädlingsverordnung und zur Gewaltverbrecher-Verordnung. In
seinem Urteil vom 20. Mai 1940 59) setzt sich das Reichsgericht zum ersten¬
mal mit dem Tätertyp des Volksschädlings auseinander w*).
Die Veranlassung bildete folgender Fall:
Der Lenker eines Kraftwagens verursacht einen Unfall, leistet dem
Verletzten aber keine Hilfe, sondern entzieht sich der Feststellung durch
die Flucht. In Frage steht die Strafbarkeit des Mitfahrers. Dieser tut
nichts, um den Lenker zum Halten zu veranlassen. Einem Radfahrer, der
die Insassen zum Halten auffordert, schlägt er die Tür „vor der Nase“ zu.
Er hoffte, infolge der Verdunklung zu entkommen. Der Angeklagte wurde
wegen unterlassener Hilfeleistung in Verbindung mit § 2 VSchVO. ver¬
urteilt. Das RG. zieht also den Verstoß gegen § 330 c StGB, in sinn¬
gemäßer Auslegung des § 2 unter die VSchVO., obgleich sich das Ver¬
gehen nicht unmittelbar gegen Leib oder Leben, sondern gegen die ge¬
nossenschaftliche Hilfeleistungspflicht richtet. Wichtig aber ist in diesem
Zusammenhang, daß die Begründung fordert, der Angeklagte müsse seiner
ganzen Persönlichkeit nach dem Tätertyp des Volksschädlings entsprechen.
Damit kann in diesem Falle nur der generelle Tätertyp D ahm scher Prägung
gemeint sein, da der Angeklagte bisher unbestraft ist Es wird ausdrück¬
lich betont: daß er nach seinem Vorleben keine verbrecherische Persönlich¬
keit sei, hindere nicht, ihn wegen der begangenen Straftat als Volksschäd¬
ling anzusehen. „Ist der Tatbestand des § 2 in allen seinen Merkmalen
einwandfrei festgestellt, so wird in der Regel das Gesetz gegen den Täter
auch dann anzuwenden sein, wenn er im übrigen keine Verbrecherpersön¬
lichkeit ist“. Im gleichen Sinne äußern sich: RGSt. vom 30. Mai 1940 61)
und das LG. Mainz in seinem Urteil vom 12. Juli 1940 62). Unzulänglich
sind allerdings die Versuche, diesen vermeintlich bestehenden generellen
Tätertypus näher zu beschreiben. Die Entscheidung DR. 1940 S. 1420
fordert, daß der Täter durch seine Tat gezeigt habe, daß er der Volks¬
gemeinschaft feindlich gegenüberstehe, die Kriegsverhältnisse selbstsüchtig
ausnütze und als Volksschädling anzu.sehen sei 63). in DR. 1940 S. 1422
stellt das RG. ergänzend fest, der Angeklagte müsse sich von der „Wesens¬
art des Volksschädlings“ erweisen, betont aber in DR. 1941 S. 327 f (mit
Anm. vom Mittelbach), daß sich dies schon aus der besonderen Schwere
67) ZAKDR. 1940. S. 52S.
58) Klee. DStrR. S. 99/100 (1940).
59) ZAKDR. 1940, S. 226 ff. m. Amn. von N a k 1 e r = DR. (A) 1940, S. 1420 ff.
jnit Anm. von D a h m = DJ. 1940, S. 853. Dazu feiner D a h m , ,,Tütertyi>". S. 62 ff.
00) Seitdem hat das RG. die hier interearierenden Gedanken oft in gleicher oder
ähnlicher Formulierung wiederholt.
Oi) Zu i 4 VSchVO; DR. 1940, S. 1422«.
OS) Dt. Just. 1940, S. 1149.
03) Diese Formulierung definiert den Begriff nicht, sondern setzt ihn voraus.
der Einzeltat ergeben könne, ln anderen Urteilen werden hoch deutlicher
für die Volksschädlingseigenschaft Umstände für maßgebend erklärt, die
außerhalb der Tat liegen und eine Charakterisierung im Sinne des Hang¬
verbrechers darstellen. So wird vielfach abgestellt auf die bisherige
Lebensführung, auf Vorstrafen und die verbrecherische asoziale Gesin¬
nung 8^). Ebenso irreführend ist die Bezugnahme der Entscheidung ZAKDR.
1940 S. 226 auf RGSt. 73/183 f, den Verbrechertyp des gefährlichen Ge¬
wohnheitsverbrechers (§§ 20 a, 42 e StGB) und des gefährlichen Sittlich¬
keitsverbrechers (§ 42k StGB). Während also das RG. im Rahmen
der VSchVO. auf dem Standpunkt eines vermeintlich
bestehenden „generellen“ Tätertyps steht, führt es
zu dessen näherer Beschreibung Merkmale auf, die
offensichtlich dem kriminologischen Typus entlehnt
s i n d 68). Genau der gleiche Widerspruch läßt sich mit derselben Deutlich¬
keit in der Rechtsprechung zur Gewaltverbrecher-Verordnung nachweisenß«).
Diese Tatsache kann nicht überraschen, da es ja nur einen kriminolo¬
gischen, nicht aber einen „generellen“ Tätertyp gibt. Insofern bedeutet die
Rechtsprechung eine Bestätigung unserer oben entwickelten Auffassung.
Es erscheint jedoch zur Vermeidung weiterer Unklarheiten dringend ge¬
boten, daß die Rechtsprechung zukünftig auf Äußerungen, die in der
Richtxmg des kriminologischen Tätertyps liegen, verzichtet. Von da aus
wird es nicht mehr weit sein bis zu der Erkenntnis, daß es einen generellen
Tätertyp im eigentlichen Sinne gar nicht gibt. Ein Abgleiten auf den
kriminologischen Tätertyp läßt sich auch im Schrifttum feststellen. Nach
Freister richtet sich die Gewaltverbrecher-Verordnung „vor allem“ gegen
den sogenannten „Gangster“ im Sinne des berufsmäßigen Bandentäters 67).
Diesem Gewohnheitsverbrecher stellt er den Gangster ,4n weiterem Sinne“
an die Seite, der bisher noch nicht straffällig geworden ist und auch nicht
den Willen zur Begehung weiterer Taten zu haben brauche. Gleispach
betrachtet die drei in § 1 GV-VO. beispielsweise aufgeführtenVerbrechen
als Ausfluß einer konstanten gewalttätigen Natur des Täters 68). Diese
Auffassung läßt sich jedoch nicht halten, da die Notzucht keineswegs eine
außerhalb des Tatbestands bestehende persönliche Entartung voraussetzt.
Es erscheint sehr zweifelhaft, ob überhaupt eine tätertypologische
Auslegung der VSchVO. und der GV-VO. möglich ist. Bezeichnend ist,
daß trotz mancher Anklänge an den kriminologischen Tätertyp eine Be¬
schränkung der Verordnungen auf den typischen Hangverbrecher allgemein
abgelehnt wird 69). Andernfalls würde die Schlagkraft des Kriegsstrafrechts
ungerechtfertigt gelähmt, da es unmöglich wäre, eine noch so verwerfliche
Tat nach den neuen Bestimmungen zu bestrafen, wenn sie im übrigen nicht
zum Täter paßt. Dazu kommt, daß es einen einheitlichen kriminologischen
84) RG. in DR. 1940, S. 1422 8, 1423T mit Anm. von Mittelbach ; Dt. Just.
1940, S. 1149 und 1169.
65) Ebenso Niederreuther, Dt. Just. 1941, S. 389.
66) Besonders Sondergericht Klagenfurt in DR. (A) 1941, S. 579 flf. mit zust.
Anm. V. Boldt ; vgl. im übrigen: RG. in DR. (A) 1940, S. 361 f.. Dt. Just. 1941,
S. 313 u. Bes. Strafsenat in Dt. Just. 1940, S, 69 f.
87) P r e 1 8 1 e r , Dt. Just. 1939, S. 1862.
88) Graf Gleispach, „Das Kriegsstrafrecht", I S. 26 f. zust. M e z g e r ,
DR. 1940, S. 628.
89) Nagler, GS. Bd. 114 S. 204 Anm. 42 u. S. 222 (T.; Klee, ,,Zur Bedeutung
der Gewaltverbrecher-Verordnung für das Strafsystem und die gesetzgeberische Methodik“,
DR. 1940, S. 350 f.; N ü s e , ,.Der Tätei-typ im Kriegsstrafrecht", Dt. Just. 1941, S. 359:
Mitteibach, ..Der Tfttertyp im Kriegsstrafrecht“. DR. (A) 1941, S. 237 ; Bockei-
mann, ZAKDR. 1940, S. 311 : Schwarz. Z.4KDR. 1941, S. 108, a. A. W e 1 z e 1 ,
,,Grundzüge“, S. I2S f. für den Gewaltverbrecher.
240
Tätertyp auf diesem Gebiet gar nicht gibt. Für den Gewaltverbrecher hat
dies Klee bereits zutreffend nachgewiesen'?<>). Vom Volksschädling gilt
dasselbe. Offensichtlich ist dies für diejenigen, die in §§ 2, 4 VSchVO.
nur Strafschärfungsvorschriften sehen 71). Ein Verstoß gegen §§ 2, 4 ist
danach ein Verstoß gegen den Grundtatbe.stand, d. h. eine besonders ver¬
werfliche Unterschlagung, Körperverletzung, Tötung usw. in Verbindung
mit einer Ausnutzung der Kriegsverhältnisse (Verdunkelung). Die Be¬
stimmungen umfassen daher eine große Zahl von Verbrechertypen, stellen
jedoch selber keinen eigenen Typus dar. Ähnlich liegt es jedoch auch für
diejenigen, die sowohl § 2 wie § 4 als delictum sui generis betrachten,
weil sie den Unrechtsgehalt der Grundtaten nicht nur erhöhen, sondern
seiner Art nach verändern 72). Mag man dieser Ansicht zustimmen, so be¬
steht doch ein erheblicher Unterschied, ob A unter Ausnutzung der Ver¬
dunkelung einen Diebstahl oder eine Körperverletzung begeht. Das aus
den Grunddelikten stammende Unrecht differenziert also den Unrechts¬
charakter der Volksschädlingstaten und in dem gleichen Maße der ent¬
sprechenden Tätertypen. Äußerlich kommt das schon darin zum Ausdruck,
daß auch die Grundtat in der Urteilsformel zu nennen ist 73). Das einzige
typisierende Merkmal, das allen Tätern gemeinsam ist, stellt die Aus¬
nutzung der besonderen Kriegsverhältnisse dar. Gerade auf diesen Um¬
stand kommt es jedoch in diesem Zusammenhang niemand an 74)^ weil die
Aufstellung des Volksschädlingstyps gerade zur Ausscheidung solcher Taten
dienen soll, die zwar äußerlich unter die Tatbestände der §§ 2, 4 VSchVO.
fallen, aber dennoch noch nicht zuchthauswürdig erscheinen. Danach ver¬
körpert auch der Volksschädling keinen kriminologischen Tätertyp.
Eine Auslegung des Kriegsstrafrechts im Sinne des „generellen“
Tätertypus ist aber schon deshalb unmöglich, weil es einen solchen
gar nicht gibt. Das befreit allerdings nicht von der Notwendigkeit
einer Prüfung, ob nicht die weiten Tatbestände der VSchVO.
und der GV-VO. einer Einschränkung bedürfen. In den Be¬
mühungen, dieses Ergebnis zu erreichen, hat sich für das RG. die
Bedeutung des „generellen“ Tätertypus bisher erschöpft. Es will offenbar
auf diesem Wege eine Begrenzung des Tatbestandes erreichen, wie dies
z. B. in anderer Form bei der Untreue, Erpressung und überall dort ge¬
schehen ist, wo die Handlungsbeschreibung als zu weit empfunden wurde.
Das Reichsgericht ging davon aus, daß Fälle auftreten können, in denen
eine Verurteilung „weder der Absicht des Gesetzgebers, noch dem gesunden
Volksempfinden“ entspricht7»), und fordert deshalb eine solche Verwerflich¬
keit des Handelns, daß der Täter „bei Berücksichtigung aller Umstände der
Tat nach gesundem Volksempfinden mindestens eine Zuchthausstrafe ver¬
dient“ 70). In der Tat scheint es dem Willen der Volk.sführung zu wider-
T») DR. (A) 1940, S. 360 (T.
Tl) Nagler, ZAKDR. 1940, S. 365 ff., 383 ff.; Kohl rausch, StGB.
35. Aufl. S. 759.
72) F r e i 8 I e r . Dt. Just. 1940, S. 883 ff., 1917 ff.: N ü a e , ..Das Krlegsstraf-
recht und Kriet^sstrafverfahren“. S. 26 ; L. S c h ä f e r , ..Die Arbeit der SonderKcrichte
in der Kriejoiaeit“. S. 28; Wächter, Dt. Just. 1940. S. 477 ff.
73) RG. in DU. 1940. S. 1421.
74) Deutlich tritt dies bei N ü s e — Dt. Just. 1941, S. 359 f. — hervor. Er will
einen Einbruchsdiebstahl, der nicht unter AusnutzunK der Verdunkelung;, sondern nur
während der Dunkelheit begangen wurde, mit Hilfe de.s Tatertypus antilog Ü 2 VSchVO.
bestrafen,
76) Dt. Just. 1940, S. 1149.
70) DR. 1941. S. 327 f.
241
sprechen, auf jede harmlose Nötigung oder Körperverletzung das Kriegs¬
strafrecht anzuwenden. Der Rückschluß von der Höhe der Strafdrohung
auf die Schwere der davon ergriffenen Straftat bestätigt dies 77).
Das Ergebnis läßt sich jedoch nicht durch tätertypologische Er¬
wägungen, sondern nur auf dem Boden des Tatgedankens unter Berück¬
sichtigung des im Gesetz hervortretenden Schutzzwecks erzielen. An¬
haltspunkte für eine Begrenzung der Haftung bieten in der Gewalt¬
verbrecher-Verordnung die „Schwere“ der Straftat, in der Volksschädlings-
Verordnung die Höhe der Strafdrohung und der in § 4 enthaltene Hinweis
auf das gesunde Volksempfinden und die besondere Verwerflichkeit der Tat.
In Umkehrung des § 2 StGB, ist ferner von einer Bestrafung abzusehen,
wenn die Tat zwar formal von der Tatbestandsumschreibung erfaßt wird,
ihre Strafbarkeit aber nicht dem Grundgedanken des Gesetzes in Ver¬
bindung mit dem gesunden Volksempfinden entspricht 78). Auf das un¬
klare Gebilde des „generellen“ Tätertypus kann es dagegen nicht ankommen.
Das Reichsgericht wird in Fortsetzung seiner altbewährten Praxis feste
Grundsätze herauszuarbeiten haben, die für einen längeren Zeitraum die
gleichmäßige Entscheidung gleichliegender Fälle gewährleisten.
Soziale EiDgliederjing und Prognose aus dem
Jugendgefängnis Entlassener.
von Prof. Dr, Adalbert Gregor und Dr. Albert Zink, Heilbronn/N.
Das rege Interesse, welches die Reichsjustiz jugendlichen Kriminellen
entgegenbringt und das sich sowohl in der Gesetzgebung als auch im
Strafvollzüge äußert, fordert geradezu die Prüfung des weiteren Schick¬
sales und Verhaltens von Gefangenen nach ihrer Entlassung heraus. Es
erscheint nicht angebracht, hier erst weitere Zeiträume abzuwarten, um
zu sicheren Schlüssen zu gelangen. Solche können vielmehr dadurch
gewonnen werden, daß in angemessenen Zeitabschnitten fortlaufend Unter¬
suchungen vorgenommen werden, die sich schließlich zu einem Gesamtbilde
fügen. Aus dieser Überlegung heraus haben wir uns entschlossen, mit un¬
serer Untersuchung einen Vorstoß zu unternehmen, um die Diskussion zu
eröffnen und weitere Untersuchungen anzuregen, da dieses weite Feld
wissenschaftlicher Tätigkeit von verschiedenen Seiten bearbeitet werden
muß.
Da 1937 die heutige Einrichtung unserer Jugendgefängnisse erfolgte,
lag es nahe, 1940/41 eine Bearbeitung der im Laufe des Jahres 1937
Entlassenen vorzunehmen. Einmal, weil die erste Zeit nach der Entlassung
als besonders kritisch bekannt ist, und zum zweiten, weil jetzt noch die
Zeit bis zum Kriegsausbruch bzw. zum Eintritt in den Heeresdienst am
besten überblickt werden kann, während nach dem Kriegsende dieser
Abschnitt einer Beurteilung schwerer zugänglich sein dürfte.
Mindestens ebenso wichtig wie die Kenntnis des weiteren Verhaltens
von früheren Gefangenen ist die Sammlung von Erfahrungen über die
77) N a K I e r , GS. Bd. 114 S. 139 Anm. fi.
7S) VkI. dazu die Polemik Freisler—Klee—Kreisler betr. einen Fall ..verständlicher
TötunK”. die in unserm ZiisammenhanB besondere Bedeutung gewinnt. — DStrR. 1941
lieft 5/6 —.
2
242
Grandla^n der Pro^osesteliung sowie über die Wirksamkeit der GefilngTils-
pädagogik, welche am besten durch die Prüfung des Dauererfolges kon¬
trolliert werden kann.
Die Prognose bei jungen Strafgefangenen stellt eine schwierige,
bisher noch nicht ausreichend diskutierte Frage. Als Kernpunkt der
Prog^osestellung muß die charakterologische Beurteilung der Persönlich¬
keit gelten. Das von Amerika durch S c h i e d t vermittelte Punktsystem
hat den Wert, Stützpunkte von z. T. äußerlicher Art hervorgehoben zu
haben. Allein die Prognosestellung kann niemals zu einem so mechanischen
Akt herabgedrückt werden, wie es die reine Anwendung des Punktsystems
bedeutet. Gehen wir aber bei jungen Strafgefangenen in der Prognose von
der charakterlichen Beurteilung aus, so begeben wir uns auf ein außer¬
ordentlich schwieriges Gebiet. Nur bei einer verhältnismäßig geringen Zahl
junger Gefangener finden wir scharfe Züge au.cgeprägt. Bei verwahrlosten
Mädchen wurde für das im Beginn der Anstaltserziehung vorliegende
seelische Bild von Anna und Adalbert Gregor*) der Ausdruck
„charakterologisches Chaos“ geprägt, welche Bezeichnung auch für manche
männliche Gefangene bei der Einlieferung in das Jugendgefängnis zu¬
trifft. Aber auch wenn im Laufe der Strafzeit eine Klärung und Beruhigung
eintritt, ist es nicht leicht, festere charakterologische Linien aufzufinden.
Richtungsschwankungen und charakterologische Antinomien bilden eine
häufige Erscheinung und ein Dominanzwechsel der bestimmenden Strebungs¬
momente ist vielfach zu beachten. Trotzdem wird man sich nicht davon
abhalten lassen, auf die charakterologisch begründete Prognose zu verzichten,
sondern muß zu einer immer größeren psychologischen Vertiefung fort¬
schreiten, um positive und negative Instanzen für die prognostische
Bewertung klar herauszuarbeiten. Zu den genannten Schwierigkeiten
treten aber bei jüngeren Gefangenen meist unsichere Milieuverhältnisse.
Findet im günstigsten Falle eine Entlassung in ein gutes Elternhaus statt,
dann ist mit der im Wesen der Entwicklung gelegenen Ablösung und
Verselbständigung des jungen Menschen zu rechnen und es folgt das Ehe¬
problem mit allen seinen Konsequenzen. Während erwachsene Gefangene
ihren Beruf meist fortsetzen, haben wir es bei jüngeren vielfach mit neuer
Berufswahl zu tun. Die meisten derselben bedürfen nach der Entlassung
sicherer Stützen und es hängt wesentlich von den Umweltbedingungen der
Fürsorge und Beaufsichtigung ab, ob die im Jugendgefängnis meist ange¬
bahnte Besserung erweitert wird. Schon aus diesen Momenten wird er¬
sichtlich, auf welche Schwierigkeiten die Prognosestellung stößt. Das
Jugendgefängnis befindet sich hier in einer viel ungünstigeren Lage als die
Fürsorgeerziehungsanstalt, welche erst dann zur Entlassung schreitet, wenn
begründete Aussichten auf ausgiebige Besserung vorliegen. Demgegenüber
waren vor der Einführung der unbestimmten Verurteilung die Fristen,
welche der Gefängnispädagogik zur Verfügung standen, in den meisten
Fällen zu kurz, um eine Änderung der Charakterkonstellation zu bewirken.
Bei Jugendlichen ist zwar oft die Möglichkeit des Überganges in Anstalts¬
fürsorgeerziehung gegeben, allein die Umschaltung enthält neue Gefahren.
So kommt man tatsächlich vielfach nicht über die Feststellung von Aus¬
sichten auf Besserung hinaus, die Prognose bleibt dann zweifelhaft und
unsicher oder nur im Hinblick auf die Durchführung der vorgeschlagenen
Maßnahmen bedingt günstig.
1) Gregor A. u. A. Zur moralißchen Entwicklung weiblicher Fürsorge-
zöglinge in der Anntaltserzlehung. Zft. f. Kinderforschung Bd. 43. 1. u. 2. Heft 1983.
Wir kommen so 2U der Annahme, daß der Dauererfolg des Jugend¬
strafvollzuges hinter jenem der Anstaltsfürsorgeerziehung Zurückbleiben
muß, obzwar das Material große Ähnlichkeit besitzt. Noch ungünstiger ist
aber die Lage des Jugendrichters, der vor Einführung des Jugendarrestes und
der unbestimmten Verurteilung mit seinem Urteil den Fall meist völlig
aus der Hand gab. Wir müssen daher a priori eine Stufenfolge des Erfolges
erwarten, wobei dem Jugendstrafvollzug die Stelle zwischen Jugendgericht
und Anstaltsfürsorgeerziehung anzuweisen wäre. Über das weitere Schick¬
sal der vom Jugendgericht behandelten Fälle brachte in jüngster Zeit die
Arbeit von Silbereisen Aufschluß, während Vogel die Erfolge der
Fürsorgeerziehung gewissenhaft untersucht hat. Ein Vergleich mit den
Ergebnissen dieser Untersuchungen soll am Schlüsse der Arbeit statt¬
finden.
Zur Methodik unserer Untersuchung ist nachstehend zu bemerken:
Wir stellten uns die Aufgabe, die im Jahre 1937 entlassenen Gefan¬
genen zu erfassen, nachdem sie 3—4 Jahre in der Freiheit gelebt hatten.
Als Material dienten uns jene Fälle, die eine Strafe von mindestens 1 Monat
zu verbüßen hatten und aus dem Strafvollzug entlassen wurden. Dagegen
sahen wir von jenen Gefangenen ab, welche von hier in andere Gefängnisse
überwiesen wujrden. Es ergab sich eine Zahl von 397 Gefangenen als
Gegenstand der Untersuchung. Für jeden Fall wurde eine Zählkarte an¬
gelegt, in welche die für uns wichtigen Feststellungen über die Persön¬
lichkeit aus den Akten des Gefängnisses eingetragen wurden. Diese ent¬
hielten einen Strafregisterauszug, eine Urteilsabschrift, einen Aufnahme¬
befund des Gefängnisleiters, des Arztes und des Fürsorgers, Berichte der
.4ufsichtsbeamten über Verhalten, Arbeitsleistung und über auffällige
Beobachtungen, endlich ein bei längerer Strafdauer ausführliches Abgangs¬
gutachten. Dieses stammte in einem großen Teil der Fälle von Dr. Zink,
dem die Gefangenen als Fürsorger und Seelsorger persönlich bekannt
waren. Oberlehrer Kleiner, der die meisten der katholischen Straf¬
gefangenen betreute, konnte uns aus seinen persönlichen Notizen vielfach
wertvolle Aufschlüsse geben. Frau Anna Gregor sind wir für ihre
ständige Mitwirkung bei unserer Arbeit zu besonderem Danke verpflichtet.
Zur Orientierung über den weiteren Ausgang des Falles dienten uns
die Erhebungen des Strafregisterauszugs über die im Gefängnis verbrachte
Zeit hinaus und Nachforschungen der NS.-Volkswohlfahrt über das soziale
Verhalten der Entlassenen. Nötigenfalls wurden auch polizeiliche Fest¬
stellungen veranlaßt. Ausgeschieden wurden 1 unschuldig Verurteilter, 10
Verstorbene (die nicht rückfällig waren), 1 Tuberkulöser in Heilstätten¬
behandlung, 14 Ausgewanderte und Vermißte, ferner 6 Fälle, in denen die Er¬
hebungen zu keiner eindeutigen Beurteilung führten, auch wenn der Straf¬
registerauszug keine weiteren Strafen enthielt. Da letzteres bei einem
großen Teil (28) der ausgeschiedenen Fälle (32) zutraf, fand keine
positive Auslese statt.
Als günstig wurden jene Ausgänge bewertet, bei denen neben Mangel
weiterer Strafen einwandfreies soziales Verhalten gemeldet wurde. Un¬
bedeutende Bestrafung mit Haft oder mit einer Strafe, die weit unter der
ursprünglichen lag, wurde bei sonst guter Führung zu den günstigen
gezählt. Die Zahl der leicht Bestraften war bei den guten Fällen aber
äußerst gering. Als gebessert bezeichneten wir jene Fälle, die straflos
blieben oder nur eine unbedeutende Strafe erhielten, deren Führung aber
nicht einwandfrei war.
244
Im folgenden bedienen wir uns einer wohl allgemein verständlichen
Nomenklatur, Einer Bemerkung bedarf nur die charakterologische Typen¬
bezeichnung. Wir halten es nicht für zulässig, bei minderjährigen oder
unreifen Persönlichkeiten von Gewohnheits- oder Zustandsverbrechem zu
sprechen. Demgegenüber ist besonders geltend zu machen, daß die bei jungen
Verbrechern vielfach bestehende Verwahrlosung das Moment gewohnheits¬
mäßiger Verfehlungen enthält^), ohne daß dieser temporäre Zustand dem
Begriff des Gewohnheitsverbrechers gleichgesetzt werden darf. Deshalb
haben wir zwischen Gelegenheits- und Anlageverbrechem unterschieden.
Unter krimineller Anlage verstehen wir dabei eine psychische Konstitution
als dauernde Ursache von Verbrechen. Man denke dabei etwa an Gemüts¬
armut oder Willensschwäche.
Daneben scheint uns der von G r e g o r 3) in die Nomenklatur der
Verwahrlosung eingeführte Ausdruck „moralisch minderwertig“ zur
Betonung der kriminellen Note angebracht. Er bezeichnet nicht nur die
spezielle Form der Gemütsarmut als Mangel moralischer Gefühle, sondern
auch die kriminelle Entwicklung und ihre Rückwirkung auf den Charakter.
Der Ausdruck „Haltlosigkeit“ erscheint angebracht, um offensichtlich
abnorme Persönlichkeiten zu bezeichnen, bei denen eine Ableitvmg des
asozialen Verhaltens von einer der bekannten Grundstörungen nicht
möglich ist. Als eine solche können wir nach den grundlegenden Unter¬
suchungen von Lindworsky*) die Willensschwäche nicht ansprechen.
Wenn wir im folgenden diesen Terminus verwenden, so folgen wir dem jetzt
geläufigen Sprachgebrauch. Psychologisch richtiger erscheint die von
G r e g o r 5) eingeführte Bezeichnung „moralische Schwäche“, wenn man
im Sinne der Ethik Pflichtbewußtsein als einen Bestandteil des Charakters
auffaßt.
Gemäß unserer Fragestellung wird in der folgenden Darstellung des
Materials Art des Ausganges und Prognosenstellung besonders hervortreten.
I. Gelegenheitsdelikte mit gutem Ausgang und günstiger
Prognose (146 Fälle)
Die Fälle dieser Gruppe zeigen nach Art der Delikte, Höhe der Strafe
und Zustandsbild bei der Einlieferung vielfach einen ernsten Aspekt.
Genauere Untersuchung ergab aber Überwiegen von Milieuschädigung
gegenüber krimineller Belastung, geringe Vorstrafen, selten Verwahrlosung
und keine ominöse Form von Psychopathie. Im Charakterbilde zeigten
sie positive Züge, die als guter Kern gewertet wurden, insbesondere
Gefühlswärme oder mindestens Fähigkeit der Gefühlsentwicklung, Reue,
Strafeinsicht, Besserungswillen, auf positive Ziele gerichtetes Streben, wie
Fleiß und Arbeitslust,
Die gegebene Charakteristik der Fälle läßt anscheinend wenig Raum
für kriminelles Handeln. Es ist darum verständlich, daß CIostermann®)
2) O r e 8 o r , VerwahrlosunK- Enzyclopäd. Handbuch des Kinderschutzes u. der
Jueendfürsorge von Clostermann, Heller, Stephani, Leipzig 1930.
3) Gregor-VolBtländer, Die VerwahrlosunR. Berlin 1918.
Gregor, Leitfaden der Fürsorgeerziehung. Berlin 1924.
4) Lindworsky, J. Der Wille. Leipzig. 1923.
b) Gregor-Voigtländer, Die Verwahrlosung. Berlin 1918.
tj) Clostermann, L. Der Jugendrichter als Erzieher. Das junge Deutsch¬
land. Heft in. 1941.
245
für eine Kategorie von jugendlichen Delinquenten den Ausdruck „anti-
kriminell“ vorgeschlagen hat, statt dessen wir hier den uns präziser
erscheinenden „akriminell“ zur Bezeichnung des gleichen Tatbestandes
verwenden wollen. Die hervorgehobenen günstigen Seiten der Persönlich¬
keit wurden bei unserem Materiale vielfach erst während des Strafvollzuges
greifbar, dem aber auch schon fördernde Momente wie Untersuchungshaft
oder Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt, sowie der Eindruck bzw. der
Schock der Hauptverhandlung^) vorangegangen waren. Die positiven
Seiten waren aber jedenfalls vorhanden, während sie früher, also zur Zeit
der Tat, von anderen überdeckt wurden oder zurücktraten, denn es macht
ja gerade das Wesen des Gelegenheitsdeliktes aus, daß dabei eine vorüber¬
gehende Schwankung der moralischen Haltung vorliegt. Die einzelnen,
dabei wirksamen Faktoren werden durch die Gruppen, in die sich die
Gelegenheitsdelikte unseres Materials aufspalteten, beleuchtet. So tritt
die erwähnte Schwankung des moralischen Gleichgewichtes besonders bei
den Pubertätsfällen in Erscheinung, bei denen die moralische Haltung durch
die psychophysischen Umschichtungsvorgänge gestört wird und Einzel¬
züge, wie sexuelle Regungen, Geltungsdrang, Unternehmungslust, Streben
nach Ungebundenheit, vorübergehend das seelische Feld beherrschen und
zu Entgleisungen des Handelns führen.
Bei den Pubertätsdelikten (47) dominiert das Sittlichkeitsverbrechen
(30). Bemerkenswerterweise war in einzelnen Fällen derselben erbliche
Belastung festzustellen, wie 4mal Abstammung von einer leichtsinnigen
Mutter, uneheliche Geburten, in einem Falle Bestrafung des Vaters wegen
Kuppelei. In 12 Fällen von Sittlichkeitsvergehen als Pubertätsdelikt waren
exogene Schädlichkeiten am Zustandekommen derselben beteiligt. Es
konnten Verführung, schlechtes Beispiel der Umgebung, endlich auch
Erziehungsfehler als Teilursachen festgestellt werden.
In großem Umfang fanden wir einen entscheidenden äußeren Ein¬
fluß auf die moralische Haltung bei einer Charakteranlage, die dem
Durchschnitt der normalen Persönlichkeiten entsprach. In einem Falle
war das Delikt von fahrlässiger Tötung durch Alkoholeinwirkung bedingt,
in 4 Fällen lagen Notdiebstähle vor, in 15 Fällen hatte Umgang mit
schlechten Kameraden zum Delikt geführt. Eine besondere Gruppe bildet
auch hier wieder die Verführung zu Sittlichkeitsvergehen- In 9 Fällen ist
das Verbrechen aus dem kommunistischen Milieu erwachsen, in dem dfer
junge Mann lebte. In 19 Fällen trug am Zustandekommen des Deliktes das
häusliche Milieu die Schuld.
Hinsichtlich der psychischen Konstitution stellen sich die Glieder dieser
Gruppe wie folgt dar:
psychisch intakt . 118
psychopathi.sch . 24
debil . 4
146
7) G r e tr o r , A. Zur psychischen Hygiene des Gefangenen. (Die Baupt-
verhandlung). Zft. f. psych. Hygiene, Bd. 9 Heft 1. 1936.
24G
18
1
2
1
2
4
1
Unter den seelisch normalen Fällen (118) entspricht eine Gruppe von 46
Fällen charakterologisch, speziell auch moralisch dem normalen Durchschnitt.
Diese Fälle können daher als akriminell bezeichnet werden. Die übrigen
72 boten Charaktermängel, die ihrem Ausmaße nach nicht als abnorm
gelten konnten, aber immerhin eine Ursache der Kriminalität abgaben. Im
einzelnen stellen sich diese Charaktermängel wie folgt dar:
selbstunsicher . 1
brutal . 1
triebhaft. 8
oberflächlich, leichtsinnig, unreif, haltlos ... 36
moralisch (willens-) schwach . 26
T2
Wir konnten nach Art und Größe dieser Charakterfehler in ihnen
kein bleibendes Merkmal und keine konstante Disposition zum Verbrechen
erkennen. Man konnte sich auch durch den Verlauf überzeugen, daß die
Gefängniserziehung dabei im besonderen Maße bessernd und ausgleichend
wirkte, so daß eine gute Prognose gestellt werden konnte, welche sich auch
verwirklicht hat.
Eine Zusammenstellung bezeichnender Merkmale der Gruppe bringt
Die Psychopathen gehören nachstehenden Formen an:
haltlos.
willensschwach .
selbstunsicher .
depressiv .
stimmungslabil ..
explosibel .
triebhaft.
Art des Deliktes
(Hauptstrafe)
Diebstahl . 29
schw. Diebstahl . 18
Raub . 3
Betrug n- Urkunden-
f^schung. 9
Wilderei . 2
Sachbeschädigung ... 2
Erpressung . 2
Münzfälschung . 1
Hausfriedensbruch 1
Falsch- u. Meineid 2
Amtsanmaßung . 1
Sittlichkeitsverbr. ... 66
Beleidigung. 1
Körperverletzung ... 4
versucht. Tot.schlag 1
fahrlässige Tötung 3
Vorher, z. Hochverrat 9
andere polit. Del. ... 1 Allgemein belastet . 19
Landfriedensbruch 1 kriminell „ . 4
Heimtücke . 1 gleichsinnig .. . 7
Summe: 146 Summe: 30
247
Zu den Fällen, bei denen die Nachforschung über das fernere
soziale Verhalten ein günstiges Ergebnis zeitigte, gehören sämtliche im
Lauf des Jahres 1937 entlassenen Gefangenen, die wegen Vorbereitung des
Hochverrates bestraft waren. Sie stellen, verglichen mit den Zahlen der
Vorjahre, eine nur kleine Gruppe (9) dar. Heute, in einer Zeit, da die
Jugend nicht mehr in das Gewühl innerpolitischer Kämpfe verwirrt ist, in
einem gefestigten Staatsgefüge aufwächst und von einer zielbewußten
Jugendführung frühzeitig in nationalsozialistischer Denkweise verankert
wird, ist der politische Häftling im Jugendgefängnis eine Erscheinung, die
bereits der Geschichte angehört.
Das Lebensalter lag bei 8 Vertretern dieser Gruppe zwischen
19 und 21 Jahren; nur 1 zählte 24 Jahre, als er in unsere Anstalt kam. Die
Straftaten bestanden samt und sonders in der Weitergabe kommuni¬
stischen Schriftenmaterials, nur beim Vierundzwanzigjährigen stellte das
Gericht außerdem noch Teilnahme an verbotenen Zusammenkünften fest.
Die ausgesprochenen Strafen waren im Verhältnis zum Ausmaß der
verbotenen Betätigung um der abschreckenden Wirkung auf die Allgemein¬
heit willen außerordentlich hoch: die niederste 1 Jahr 1 Monat, sonst
keine unter 2 Jahren, die höchste 2 Jahre 8 Monate. Vorbestraft war
wiederum nur der Vierundzwanzigjährige (1933: 2 Mon. Gef., gleich¬
falls wegen Flugblattverteilung); ein anderer war 1933 in Schutzhaft
genommen worden.
Sämtliche 9 kamen aus dem Arbeiter- oder Kleinhandwerker¬
stande und gehörten selbst diesen Berufsschichten an. In auskömmlichen
wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen waren 3, die übrigen 6 hatten
seit früher Jugend mehr oder weniger die Sorge um das tägliche Brot
kennen gelernt; unter allen 9 ist nur einer, der nicht selbst vorübergehend
arbeitslos war. Ausgesprochen proletarischem Milieu ent¬
stammten nur 2, in beiden Fällen war der Vater Trinker. 4 haben schon im
Elternhaus die Luft des Kommunismus geatmet, sofern von der ganzen
Familie oder doch vom Vater kommunistische Einstellung berichtet wurde.
Was geistige Begabung und Regsamkeit betrifft, so überragten
3 den Durchschnitt unseres sonstigen Gefangenenmaterials in auffallender
Weise, 2 erreichten ihn nicht, unter ihnen mußte einer als leicht beschränkt
bezeichnet werden. Unter charakterologischem Gesichtspunkt
gesehen, zeigte nur 1 Vertreter der politischen Gruppe psychopathische Züge:
ein willensschwacher, selbstunsicherer, depressiver, tiefentmutigter junger
Mensch, dessen Mutter wegen progressiver Paralyse zur Zeit der Straf¬
verbüßung sich in einer Heilanstalt befand. 2 gaben ein warmes Gefühls¬
leben zu erkennen, 2 fielen durch seelische Flachheit auf, ausgesprochen
gemütsarm war keiner. Hervorstechendes Geltungsbedürfnis war an 1
Vertreter der Gruppe zu bemerken.
Sämtliche 9 waren ihrer sozialen Wertigkeit nach unbeding^t
positiv einzuschätzen. Wie es ihnen in der Freiheit nicht an Arbeitswillen
gefehlt hatte, so waren sie auch in der Strafanstalt zuverlässige, gewissen¬
hafte Arbeiter; nur einer der Jungen, durch hereditäre latente Lues
geschwächt, wies in der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit zeit¬
weilige Ausfälle auf. In disziplinärer Hinsicht war über keinen
der politischen Gefangenen je zu klagen; gegenüber kriminellen Elementen
pflegten die älteren sich gern als verantwortungsbewußte Hüter der
Ordnung zu betätigen.
248
Man wird unter den Anhängern der kommunistischen Bewegung
überhaupt folgende 4 Typen unterscheiden können:
1. Den eigentlichen kommunistischen Verbrecher, der aus
krimineller Tendenz heraus der Fahne Moskaus folgt, von dorther Morgen¬
luft witternd für seine antisozialen Strebungen. Die Affinität seiner
kriminellen Natur ist die eigentliche Motivationsquelle seiner politischen
Haltung. Nicht sein Kommunismus erst hat ihn zum Verbrecher gemacht,
er ist vielmehr zum Kommunismus gekommen, weil er Verbrecher ist;
primär ist in seiner Persönlichkeit die kriminelle, sekundär und Mittel zum
Zweck die politische Tendenz. Er repräsentiert den Kommunismus
aus Kriminalität, das „Untermenschentum“.
2. Seinen Gegenpol findet er in dem Typ des reinen Kämpfers für
die kommunistische Idee. Zahlenmäßig gering, in Einfluß und Au.s-
wirkung aber um so gefährlicher. Ihn leiten nicht selbstsüchtige Strebungen
irgendwelcher Art, er kämpft für die anderen, für die Klasse der „Ent¬
rechteten“, „Unterdrückten“, in der er selbst gar nicht zu wurzeln braucht,
für die neue Weltordung, für die Zukunft, an deren „Segnungen“ er
vielleicht gar nicht mehr hoffen kann, persönlich teilzuhaben. Ihm eignet
im Gegensatz zu, dem Vertreter der 1. Gruppe ein hohes Maß von
Altruismus, Bereitschaft zu Opfer und Einsatz, kämpferische Aktivität.
Er ist der Besessene einer ideologischen Doktrin, Dogmatiker, Fanatiker.
Er ist der Kommunist aus WeItanschauung.
Zwischen diesen beiden extremen Polen stehen:
3. Der Kommunist aus Ressentiment. Die eigentlichen Trieb¬
federn seiner politischen Haltung sind: persönliche Verstimmung,
Verkürzungsgefühle aus irgendwelchen Quellen, Unzufriedenheit mit der
Gestaltung seines Lebensloses, mit .seiner sozialen Lage. Konflikts¬
neurotiker (Berufs-,Familienkonflikte) vorwiegend aus den unteren sozialen
Schichten trieben einst leicht in das große rote Sammelbecken aller Mi߬
vergnügten ab. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß auch die
Triebkraft des Typus 2, des bewußten, selbstlosen Kämpfers für die Idee,
nicht selten gespeist ist aus einer verborgenen Brunnenstube mehr oder
weniger unbewußten persönlichen Ressentiments; oder umgekehrt: daß
der Ressentiments-Typ in reiferen Lebensjahren unter Voraussetzung ent¬
sprechender intellektueller und charakterlicher Bedingungen, bei inten¬
siver Formung durch politische Schulung, leicht in die Gestaltform des
Typus 2 hinüberwechselte.
4. Endlich der Kommunist als Kollektiv-Erscheinung,
als Glied einer Herde, der zur Partei gehört, weil die anderen auch alle
dabei sind und weil der Terror ihn zwingt. Welle ira g;roßen roten Strom,
geschoben und getragen von der Masse. Unzuverlässiger Mitläufer; als
Individuum harmlos, im Geball der Masse aber ein gefährliches Instrument
in der Hand zielklarer Führung.
Es versteht sich von selbst, daß die polaren T 3 rpen 1 und 2 in
entwickelter Form sich im Jugendgefängnis noch nicht finden.
Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind, wie auch unter den Erwachsenen,
die Angehörigen der Gruppe 4; unter den 9 politischen Gefangenen unseres
Jahrgangs 1937 waren ihr 5 zuzuzählen. Sie stellten die reine Abschattung
ihres Milieus dar, waren nichts anderes als junge Fabrikarbeiter, die teils
unter dem Einfluß der Eltern oder älterer Brüder iind Kameraden, teils
durch die Werbearbeit der KPD. in deren Jugendorganisation hineingezogen
249
wurden und sich zu kleinen Kurier- und Handlangerdiensten gebrauchen
ließen. Von einer durchdachten, bewußten politischen Gesinnung konnte
keine Rede sein; sie folgten den Sirenenklängen der moskowitischen Welt¬
beglückung wie die Kinder dem Rattenfänger zu Hameln. Dem Straf¬
vollzug boten sie kein besonderes Problem; die Hauptarbeit an ihnen hatte
ohnehin das Gerichtsverfahren bereits getan, das ihnen die überlegenen
Machtmittel einer entschlossen und rücksichtslos zupackenden Staats¬
führung sinnfällig und eindrucksvoll vor Augen führte. Sie betraten die
Anstalt und verließen sie erst recht als die gebrannten Kinder, die fortan
das Feuer fürchten.
Nicht so einfach gestaltete sich die Aufgabe gegenüber denjenigen
Jungkommunisten, in deren politischer Haltung die Komponente des
Ressentiments zu erkennen war (Gruppe 3), vor allem dann, wenn
gute Intelligenz, geistige Regsamkeit, ausgeprägter kritischer Sinn,
charakterliche und soziale Wertigkeit, Einsatzbereitschaft und Betätigungs¬
drang sie zu Anwärtern der Gruppe 2 stempelte. In der Freiheit waren sie
als höchst verläßliche, arbeitswillige und befähigte Arbeiter geschätzt, ihr
Leumund hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensführung war gut, die Schul¬
noten pflegten den Durchschnitt erheblich zu überragen. In der Straf¬
anstalt hielten sie durch korrekte, zuchtvolle Haltung und Einfügung in
Arbeitspflicht und Hausordnung bewußte und zuweilen betonte Distanz von
der Masse der kriminellen Insassen. Stets aber deckte die Anamnese
früh wirksam gewordene Quellen der Verbitterung auf: Kindheitseindrücke
von häuslicher Sorge und Not („soweit ich denken kann, ist der Hunger
mein Begleiter“), von Perioden der Arbeitslosigkeit des Vaters oder der
Geschwister in den bösen Jahren der Nachkriegszeit, vor allem die
Versagung einer den vorhandenen Fähigkeiten und Neigungen ent¬
sprechenden Berufswahl und -ausbildung, zu der die Mittel fehlten, oder
— was geradezu als Trauma in der charakterlichen Entwicklung bezeichnet
werden muß — die Nötigung, eine mit Freudigkeit und Geschick begonnene
Berufslehre abzubrechen, weil die Lehrfirma etwa bankrott ging oder
wegen Arbeitsmangels den Lehrling entlassen mußte und keine neue Lehr¬
stelle sich fand. In differenzierten, empfindsamen und dabei strebsamen
Naturen, vor allem des introvertierten Typs, frißt sich unter dem Eindruck
solchen Erlebens von häuslicher Not, Existenzunsicherheit, unverschuldetem
beruflichem Mißgeschick, behinderter Entfaltungsmöglichkeit ein t i e f -
sitzendes soziales Ressentiment ein, das zur leicht sich
öffnenden Einfallspforte wird für die Infektion durch eine politische
Doktrin, die durch radikalen Umsturz der bestehenden Verhältnisse,
Spreng;ung der hemmenden Bande, Befreiimg aus Zurücksetzung und
Beengung verheißt, — bei dem seiner Alterstufe gemäß zur Opposition
gegen das Bestehende und alle mit Autoritätsanspruch auftretenden Größen
ohnehin geneigten jugendlichen Menschen erst recht. Die politische Frage
ist Exponent der persönlichen Lebensfrage.
Hermann Sch. ist ein typischer Vertreter dieser Gruppe. Der Vater war
Trinker, behandelte die Familie schlecht. Der Lehrer des Jungen berichtet
von dem tiefen Eindruck, den ihm eine Zeichnung des 13jährigen Schülers
gemacht habe: ein Mann mit stierem, verstörtem Gesichtsausdruck, in
Katzenjammerstimmung im Stuhl in sich zusammengesunken, am Boden der
Arbeiterwohnstube lie^ die geleerte Flasche; Unterschrift: „Arbeiters
Feiertag“. Das Bild gibt Kunde von den tiefsitzenden Kindheitseindrücken
der Umwelt auf den sehr sensiblen, stark introvertierten jungen Menschen.
Während der Vater rabiater „Freidenker“ und Syndikalist war und den
250
Jungen intensiv zu dieser Welt hin erzog, hielt sich die Mutter zu einer
engen religiösen Gemeinschaft. Die noch während der Strafzeit an dem
21jährigen jungen Mann auffallende, lavierende Unsicherheit in Fragen der
Welt- und Lebensan-schauung ist die fortwirkende Abschattung des Hin-
und Hergerissenwerdens in einer innerlich gespaltenen Pamilienwelt. In der
Schule hat der sehr gut begabte Junge besten Erfolg, in seiner beruflichen
Ausbildung als Silberschmied erntet er das volle Lob seiner Firma, liefert
auch im Gefän^is Proben hohen kunstgewerblichen Könnens. Mit 17
Jahren tritt er in die kommunistische Jugendbewegung ein, bemüht sich
durch eifriges Studium von Schulungsliteratur um das Eindringen in die
kommunistische Welt- und Wirtschaftsauffassung, kommt 1933 in Schutz¬
haft, verliert darauf die Arbeit, wird 1936 wegen Vorbereitung zum Hoch¬
verrat (Verteilung staatsfeindlicher Flugblätter) zu 2 Jahren 8 Monaten
Gefängnis verurteilt. In der Strafanstalt lernen wir ihn als einen geord¬
neten, ruhigen, arbeitswilligen, einfügungsbereiten, lernbegierigen Menschen
kennen von gereiftem Charakter, absolut anständiger Gesinnung, unbe¬
dingt sauberer moralischer Einstellung. In Reden und Handeln zeigt er ein
hohes Maß von Beherrschtheit, von zielbewußtem Wollen. Eine Patina
von Resignation liegt auf dem immer gleich ernsten Gesicht, das die Spuren
früher, tiefsitzender Lebensenttäuschung trägt, dem keine freundliche
Sonne im Kinderland schien. Unablässig arbeitet er an der Selbstklärung
über politische und weltanschauliche Fragen. Mit der Mutter verbindet ihn
ein gefühlswarmes Verhältnis. Im persönlichen Umgang ist er freundlich
und gefällig, erweist uns auch nach der Strafzeit seine Dankbarkeit durch
kleine, selbstgefertigte Erinnerungszeichen. Kennzeichnend ist vor allem
.seine unbedingte Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegen sich und andere;
zu Konzessionen an fremde Meinung ist er schlechterdings nicht bereit,
hält eine skeptische Einstellung mit stiernackiger Eigenwilligkeit fest, bis
etwa eine positive Überzeugung eigenbürtig in ihm gewachsen ist und sich
wetterfest verwurzelt hat („Ich gehöre nicht zu denen, die eine Überzeugung
wechseln wie ein Hemd, aber auch nicht zu denen, die an Tatsachen vorüber¬
gehen“). Er ist von ziemlich differenzierter Struktur, von empfindsamem
Selbstgefühl. Seine politische Fehlhaltung verstehen wir als „Reaktion
eines selb.ständigen und empfindsamen Menschen auf tiefeingefressene
Jugendeindrücke (soziales Ressentiment), Mißerziehung und verhetzende
Fremdeinflüsse“. In abwartender Haltung, doch in dem ihm angelernten
Gedankengefüge der kommunistischen Doktrin beträchtlich erschüttert,
verläßt er die Anstalt. Die Pro^ose lautete: „sehr günstig, wenn nicht
exogene Momente neuer Art ihn in die Trotzreaktion zurücktreiben“. Die
günstige Prognose hat sich als richtig erwiesen: „arbeitet als Maurer, gibt
der Mutter 80.— von seinem Lohn, behält 20.—c'5?^ für sich, führt
mäßiges Leben, wird vom Arbeitgeber als anständig und fleißig gelobt“. —
Hermann Sch. stand, als er in unsere Anstalt kam, im Stadium des Über¬
gangs vom Typ3 zu Typ2 (vom Kommunisten aus Ressentiment zumKommu-
nisten aus Weltanschauung). Er hat zweifellos — dafür spricht seine gute
Allgemeinbegabung, sein ideales Streben, seine selbstlose Einsatzbereit¬
schaft, sein ressentimentgeladenes Naturell — wenn nicht den Marschall¬
stab, so doch den Offiziersdegen kommunistischer Führerschaft im Tornister
getragen. Auch wenn nicht die Festigkeit des heutigen Staatsapparats eine
solche Weiterentwicklung von vornherein unterbunden hätte, wäre nach
und dank dem Aufenthalt des Sch. im Jugendgefängnis die KPD. um einen
ihrer künftigen Aktivisten betrogen gewesen. Rückfall: 0. Weitere
Führung: arbeitet als Maurer, wohnt bei Mutter, welcher er 80.— 3^% vom
Lohn abgibt und für sich bloß 20.— 31K behält. Führt mäßiges Leben,
wird vom Arbeitgeber als anständig und fleißig bezeichnet.
Dementsprechend sind auch die Hebel der erzieherischen Arbeit
bei dieser Gruppe einzusetzen. Für sie stellt schon das Straferlebnis an
sich ein von vornherein erschwerendes Moment dar, sofern es den durch
Verurteilung und Bestrafung gebrandmarkten, mit Dieben und Sittlichkeits-
251
Verbrechern zusammengebrachten „Gesinnungstäter“ empfindlich in seinem
Ehrgefühl trifft und seine Ressentimenthaltung zunächst nur noch vertieft.
Die Arbeit des Strafvollzugs hat sich nach verschiedenen Richtungen hin
zu erstrecken. Sie ist:
1. eine Arbeit an der Persönlichkeit. Eine das Ehrgefühl
nicht verletzende, die Arbeitsleistung und die persönlichen, charakterlichen
Werte des Menschen anerkennende Haltung seitens der Beamten reichte
zuweilen schon hin, um wahre Wunder zu wirken. Lernt der politische
Gefangene den Beamten, von dem er als dem Repräsentanten des „Klassen-
und Knüppelstaates“ ein wenig erfreuliches Vorstellungsbild mitbringt,
kennen als einen gerechten, menschlich fühlenden, an seinen Lebens¬
problemen interessierten, um seine Wiedergewinnung bemühten Mann, so
ist der Einbruch in das Bollwerk der ihm eingetrichterten Vorurteile meist
schon an entscheidender Stelle vollzogen und der individualpsychologischen
Betreuungsarbeit Bahn gebrochen. Diese wird ihr Bestreben dann darauf
richten, die Quellen der Ressentimenthaltung aufzudecken und die daraus
fließende Fehlhaltung gegenüber den Lebensordnungfen abzubauen
(Erziehungsaufgabe).
2. Erst wo nach dieser Richtung ein Stück Arbeit getan und ein
gewisses persönliches Vertrauensverhältnis geschaffen ist, kann auch die
zweite Aufgabe erfolgversprechend angegriffen werden: die Abtragung
des durch politische Verhetzung, Lektüre und Schulung gewachsenen
intellektuellen, politisch-weltanschaulichen Überbaues, durch Entkräftung
der in ihrer Hohlheit zu entlarvenden Schlagworte, durch Konfrontierung
der moskowitischen Ideologie mit den realen Tatsächlichkeiten der
Menschennatur und den Gesetzlichkeiten, die im politischen, völkischen,
wirtschaftlichen Leben walten. Die Einführung in die geistigen Grund¬
lagen der heutigen Staatsordnung durch Schulunterricht und Zuteilung
geeigneten Lesestoffes hatte den Abschluß dieses Zweiges der Arbeit am
politischen Gefangenen zu bilden. Die politische und weltanschauliche
Fehlerziehung war also durch politische Gegenerziehung positiver Art zu
paralysieren (Schulungsaufgabe). Es wird nicht wimdemehmen,
daß unsere jungen politischen Gefangenen, zumal die selbständigeren,
geistig und charakterlich höherstehenden, diesem Zweig unserer Arbeit
zunächst mit einigem Mißtrauen begegpieten. Zu ihrer Ehre muß jedoch
gesagt werden, daß sie durchweg den Willen aufbrachten, sich ehrlich und
•sachlich mit den Problemen auseinanderzusetzen, sich auch in die gebotene
politische Literatur mit Eifer vertieften; Hitlers „Mein Kampf“ hat jeder
von ihnen während seiner Strafzeit in die Hand bekommen. Auch im Gottes¬
dienst, von dem sich kein einziger unserer Gruppe abgemeldet hatte, waren
sie wohl sehr kritische, aber äußerst aufmerksame Zuhörer, und wenn gerade
der Mann unter den 9, den wir in die kommunistische Denkweise am
hartnäckigsten verbissen wähnten, dem Anstaltspfarrer beim Abschied aus
freiem Herzen sagte, zwar sei er in seiner Strafzeit nicht etwa ein über¬
zeugter Christ geworden, dies aber habe er doch erkannt, daß „etwas
hinter der Religion stecke“, daß Religion etwas anderes sei als „Pfaffen¬
betrug“ und „Opium für das Volk“, so ist dieses Bekenntnis der
Erschütterung einer rein materialistischen Weltauffassung ein bezeichnendes
Beispiel für den Erfolg, der unserer Bemühung um die geistige Schulung
und Umbildung dieser jungen Leute auch in anfänglich wenig aussichts¬
reich scheinenden Fällen beschieden war: Zusammenbruch des Karten¬
hauses von Schlagworten und Vorurteilen, Erschütterung der Grundlagen
252
kommunistischer Denkweise. Doch auch, wo solcher Abbruch vollzogen,
dieses negative Ziel erreicht war, nahmen die geistig selbständigeren unter
unseren jungen Leuten gegenüber der positiven Zuwendung zur national¬
sozialistischen Staats- und Lebensauffassung eine abwartende
Haltung ein; sie wollten sich die Echtheitsprobe des Neuen, die Prüfung
seiner Bewährung in Tat und Wirklichkeit und in der Gestaltung ihres
eigenen künftigen Geschicks erst Vorbehalten.
3. Um so dringlicher war denn die dritte Aufgabe, die der Fürsorge
für die Zeit nach der Entlassung. Gelang es, den Entlassenen vor der
Verfemung wegen seiner politischen Vergangenheit und vor dem Makel der
Strafe zu bewahren, seine volle Resozialisierung zu erreichen, so war mit
diesem krönenden Schlußstein unserer Arbeit der volle Erfolg gesichert.
Wurde er in seinem künftigen Lebenskreis einem Aussätzigen gleich von
der Volksgemeinschaft gemieden und abgelehnt, so konnte nur ein noch
tieferer Rückzug des Entmutigten in das Schneckenhaus der Ressentiment¬
haltung die Folge sein, und die ganze Arbeit von 2 Jahren Jugendstraf¬
vollzug war umsonst. Wir haben denn auch in unseren Abschlußgutachten
diese Wahrheit mit stereotyper Eindringlichkeit gepredigt, in unseren
Schreiben an Firmen, Arbeitsämter, NSV-Stellen unablässig um die
Bereitschaft zur Wiedereingliederung der politisch fehlgeleiteten jungen
Leute gerungen, haben uns auch um die Aufhebung der Wehrunwürdigkeit
bemüht. Gab es auch z. B. bei wehrwirtschaftlich wichtigen Betrieben
Schwierigkeiten, so ist doch nicht einer unserer jungen Leute längere Zeit
ohne Arbeit geblieben- Nur von 2 Leuten, dem schon früher erwähnten
Depressiven und einem besonders empfindlichen, stark entmutigten Jungen
trafen nach der Entlassung noch SOS-Rufe ein und gaben der Strafanstalt
Anlaß, einzurenken, was sie durch eigenes Ungeschick und die ihrem
Naturell entfließenden Fehlreaktionen großenteils selbst verpfuscht hatten.
Die Aufgabe am politischen Gefangenen, besonders von differenzier-
terer seelischer Struktur, bestand somit weniger in der Umstellung
der meist intakten, wenn nicht gar wertvollen Persönlichkeit, sondern
vielmehr der Zielrichtung, gleichsam in der Änderung eines
Vorzeichens. Es ging ganz einfach darum, aus einer in Lebensunreife und
Umweltverhältnissen wurzelnden, durch politische Irreleitung und Ver¬
hetzung geförderten negativistischen Fehleinstellung zu Staat und Gemein¬
schaft, aus dem Geschlinge einer art- und volksfremden Ideologie, dem
eine unter ungünstigen Milieuverhältnissen erwachsene, meist von früher
Jugend an eingefressene Ressentimenthaltung günstiger Nährboden war,
den echten deutschen jungen Menschen herauszuholen und seinem Einbau
in das Gefüge der neuen Volksgemeinschaft die Wege zu bereiten.
Die soziale Prognose konnte denn in sämtlichen unserer 9 Fälle
günstig gestellt werden, wofern nur die Gemeinschaft den zu mittätiger
Eingliederung Bereiten nicht zurückstoßen würde.
Die Erkundigungen, die wir jetzt über die Entlassenen ein¬
gezogen haben, wie auch die Briefe, die wir von manchen erhielten, geben
ein fast uneingeschränkt erfreuliches Bild: „Führung sehr gut", „nichts
Nachteiliges, seit kurzem verheiratet“, „tadellose Führung“, „gab zu
keinerlei Klage Anlaß“, „führt mäßiges Leben, wird vom Arbeitgeber als
anständig und fleißig gelobt“. Einer der jungen Leute ist wegen der
verbüßten Strafe vom angetretenen Arbeitsplatz wieder weggeschickt
worden, hat aber auf die Fürsprache der Strafanstalt hin anderweitig
Arbeit gefunden. 2 unter den 9, darunter der besonders sensible W. H.,
25S
haben die psychischen Auswirkungen der Strafe und ihrer Folgen längere
Zeit nicht überwunden; W. H. „war anfangs sehr unzufrieden und
mutlos . . . . , tief gekränkt wegen seiner Wehrunwürdigkeit, ist
seit dem 16. 12. 39 Soldat“ — übrigens der einzige unter den 9, dessen
Einziehung zum Wehrdienst gemeldet wird; von W. D. heißt es: „Nichts
Nachteiliges, leidet scheinbar heute noch unter einem Sichzurückgesetzt-
fühlen“. Der bei Strafantritt vierundzwanzigjährige A. O. gibt „als
Arbeiter zu keinen Klagen Anlaß, ist aber öfters frech; ohne Krieg wäre
das Arbeitsverhältnis schon gelöst“. Er ist so der einzige, von dem keine
absolut einwandfreie Gesamtführung berichtet wird; er ist ein knorriger
Bursche, von galligem Humor und einer derben schwäbischen Haut, in
proletarischer Familienwelt grroß geworden, selbst keine kriminelle Natur,
aber seit früher Jugend in berechtigter Opposition gegen einen dem
Alkohol ergebenen Vater und 2 moralisch minderwertige Brüder hart und
bissig geworden; sein Naturell wird ihm noch manchen Prügel in den
Lebensweg werfen, doch ist auch bei ihm nicht anzunehmen, daß er wieder
mit dem Gefängnis Bekanntschaft machen wird.
So wird man sagen können, daß bei sämtlichen wegen staatsfeind¬
licher Delikte unserer Anstalt zugeführten Angehörigen des Jahrgangs 1937
dank der günstigen endogenen Voraussetzungen und dank der von der
nationalsozialistischen Staatsführung geschaffenen Verhältnisse im Wirt¬
schafts- und Volksleben der Arbeit des Jugendgefängnisses ein voller Erfolg
beschieden war. Sie sind geworden, was sie im Grunde ihres Wesens
waren; brauchbare, wertvolle Volksgenossen.
II. Anlage- und Gelegenheitsdelikte mit gutem Ausgang bei zweifelhafter
Prognose (88 Fälle)
Dieser Gruppe gehören Fälle an, bei denen die Nachuntersuchung
Straflosigkeit und soziale Lebensführung ergeben hat, während die
Prognose zweifelhaft gestellt war, wobei aber in 20 Fällen günstige Aus¬
sichten vermerkt wurden. Sie unterscheiden sich zunächst wesentlich
darin von den im früheren Abschnitt dargestellten Fällen, daß hier Anlage¬
gegenüber den Gelegenheits- und Pubertätsdelikten überwiegen. Die erb¬
liche Belastung ist hier wesentlich stärker; gleichsinnige Belastung ist
besonders groß. Eltern und Geschwister waren häufiger als bei der
früheren Gruppe kriminell oder verrieten gleichfalls asoziale Charakter¬
züge, dagegen traten Milieuschädigungen stark zurück. Einen weiteren
Unterschied zeigen die Vorstrafen. In der I. Gruppe fanden wir nur ein
Fünftel, während hier die Hälfte der Fälle vorbestraft war. In der Art
des Deliktes ist kein wesentlicher Unterschied festzustellen, nur Hochverrat
kommt ausschließlich bei der ersten Gruppe vor.
Schon aus dieser Gegenüberstellung ist ersichtlich, daß die Prognose
bei den Fällen der II. Gruppe ernster lauten mußte. In letzter Linie fußte
sie aber auf der psychischen Konstitution, welche in der II. Gruppe, wie
unsere Tabelle zeigt, bei der Mehrzahl von Fällen abnorm war. In der
I. Gruppe waren bei der Hälfte der Fälle Charaktermängel festzustellen,
welche in die Richtung von psychopathischen Merkmalen wiesen. So kann
man vielleicht zwischen Leichtsinn und Haltlosigkeit eine Parallele ziehen.
In der 1. Gruppe befand sich ein Stimmungslabiler und mehrere Fälle
galten als triebhaft, explosiv, brutal. Der Gegensatz tritt aber schon
darin deutlich zutage, daß in der I. Gruppe gutmütige, moralisch schwache
und beschränkte Persönlichkeiten in größerer Zahl auftraten, während in
der II. au.sgeprägte Anomalien und Debilität stark vertreten sind. Beson-
254
(lers kraß ist aber der Unterschied dadurch ausgeprägt, daß in der II.
Gruppe in größerer Zahl Willensschwäche und auch Fälle von Hyperthymie,
Gemütsarmut und moralischer Minderwertigkeit vorkamen, während die
letzte Kategorie in der 1. Gruppe nicht zu finden war. Die genaueren
Zahlwerte für die Gruppe II sind in der Tabelle 2 wiedergegeben.
Tabelle 2
Art des Ddikts
Strafdauer
Alter
Einf. Diebstahl .
33
2 Monate .
3
(bei Strafantritt)
schw. Diebstahl
22
3
7
17 Jahre .
4
Betrug, Urkunden¬
fälschung
4 ”
9
18 „ .
12
7
6 .
8
19 „ .
15
Raub.
1
6 „ .
8
20 „ .
20
Sittl.-Verbrechen ...
Heiratsschwindel ...
Körperverletzung ...
20
1
2
7 ”
7
21 „ .
16
8
11
6
22 „ .
3
9
23 „ .
12
10
24 „ .
Sachbeschädigung ...
1
h
4
11 „ .
25 „ .
Meuterei .
1
1
2
Summe:
88
1 Jahr .
1% Jahre .
11
7
Summe:
88
114 „ —2 Jahre
4
2% ..
1
Summe:
88
Psychische Konstitution:
Psych. Intakte:
Psychopathen:
psych. intakt .
psychopathisch .
27
triebhaft .
5
23
7
48
hyperthym.
2
willensschwach ...
debil .
12
leichts. haltlos.
hyperthym .
3
unbestimmt .
1
unreif .
mor. schwach ...
6
14
explosibel .
4
Summe:
88
stimmung.slabil
gefühlsarm .
1
Summe:
27
3
mor. minderwer¬
tig .
7
Summe:
48
Deliktformen:
Ursachen
Vorstrafen
Pubertätsdelikte
6
der Kriminalität
Haft u. Geldstr.
6
Gelegenheitsdelikte
36
Milieuschädigung
12
Gefängnis 1 mal
20
Anlagedelikte .
46
allgemeine Bela-
„ mehrf.
17
Summe:
88
stung .
19
krim. Belastung
6
gleichs. asoz. Be¬
lastung .
12
III. Guter Ausgang bei schlechter Prognose
(9 Fälle)
Bei der prinzipiellen Bedeutung der Fälle dieser Gruppe sollen die¬
selben im einzelnen skizziert werden.
1. Fritz W'., geb. Juni 1917.
Heredität: älterer Bruder wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft, ein
jüngerer in das Delikt von Fritz verwickelt.
Milieu: ärmliche Verhältnisse, Vater Seidenweber, verdient nur 80.—
monatlich, 8 Kinder.
kriminelle Entwicklung: schon in Volksschule schwer erziehbar, kam in
Erziehungsanstalt, später in Gärtner^tellen, wo er Diebstähle beging.
Vorstrafen: keine.
Letztes Urteil: Gemeinsamer schwerer Diebstahl in 10 Fällen, 7 Monate
Gefängnis.
Charakter: leichtsinnig, unzuverlässig, gefühlsarm, Mangel an Straf¬
einsicht.
Führung: nahm sich im Gefängnis zusammen.
Art der Kriminalität: Anlagefall, Verwahrlosung.
Rückfall: keiner.
Soziales Verhalten: keine Klagen.
2. H e r m a n n A., geb. September 1913.
Heredität: durch Vater belastet, soll während des Weltkriegs in
Rumänien als Offizier Unterschlagungen verübt haben.
Milieu: Eltern geschieden wegen Ehebruchs des Vaters. Mutter Weberin,
sie und zwei Schwestern religiös und sittlich einwandfrei.
Kriminelle Entwicklung: wegen Unredlichkeit aus Buchhalterstelle ent¬
lassen, gab sich weiter als solcher aus und entlockte in verschiedenen
Fällen dadurch Geld.
Vorstrafen: 1936 Diebstahl, 3 Monate Gefängnis.
Letztes Urteil: 1937 Betrug und Urkundenfälschung, 7 Monate Gefängnis.
Anschließend weitere Verurteilung wegen Diebstahls und versuchten
Betrugs, 10 Monate Gefängnis.
Charakter: haltlos, geltungsbedürftig, egozentrisch, eigensinnig, brutal,
keine innere Wandlung, schlechte Gesinnung.
Diagnose: Psychopathie, haltlos.
Führung: einwandfrei.
Art der Kriminalität: Anlagefall.
Rückfall: keiner.
Soziales Verhalten: als Kraftwagenführer in Bierdepot gute Führung.
3. Karl G., geb. Juni 1916.
Heredität: Vater jähzornig, bösartig, brutal.
Milieu: ungünstig, Vater kann wegen Folgen von Schädelbruch Beruf nicht
nachgehen, Schwester zieht auf Tanzböden herum.
Kriminelle Entwicklung: nach Konflikt mit dem Vater aus dem Hause
gewiesen, trieb sich herum und verübte Delikte.
Vorstrafen: 1) und 2) Diebstahl, Gesamtstrafe 2 Monate Gefängnis.
Letztes Urteil: Erpressung, Diebstahl, Betrug, 1 Jahr 8 Monate Gefängnis.
Charakter: moralisch minderwertig, beschränkt, willensschwach, reizbar,
mißmutig, gefühlsarm, introvertiert.
Diagnose: Psychopathie, brutal, moralisch minderwertig.
Führung: gut, läßt aber jeden Trieb zur Arbeit und zu sozialer Ein¬
gliederung vermissen.
Art der Kriminalität: Anlagefall, Verwahrlosung.
Rückfall: keiner.
Soziales Verhalten: Stelle bei Erhofbauer wegen Streites mit Arbeitgeber
verlassen, seither bei Eltern, Hilfsarbeiter, keine Klage.
4. R o b e r t L., geb. März 1918.
Familie lebt in großer Dürftigkeit, 9 Kinder. Robert verübt seit dem 14.
Lebensjahr mit 6 und 13jähriger Schwester Blutschande, ferner unzüchtige
Handlungen und Geschlechtsverkehr mit 7 und 12jährigen Mädchen sowie
12jähriger Cousine. Einmal wegen Betteins vorbestraft, jetzt Gesamtstrafe
wegen Unzucht mit Kindern 1 Jahr 9 Monate. Stumpfes, bedürfnisloses
Vegetieren, schwachsinnig und gemütsarm, manuell nicht ungeschickt, tier¬
haft hemmungsloses Triebleben, brutal.
Führung: im Gefängnis geordnet und willig.
Diagnose: torpider Schwachsinn, Oktober 1936 sterilisiert.
Art der Kriminalität: Anlagefall.
256
Prognose: ungünstig (gefährliche sexuelle Triebhaftigkeit).
Rückfall: keiner.
Auskunft der NSV. vom 16. 8. 1941: hat bis März 1939 bei einem Mineral¬
wasserhändler gearbeitet, führte sich ordentlich, gab zu keinen Klagen
Anlaß. Dann RAD., ansciüießend zur Wehrmacht.
5. Hermann W., geh. Januar 1917.
Heredität: Eltern gehören einer fanatischen religiösen Sekte an.
Kriminelle Entwicklung: aus Schreinerlehre weggelaufen, ging auf
Wanderschaft, Landhilfe, dann Bummelleben.
Vorstrafen: Diebstahl und Betrug, 7 Monate Gefängnis.
Letztes Urteil: Diebstahl in 4 und Betrug in 2 Fällen, 10 Monate Gefängnis.
Charakter: haltlos, mißmutig, willensschwach, geltungsbedürftig, ego¬
zentrisch, introvertiert, hochstaplerisch, schwatzhaft.
Diagnose: Psychopathie, willensschwach.
Führung: arbeitsscheu, leichtsinnig.
Art der Kriminalität: Anlagefall.
Rückfall: keiner.
Soziale Führung: stand dauernd in Arbeit, seit einem Jahr verheiratet,
bei Wehrmacht E K II, an der Hand verwundet, jetzt Bahnhofsdienst.
6. Friedrich 0., geh. April 1918.
Heredität: keine.
Milieu: geordnetes Elternhaus.
Kriminelle Entwicklung: wegen Arbeitsvemachlässigung entlas.sen, Verkehr
in Nachtlokalen, verkuppelte eine in Scheidung lebende Frau, daneben
andere Verhältnisse.
Vorstrafen: keine.
Letztes Urteil: Erpressung, Diebstahl, Kuppelei, 1 Jahr Gefängnis,
Charakter: intelligent, moralisch minderwertig, triebhaft, reizbar, mi߬
mutig, gemütlos, geltungsbedürftig, egozentrisch, gehässig, boshaft, ver¬
schlossen, gerissen und lügenhaft.
Diagnose: Psychopathie, moralisch minderwertig.
PHihrung: Arbeitsverweigerung.
Art der Kriminalität: Anlagefall.
Rückfall: keiner.
Soziales Verhalten: bis 1939 daheim, führte sich gut. Arbeitsdienst, an¬
schließend Militär. Von Fabrik reklamiert, Februar 1941 verheiratet, sehr
geordnete Verhältnisse und gute Fühning.
7. Franz M., geh. Februar 1920.
Heredität: keine.
Milieu: häusliche Verhältnisse ungün.stig.
Kriminelle Entwicklung: in Schule schwer zu behandeln, faul. In Schul¬
zeit Weinberghäuschen erbrochen, später Wochenendhäuser. Verlor Lehr-
.stelle, bummelte.
Vorstrafe: Diebstahl, 6 Wochen Gefängnis mit Bewährungsfrist.
Letztes Urteil: Diebstahl und Unterschlagung, 5 Monate Gefängnis und
Fü r s orgeerzi ehu ng.
Charakter: haltlos, gleichgültig, triebhaft, gefühlsarm, willensschwach,
egozentrisch.
Diagnose: Psychopathie, haltlos, willensschwach.
Führung: unter Aufsicht allmählich fleißig, von Strafe unbeeindruckt.
Art der Kriminalität: Anlagefall.
Rückfall: keiner.
Soziales Verhalten: hat in größerer Landwirt.schaft gearbeitet und sich
durch Fleiß und geordnetes Verhalten beliebt gemacht. Jetzt bei der
Wehrmacht.
257
Zwei Vertreter dieser Gruppe sollen eingehender dargestellt
werden.
Otto Z., Hilfsarbeiter, geb. 24. 1. 16.
Z. ist das Kind einer fünffachen unehelichen Mutter, die zuletzt vor 2 Jahren
noch ein^n Bauarbeiter geheiratet hat. Den Stiefvater hat der Stiefsohn
nur einmal in seinem Leben, bei der Hochzeit, gesehen. Die ganze Familie
soll durchweg geistig ziemlich schwach beanlagt sein. Der Junge kam nach
der Schulzeit in eine Gießerei nach St. (Großstadt) als Hilfsarbeiter (Nov.
1930-Sept. 1931). Als er diese Arbeit verlor, kehrte er bis Frühjahr
1932 zur Mutter zurück und half dort in der Landwirtschaft, kam aber
dann von Frühjahr 1932 bis Juli 1933 wieder in eine Feingießerei nach St.
Abermals arbeitslos geworden, fand er Unterkunft zu Hause, bis
er vom Okt. 1933 bis Mai 1934 in den Arbeitsdienst kam; dort ging
er nach 7 Monaten weg, weil er wieder etwas verdienen wollte. In St. fand
er Arbeit in einer Vulkanisieranstalt und nach einer Zwischenzeit der
Erwerbslosigkeit in einer Konditorei; in beiden Stellen vorwiegend
als Ausläufer beschäftigt. Im Nov. 1935 ging er von der letzteren Stelle,
weil einer Fundunterschlagung bezichtigt, wobei sich jedoch nachher seine
Unschuld erwiesen habe, weg zur Autobahn, war aber auch bald
weder ohne Arbeit und, da er die ihm angebotene Unterbringung in
einer Beschäftigungsanstalt in St. ablehnte, auch ohne Obdach.
In dieser Zeit mangelnder Beschäftigung und äußerer Entbehrungen
versinkt er willenlos im Morast der Großstadt, und zwar da, wo er am
tiefsten ist. Als er im Mai 1936 wieder als Bauarbeiter unterkam, war es
schon zu spät.
Wie erwähnt, hat er in seinem unsteten und wechselvollen Arbeitsleben
zwei Phasen der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen: Jan.
1935 bis Febr. 1935 und Nov. 1935 bis März 1936. In diesen Zeiten ließ er
sich beide Male als Strichjunge mit zahllosen Männern ein und bezog
seinen dürftigen Lebensunterhalt durch die widerlichsten Betätigungen.
Beim 1. Mal sei er dazu gekommen: Kameraden aus dem Arbeitsdienst,
die selbst als Strichjungen fungierten, hätten ihn auf diese Erwerbsquelle als
Ausweg aus der Not hingewiesen. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von
1 Jahr verurteilt.
Z. ist von Natur nicht gleichgeschlechtlich veranlagt, hat auch, was
ihm das Gericht zugute hielt, nur in Zeiten der Erwerbslosigkeit sich dem
schmutzigen Gewerbe hingegeben. Daß er aber dann bedenkenlos diese
Bahn betrat und sich rasch zum zynischen und brutalen Strichjungen ent¬
wickelte — er schlug seine Freier, wenn sie den Tarif nicht einhalten
wollten, öfters auch ins Gesicht —, läßt ein hohes Maß angebore¬
ne r moralischer Indifferenz erkennen und einen habituellen
sittlichen Tiefstand ohnegleichen; der Blick auf die Lebensführung der
Mutter weist hier wie dort dieselbe Hemmungslosigkeit in geschlechtlichen
Dingen auf. Gleichzeitig ist er unbeholfen, schwerfällig, „pomadig“, ent¬
faltet keinerlei Initiative, ist nicht der Mann, sich aufzuschwingen und
energisch nach Arbeit zu suchen; verlor er diese und fiel ihm keine andere
Gelegenheit in den Schoß, so fuhr er entweder zu Muttem oder ging er auf
den Strich. Stellt man ihn aber auf ein Geleise der Arbeit hin, bei dem
kein selbständiges Handeln verlangt wird oder der Einsatz von Entschluß-
und Willenskräften, so leistet er mit einer gewissen behäbigen Ruhe und
Stetigkeit in gleichmäßig verläßlichem Tempo sein tägliches Pensum durch¬
aus. So war er im Gefängnis, wo er mit Fransenknüpfen beschäftigt war,
ein unverdrossener Arbeiter von gleichbleibender Leistungsfähigkeit. Auch
, sonst hat er sich wacker gehalten, Ordnung und Reinlichkeit walten lassen,
sich anständig, bescheiden und willig gezeigt. Allerdings war er bei seiner
Schwerfälligkeit nicht leicht in Fluß zu bringen und hat durch ein scheues,
verlegenes Lächeln, das in seiner Starrheit zugleich ein Ausdruck der
Selbstunsicherheit und Hilflosigkeit ist, die erzieherische Anfassung und
3
258
Einwirkung erschwert, gegen die er sich durch diese primitive Abwehrform
zu sichern sucht.
Seine hausordnungsmäßige Führung — solange ihm eigener Willens¬
einsatz und jedwede Entscheidung abgenommen war — darf nicht darüber
wegtäuschen, daß, zumal nach seiner trüben Vergangenheit, in der Freiheit
der Spielraum des Möglichen bei ihm ein äußerst großer ist. Findet er ein
seiner torpiden Natur entsprechendes Betätigungsfeld in der Form gleich¬
förmig-mechanischer Arbeit, so können die Erinnerungen an die Str^taten
und ihre Auswirkungen ihm die nötige Festigkeit verleihen. In der Not
aber ist der schwerbewegliche Bursche zur Selbsthilfe unfähig: keinerlei
Hemmungen ethischer oder ästhetischer Art hindern ihn dann, erneut den
bequemsten und billigsten Weg zu beschreiten. Leicht wird er dann wieder
zu einem Spielball der Versuchungen und der Verführer.
Soziale Führung: nicht bestraft; seit 9. 11. 37 bei der Wehrmacht.
Heinz W., Mechaniker, geb. 11. 8. 16.
W. stammt aus ordentlichen Verhältnissen; der Vater ist Kaufmann bei
einer angesehenen Weltfirma. Bei dieser lernt der Junge als Mechaniker;
nach fast beendeter Lehrzeit bekommt er glühendes Eisen ins Gesicht,
wodurch das linke Auge schwer geschädigt wird. Er muß die Arbeit auf¬
geben, wechselt verschiedentlich die Stelle, geht von Nov. 1934 bis Apr.
1935 zum Arbeitsdienst. Nach dessen Ableistung fliegen ihm bei
der Fa. K. Splitter ins Auge, wodurch auch diese Arbeit ein Ende nimmt.
Wegen seiner häufigen und langausgedehnten nächtlichen Wirtshausbesuche
und der Schulden, die er immer wieder durch sein exzessives Zigaretten¬
rauchen macht, kommt es zum Bruch mit den Eltern. Er nimmt eigene
Wohnung und beginnt mit Zech- und Einmietbetrügereien,
w’elche ihm im Aug. 1936 seine erste Strafe von 4 Mon. Gef. eintragen, die
er im Jugendgefängnis verbüßt. Das Urteil bezeichnet ihn schon damals
als einen durch und durch verdorbenen Burschen, der auf dem besten Wege
sei, zum gewohnheitsmäßigen Verbrecher herabzusinken. Während der
Strafzeit erweist er sich als sehr leichtsinnig und gleichgültig; beim Ab¬
gang wird ihm baldiger Rückfall prophezeit.
Nach der Entlassung findet er Arbeit als Schlosser; doch sagt ihm
die Hantierung mit Benzin nicht zu. Er gibt die Stelle auf, findet Arbeit
bei der Post, wird dort aber, als seine Vorstrafe ruchbar wird, entlassen.
Dann ist er 3 Wochen arbeitslos und macht in dieser Zeit in hochstaplerischer
Weise 9 Betrüge (Zechbetrüge und Erschwindeln von Rauchwaren).
Großzügig, wie er ist, lädt er sich Gäste zu Trinkgelagen ein, verschwindet
aber vorsorglich jeweils vor dem kritischen Zeitpunkt der Bezahlung.
Einige Wochen ist er bei einem Schaubudenbesitzer als Traktorfahrer
beschäftigt, wobei er sich sehr wohlfühlt. Schließlich ereilt ihn sein
Geschick; er kommt zum 2. Mal in unser Gefängnis, um von Juni bis Dez.
1937 7 Mon. Gef. zu verbüßen. Mit dem Vater hatte er sich inzwischen
erneut Überwerfen.
Bei der Einlieferung in das Gefängnis, das er nach halbjähriger Pau.se
wieder bezog, lacht er und stellt seiner moralischen Dickfelligkeit damit ein
beredtes Zeugnis aus. Dem Vorstand sagt er, er wolle nicht wieder nach
St. (Großstadt) zurückkehren, sondern lieber aufs Land gehen, weil dort
die Lockungen zu Zechprellerei und die Gelegenheit zu Kaufbetrügen und
Tabakschwindeleien nicht so zahlreich seien; er verrät so sein mangelndes
Selbstvertrauen durch dieses Geständnis der eigenen Schwäche.
Geführt hat sich W. ordentlich, sich gern wie bei der früheren Strafe
mit anderen Gefangenen unterhalten, in allen Stücken sich gehen lassen,
wie dies seiner Flatterhaftigkeit und seinem Leichtsinn entspricht. Die
lässige, vomübergeneigte Körperhaltung, der schlaksige Gang des groß
und schlank gewachsenen jungen Burschen ist bezeichnend für seine ganze
Verfassung. Ihm ist so ziemlich alles gleich; die Strafe berührt ihn nicht.
259
Zu verscherzen hat W. nicht viel. Alles ist schon weg: Beruf und
Elternhaus und jede Aussicht auf eine gediegene Arbeitsstelle; die Eltern
haben auf eine Anfrage des Anstaltspfarrers nicht einmal mehr eine
Antwort gegeben. Jetzt will er zur Binnenschiffahrt gehen, wo er
sich wohl ein abwechslungsreiches, leichtes und lockeres Leben erhofft. Der
Anstaltspfarrer und -fürsorger hat die nötigen Schritte zu seiner Unter¬
bringung dort eingeleitet, allerdings in dem Bewußtsein, daß alles, was
man für ihn tut, vergeblich sein dürfte. Denn W. ist ein Mensch, der
hemmungslos und bedenkenlos dem Genußreiz folgt.
Soziale Führung: Nov. 1938 zur Wehrmacht, hat den Polenfeldzug
mitgemacht, in den Kämpfen gegen Frankreich in vorderster Front. Bei
einem Heimaturlaub zei^e er sich sehr ordentlich und den Eltern tief
dankbar.
Eine Betrachtung der besprochenen Fälle führt zunächst zu der
Erkenntnis, daß ein erstaunlich geringes Maß von sittlichen Kräften zur
Einhaltung legaler Führung ausreicht, wenn das Individuum unter
geeigneten Milieuverhältnissen lebt. Unsere Darstellung hat jedenfalls
erwiesen, daß nach Vorgeschichte, Charakterbild und Führung im
Gefängnis bei keinem dieser Fälle eine günstige Prognose gestellt werden
konnte.
Überblicken wir die für eine solche entscheidenden Momente, so ist zu
sagen, daß erbliche Belastung in 4 Fällen gegeben war. Exogene Ursachen
lagen in 3 Fällen vor. Im Charakterbild dominierten moralische Minder¬
wertigkeit und Gefühlsarmut. Man muß diese Fälle daher im Sinne von
ClostermannS) als Kriminellbereite bezeichnen. Wenn sie sich nicht
zu rückfälligen Schwerverbrechern entwickelt haben, so ist dies 3 Momenten
zu verdanken;
1. Dem Wesen der Persönlichkeiten, die nicht aktive, zielstrebige,
sondern passive und willensschwache Naturen waren. In den
wiedergegebenen Gutachten wurde besonders darauf hingewiesen,
daß die Gefahr fti der Hemmungslosigkeit gelegen hatte, welche
diese Individuen zum Spielball äußerer Verhältnisse machte.
2. Der ausgiebigen Strafe, welche in allen Fällen ausgesprochen
wurde und die dem Strafvollzüge die Möglichkeit intensiver Ein¬
wirkung bot. Ist der Erfolg nicht schon bei allen im Gefängnis
greifbar gewesen, so ist er gerade bei diesen Persönlichkeiten
als bestehend anzusehen.
3. Der unmittelbaren Entlassung in ein Arbeitsverhältnis, Aufnahme
in den Wehrdienst (5) und in 2 Fällen der Ehe.
Eine weitere Nachprüfung dieser Fälle, insbesondere aber eine neue
charakterologische Beurteilung nach einigen Jahren wäre für unsere
Kenntnisse über Charakterentwicklung von großem Interesse.
IV. Gebesserte Fälle (22)
Diese Gruppe zerfällt in zwei Unterarten, die moralisch Minder¬
wertigen (8 Fälle) und die Haltlosen (11 Fälle), während 3 Fälle nicht
ausreichend charakterisiert waren. Die Ersterwähnten erschienen pro¬
gnostisch besonders ernst; sie waren in der Mehrzahl erblich, z. T. schwer
belastet. Bei 5 Fällen lag auch Geistesschwäche vor, 1 zeigte ein passives,
stumpfes Wesen, 1 war hyperthym, 1 brutal, explosiv, 5 waren gefühls¬
arm. Gegenüber der Anlage (6 Fälle) traten exogene Faktoren zurück.
Stärkere kriminelle Neigungen waren bei der Hälfte vorhanden, die
8) a. a. O.
s
260
Prognose konnte daher nur zweifelhaft oder ungünstig sein. Völlig straflos
blieben in dieser, Untergruppe nur 2, während die anderen nach der Ent¬
lassung noch ein- oder mehrmals bestraft wurden; doch handelte es sich
immer nur um unwesentliche Delikte, die zu kurzem Gefängnis bzw. Geld¬
oder Haftstrafen führten. Ein günstiges Urteil über die soziale
Führung lag über 1 Fall vor, der nur wegen fahrlässiger Brandstiftung
zu 80,— bzw. 8 Tagen Gefängnis verurteilt wurde. Die übrigen hatten
Anlaß zu Klagen über ihre Verhaltungsweise gegeben. Man hat gerade
bei diesen Fällen den Eindruck, daß sie noch nicht als abgeschlossen
gelten können, wenn auch die Waagschale sich vorerst nach der guten Seite
gesenkt hat.
Bei der zweiten Untergruppe (11) tritt erbliche Belastung stark
zurück; überhaupt belastet waren nur 2 Fälle, davon einer durch seinen
kriminellen Vater. Bei den Nichtbelasteten waren 5mal exogene Momente
wesentlich am Zustandekommen des Deliktes beteiligt. Gegenüber der
1. Untergruppe, deren Glieder durchaus psychopathisch waren, mußten hier
6 als psychisch intakt gelten; sie erwiesen sich als unreif, leichtsinnig,
labil, moralisch ungefestigt, der Verführung durch äußere Umstände oder
Personen zugänglich. Alle 6 Fälle waren der Kategorie der Gelegenheits¬
delikte zuzuweisen. Ihr Verhalten im Gefängnis war meist gut und die
Prognose günstig, wenn auch einzelne noch als gefährdet angesehen wurden.
Bei den 5 Psychopathen dieser Untergruppe lag ein stärkerer moralischer
Abfall vor, der in Verwahrlosung begründet war; sie gehörten der Kate¬
gorie der Haltlosen bzw. Willensschwächen an und waren in der Gefühls¬
sphäre nicht tiefer geschädigt. Die Haltung im Gefängnis war mangelhaft,
eine entscheidende Umkehr zur Besserung war nicht eingetreten, die
Prognose blieb daher zweifelhaft. Von diesen 11 Fällen sind 2 nicht
weiter bestraft worden, aber auch deren Führung war nicht einwandfrei.
Der eine verlor seine Lehre wegen Unredlichkeiten, der andere führte bis
zum Eintritt in den RAD. sexriell ein anstößiges Leben. Alle anderen
hatten noch weitere kleine Delikte begangen und Strafen von geringem
Umfang zu verbüßen. Als Beispiel der zuletzt besprochenen Gruppe kann
nachstehender Fall gelten:
Johann Sch., geb. Febr. 1915,
ist das 2. von 4 Kindern des Schreiners Sch. in R. Der Vater war mehrere
Jahre hindurch arbeitslos. Die Mutter, zur Zeit der Geburt des jüngsten
Kindes an Gehirngrippe erkrankt und fortan dauernd kränkelnd, suchte im
Jahr 1935 in einem Anfall von Schwermut den Tod im Rhein. Seither
versorgt eine jetzt 16jährige Schwester den Haushalt. Sch. selbst lernt
3 Jahre als Schreiner, kann aber die Gesellenprüfung nicht ablegen, da der
Vater, damals auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen, das Prüfungsgeld
nicht aufzubringen vermag. Da um dieselbe Zeit auch die Lehrfirma
bankrott geht, ist er arbeitslos bis April 1934, dann findet er Beschäftigung
als Schreiner. Das heimatliche Bürgermeisteramt spricht ihm keinen guten
Ruf zu, aber mangelnden Fleiß und leichtsinniges Wesen; das letztere
bekennt er selbst von sich.
Daß der in so bedrückten Verhältnissen aufgewachsene, früh mit der
Not der Arbeitslosigkeit vertraut gewordene junge Mann mit 15 Jahren sich
für die KJV. (Komm. Jug. Ver.) gewinnen ließ, ist bei den damaligen
Verhältnissen im dortigen Industriegebiet nicht weiter verwunderlich, zumal
sich auch 2 seiner Brüder in der kommunistischen Bewegung betätigten.
Er sei, so gibt er an, für diese Organisation dadurch geködert worden, daß
man sie ihm als „Wanderklub“ schilderte; „ich wäre damals genau so gut
in eine nationalsozialistische oder Sozialdemokratische Jugendgruppe
gegangen, wenn ich dort hätte wandern können, aber der Zufall wollte es
261
anders“. Im Mai 1933 zieht er sich eine 1. Gefängnisstrafe von 6 Wochen
zu wegen Tragens eines verbotenen Abzeichens; die Verbüßung wurde ihm
aber ausgesetzt.
Daß er wegen Teilnahme an hochverräterischen
Unternehmungen bis in den Sommer 1934 hinein zu 1 Jahr 9 Mon.
Gef. verurteilt werden mußte, daß er im Juli 1934 fristlos bei Fa. 0. ent¬
lassen wurde, weil er im Fabrikabort staatsfeindliche Äußerungen ange¬
schrieben hatte, zeigt immerhin, daß die Gesinnung.sdressur in jenem
„Wanderklub“ ihre nachhaltigen Früchte getragen hatte.
In unserer Anstalt hat er sich gut gehalten, als Reiniger auf seinem
Stock vorbildliche Ordnung geführt und auch als Beifahrer die Anerkennung
seines Wachtmeisters gefunden. An seiner schlappen Haltung und geringen
Lebensart traten wohl die Mängel der Kinderstube in die Erscheinung,
doch zeigte besonders sein nachdrückliches Bemühen um die Wieder¬
erlangung der WehrwTirdigkeit, daß es ihm an Ehrgefühl und Einordnungs¬
willen nicht fehlte. Seinen Reinigerposten nützte er freilich reichlich zum
Schwatzen aus, mußte daher von diesem Posten enthoben werden.
Bei der Beurteilung seiner politischen Betätigung in der Vergangen¬
heit und bei der Abschätzung seines mutmaßlichen Verhaltens
inderZukunft wird man ihm seine jugendliche Unreife, die mißlichen
häuslichen Verhältnisse, die ganz und gar kommunistisch gefärbte Umwelt,
den Einfluß der Verhetzungsarbeit in der Jugend zugute halten müssen,
ebenso auch den Umstand, daß er schon vor seiner Verhaftung sich nicht
mehr kommunistisch betätigt hatte, sowie sein offenes und reuiges
Geständnis vor Gericht. Er gibt an, gründlich vom Kommu¬
nismus kuriert zu sein. Sein Verhalten während der Strafzeit
wies keine Züge von offener oder geheimer Auflehnung gegen Ordnung,
Bestand und Weltanschauung des heutigen Staates auf. So ist kaum zu
besorgen, daß er sich irgendwie noch einmal unter den heutigen Verhält¬
nissen in staatsgefährdendem Sinne betätigen wird. Wenn freilich der
Bestand des Staates jemals von außen oder von innen her ernsten Proben
ausgesetzt wäre, so würde auf Leute seiner politischen Vergangenheit und
Herkunft so viel und so wenig Verlaß sein wie auf die überwiegende
Mehrzahl aller entlassenen Strafgefangenen, die wegen politischer
Vergehen verurteilt wurden, mit geringen Ausnahmen.
Soziale Führung: März 1939 wegen gefährlicher Körperverletzung zu
4 Monaten Gefängnis verurteilt, nach Strafverbüßung zur Wehrmacht
eingezogen, wo er sich jetzt noch befindet.
V. Schlechter Ausgang (100 Fälle)
Die angeschlossenen Tabellen für diese Gruppe sind naturgemäß in
erster Linie mit den Fällen der Gruppe 2 zu vergleichen, denen sie auch in
der Gesamtsumme nahe stehen. Hinsichtlich der erblichen Belastung zeigt
die unten gegebene Zusammenstellung höhere Kriminalität der Familie bei
den Fällen mit schlechtem Ausgang. Ein wesentlicher Unterschied liegt
auch darin, daß bei ihnen (Tabelle 3) weitaus die Mehrzahl in ihrer
Kriminalität auf der Anlage beruht, während Gelegenheits- und Pubertäts¬
delikte stark zurücktreten. Demgegenüber waren bei der 2. Gruppe
(Tabelle 2) die Anlagefälle nur wenig zahlreicher als die Gelegenheits¬
und Pubertätsdelikte. Endlich erwiesen sich die Fälle mit ungünstigem
Ausgang fast durchgehend als vorbestraft, während jene von gutem Aus¬
gang bei zweifelhafter Prognose nur zur Hälfte vorbestraft waren.
Gegenüber den Fällen der 2. Gruppe mit 31,4 % psychisch intakten
handelt es sich auch hier fast durchaus um anomale Persönlichkeiten
(90 %). In der Art der Anomalien findet man einen großen Unterschied.
Bei den Fällen der 2. Gruppe stand Haltlosigkeit weitaus an erster Stelle,
262
während bei den Fällen mit schlechtem Ausgang moralische Minder¬
wertigkeit dominierte.
Qefühlsarmut als wesentliches Charakteristikum kam in ihr weniger
häufig vor, da sie meist mit moralischer Minderwertigkeit kombiniert war.
Debilität war in beiden Gruppen annähernd gleich vertreten, bei der 6. aber
meist mit moralischer Minderwertigkeit gepaart. Von Interesse erscheint,
daß in der 5. Gruppe die hyperthymen Persönlichkeiten prozentual
niedriger als in der 2. Gruppe sind, dagegen kommen in jener auch Hoch¬
stapler vor. Als neue Form treten in der 5. Gruppe die Vagabunden¬
naturen auf.
Eine besondere Betrachtung verdienen jene Fälle, bei denen Prognose
und Endausg^ng differieren. Dies fand bei 38 Fällen statt, während bei
den übrigen auch die Prognose schlecht war.
Tabelle 3
Art des Delikts
Hehlerei
Raub ....
Wilderei
Sittlichk.-Verbr.. 16 ) 2 1
Zuh ältere! .
Körperverletzung
Meuterei .
Wehrpfl. En tziehung
Sunune:
Strafdauer
Alter
36
2
Monate
2
(bei
Strafantritt)
13
09 00
3
II
12
16 Jahre:
2
1
1
B
..
4
5
1*
II
10
7
17
18
II
II
3
16
2
“s
6
II
13
19
II
23
23
7
II
8
20
II
30
2
8
II
6
21
II
11
® p ® ö
9
•I
5
22
II
5
10
1 Jahr
4
9
23
24
II
• I
4
6
3j
, I
O 0)
in 0}
1 -
V.it
- 1^ Jahre
— 2 Jahre
18
3
Summe:
100
1
•a
^ C B ^
2 -
- 3 Jahre
3
_^J
O 3»
B*0
3 -
— 4 Jahre
0
100
Summe:
100
81
Psychisch intakt 6
i
Psychopathen
Pubertätsdelikte
Summe: 100
Psychopathen ... 79
Debile . 11
unbestim mt . 4
Summe: 100
haltlos. 16
willensschwach ... 16
selbstunsicher ... 2
hyperthym . 3
Hochstapler . B
explosibel . 3
gefühlsarm . 9
moral, minderw. 23
V agabun dennat. 3
Summe: 79
Uneingeschränkt günstig lautete die Prognose allerdings
nur in 4 Fällen- Einer davon war wegen eines politischen Vergehens, näm¬
lich Anwerbung zu ausländischem Heeresdienst, Wehrpflichtentziehung und
Paßvergehens zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Seine erste Strafe
erhielt er vier Jahre vorher, nämlich mit 18 Jahren wegen Waffen¬
mißbrauchs. Nach seinem Verhalten im Gefängnis war er als psychisch
und moralisch intakt zu bezeichnen. Auffälligerweise lagen seine weiteren
Delikte auf einem ganz anderen Gebiete, nämlich Betrug und Urkunden¬
fälschung. Wir sehen diese Persönlichkeit also noch im 26. Jahre eine
ganz andere Entwicklung nehmen. Der Zusammenhang blieb leider
verschlossen, da die NSV nur Lösung vom Eltemhause feststellen konnte.
263
Als ^nstig lautete die Prognose in einem weiteren Fall, welcher wie der
erste unbelastet und aus geordneten Verhältnissen stammte. Nach guten
Schulerfolgen erlernte er das Bäckerhandwerk, verging sich als Bäcker¬
geselle an einem 1314jährigen Mädchen und wurde dafür zu einer
Gefängnisstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt. Sein Verhalten im
Gefäng^s war völlig einwandfrei, man fand hier in ihm einen intelligenten,
gefühlswarmen, seelisch differenzierten Menschen, der affektiv leicht an¬
sprach, verträglich und aufrichtig war. Immerhin mußte aber eine
Neigung zu Oberflächlichkeit verzeichnet werden; seine Führung war
jedoch so günstig, daß ihm ein Strafnachlaß gewährt werden konnte.
1939 wurde er zum Militär eingezogen und 1940 wegen unerlaubter
Entfernung zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch die zwei weiteren
Fälle kamen wegen Unzucht mit Kindern ins Gefängnis und galten als
Pubertätsdelikte. Der eine, durch einen haltlosen Vater belastet, zeigte
sich als weicher, femininer Junge (haltloser Psychopath), der im Gefängnis
willig, sauber war und starke Reue äußerte. Ein Jahr nach seiner
Entlassung wurde er wegen widernatürlicher Unzucht zu 6 Monaten
Gefängnis verurteilt. Frühjahr 1939 kam er zum RAD und 1940 zur
Wehrmacht. Der 4. Fall stammt väterlicherseits aus Trinkerfamilie, war
schwach begabt, verwahrlost, kam aber nicht in Fürsorgeerziehung. Im
Gefängnis zeigte er sich unreif, oberflächlich, gleichgültig. 1940 ist er
wegen Diebstahls und Urkundenfälschung zu 7 Monaten, 1941 wegen Dieb¬
stahls zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden.
In 8 Fällen war die Prognose nur mit Einschränkungen
günstig. Bemerkenswerterweise wurde in 2 dieser Fälle Einschlag zum
Hochstaplertum verzeichnet, der eine mit 19, der andere mit 20 Jahren
wegen Betrugs zu 4 bzw. 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Führung
im Gefängnis war in beiden Fällen gut. Charakterologisch waren intakte
Intelligenz, freundlich-verträgliches, gutmütiges Wesen, guter Wille und
gpite Vorsätze zu verzeichnen. Von negativen Seiten war in beiden Fällen
Willensschwäche festgestellt, in einem wurde Vergnügungssucht und
Kopflosigkeit vermerkt. Als Bedingung für die Erfüllung der günstigen
Prognose wurde feste Beschäftigung und Eintritt ins Heer angesehen.
Beide wurden jedoch im nächsten Jahre rückfällig.
3. A1 b e r t R., 18 Jahre alt, unehelich, nach Schulzeit in Radio¬
geschäft. Stahl, ging 1934 durch, ließ sich auf einem Schiff mitnehmen,
bestahl Kapitän, verübte Zech- und Einmietbetrügereien, daraufhin
Fürsorgeerziehungsanstalt, 18.7.1936 wegen Diebstahls, Betruges und Privat¬
urkundenfälschung ein Jahr Gefängnis. Hier in Gärtnerei fleißig, will
diesen Beruf weiter ausüben, gehorsam, willig, für Lob und Güte
empfänglich, unreif, zeigt sich noch als großes Kind, das Aufsicht braucht.
Diagno.se: Psychopathie, haltlos. Verwahrlosung. Weitere Führung:
Landarbeit % Jahre, dann zum RAD, 1938 wegen Zechprellerei 1 Jahr
Gefängnis. Für die letzten 3 Monate Bewährungsfrist. 2. 9. — 15. 11. 40
Fabrikarbeit, dann zum Heeresdienst.
4. W i 1 h e 1 m B., 19 Jahre alt. Aus kinderreicher Familie, weich
erzogen. Lernte Schlosser. 1936 wegen gefährlicher Körperverletzung
2 Monate Gefängnis. 1937 gelegentlich der Beschäftigung in Wohnungen
gestohlen, Geld in Gaststätten und Kinos verbraucht, zu 9 Monaten
Gefängnis verurteilt. — Im Gefängnis geordnet, fleißig, pünktlich, zurück¬
haltend, oberflächlich.
Diagnose: psychisch intakt, moralisch schwach. Gelegenheitsdelikt. Nach
Entlassung in der Arbeit nicht gut bewährt, dem Alkohol zugetan.
26. 10. 40 wegen Betrugs 1 Monat Gefängnis. Seit 9. 12. 1940 bei der
Wehrmacht. '
264
5, Friedrich B., 20 Jahre alt. Vater geisteskrank in Heil¬
anstalt. Er wurde von Mutter und Bruder verzogen. Hilfsschüler. Seit
1935 zahlreiche homosexuelle Delikte mit 7—18jährigen Jungen. 23. 11. 36
zu 5 Monaten Gefängnis wegen Sittlichkeitsverbrechens verurteilt. Im
Gefängnis kindlich, scheu, empfindsam, gutmütig, unselbständig, fleißig,
gewann an Selbstsicherheit, faßte die besten Vorsätze.
Diagnose: Psychopathie, intellektuell beschränkt, moralisch schwach.
Pubertätsdelikt. 13. 10. 1941 wegen widernatürlicher Unzucht zu 1 Jahr
Gefängnis verurteilt.
Keiner eingehenderen Diskussion bedarf ein Fall von Schwachsinn,
bei dem weitere Aufsicht indiziert war, welcher aber bei der Wehrmacht
gescheitert ist. Dagegen sollen 2 weitere Fälle ausführlich besprochen werden.
M. W., fr. Unteroffizier, geb. 20. 6. 13.
M’s Vater ist Bahnbeamter. Häufig wechselte die Familie infolge
Versetzung des Vaters den Wohnsitz. Ein Bruder des Gefangenen ist
Pfarrer, der andre Lehrer. Wie diese, sollte auch er eine gehobene Schul¬
bildung genießen, hatte aber eher Lust zum Handwerk und verließ darum
1930 das Gymnasium nach 6jährigem Besuch. Angesichts der damaligen
Schwierigkeiten, eine Lehrstelle zu finden, begab er sich auf das Gut
eines Freundes seines Vaters als Landwirtschaftspraktikant; doch sagte
ihm auf die Dauer die Arbeit in der Landwirtschaft nicht zu. Frühjahr
1933 trat er bei der Reichswehr ein, nachdem er vorher schon
Mitglied der SA und der NSDAP, gewesen war, überhaupt schon als
Schüler leidenschaftlich der nationalsozialistischen Bewegung angehangen
haben will. Beim Heer wurde er mehrfach versetzt. Sommer 1935 rückte
er zum Unteroffizier auf. In der letzten Zeit seines Dienstes war er als
Bataillonsschreiber beschäftigt.
Dem in einfachen Verhältnissen aufgewachsenen und infolge seiner
weichlichen Veranlagung zu Selbstzucht und Selbstbeschränkung wenig
fähigen jungen Mann wurde das Soldatenleben der Nachkriegszeit mit
seinen vielfachen Möglichkeiten und Versuchungen zum Verhängnis,
besonders seit er im Jan. 1935 eine N. N. aus X. kennen gelernt und sich
mit ihr dann auch verlobt hatte. Die sonntäglichen Fahrten zu ihr
und die angeblich großen Ansprüche des Mädchens kosteten viel Geld.
Er selbst wollte aber außerdem vor der Braut und ihren Angehörigen als
der große Herr mit aussichtsreicher Laufbahn dastehen, legte sich einen
für seine Verhältnisse viel zu üppigen Lebensstil zu, kaufte Radio,
Uniform, Motorrad auf Schulden, ließ sich vom künftigen Schwiegervater
unter dem Vorbringen, er habe Aussicht, Offizier zu werden, müsse das
Abitur nachholen, sei schon zu einem Offizierskurs einberufen, brauche aber
zu alledem reichlich Geld, mehrere beträchtliche Beträge von zusammen
1700.— leihen, tatsächlich in der Absicht, seine ihm über den Kopf
gewachsenen Schulden zu begleichen. Aus der immer enger werdenden
Schlinge suchte er sich durch Urkundenfälschung und
Betrügereien zu retten, bohrte sich aber nur immer tiefer in das
Verhängnis, schreckte zuletzt nicht einmal vor dem Diebstahl
eines Fahrrads zurück. Als ihm die Gläubiger auf den Leib
rückten, unterschlug er einen Brief seines Vorgesetzten, der sich beim
Kreisamt X. erkundigte, ob M’s Vorgeben, er be.sitze einen Erbhof und
habe eine große Erbschaft zu machen, der Wahrheit entspreche, und
verbarg diesen Brief bei sich. Mit ähnlichen Vorbringungen und gefälschter
Unterschrift eines nicht existierenden Rechtsanwalts fäuschte er eine
Firma, die ihm ein Motorrad verkauft hatte und es bezahlt haben wollte.
Auch gegen die Dienstgesetze verging er sich durch Urlaubschein¬
fälschung und unbefugtes Tragen der Feldwebelsuniform. Das Streben,
mehr zu scheinen, als er ist, durch großes Auftreten sich und anderen ein
Trugbild der eigenen Größe vorzugaukeln, nahm mit der fristlosen Ent¬
lassung aus dem Heeresdienst und mit der Verurteilung zu 1 Jahr
6Mon. Gefängnis durch das Kriegsgericht ein plötzliches, jähes Ende.
265
M. war die meiste Zeit in der Anstaltsdruckerei als Packer beschäftigt.
Er arbeitete ordentlich und pünktlich, wenn auch etwas langsam.
Eine gewisse Schwatzhaftigkeit fiel besonders anfangs übel an ihm auf.
Vom Militär her das Kommandieren gewöhnt, spielte er sich gern als
Vorgesetzter der Mitgefangenen auf. Sein Benehmen war höflich und sehr
freundlich, wenngleich an der Aufrichtigkeit seiner Haltung gelegentliche
Zweifel auftauchten. Er ist ein äußerst weicher Mensch, der sich nicht
weh tun will, im Wort größer ist als in der Tat. Seine Besserungs¬
versprechungen und Bekundungen innerer Festigung gingen im Gewände
einer peinlichen Überschwänglichkeit einher.
Seine Eltern haben sich rührende Mühe gegeben und auch die
Anstaltsfürsorge war reichlich damit beschäftigt, den Augiasstall seiner
Steuer- und kopflosen Lebensführung in der Militärzeit zu bereinigen; unter
erheblichen Opfern haben die Eltern seine Verpflichtungen gedeckt. Durch
Verwendung eines emer. Pfarrers im Zusammenwirken mit dem Anstalts¬
pfarrer ist dem M. die Einstellung in einer Fabrik in Aussicht gestellt
worden. Wenn er die für einen gescheiterten Soldaten nicht leichte Ein¬
reihung in den Arbeitsprozeß erreicht, war zu hoffen, daß er nach den
bitteren Lehren und Auswirkungen seiner früheren Lebensweise sich um-
.stellen und bescheiden und doch wohl nicht wieder straf¬
fällig werden wird. In seinem eigenen Interesse war aber zu
wünschen, daß sein Charakter m.ännlicher, geradliniger, lauterer und fester
werde, und daß die Tradition und das gute Erbgut der Familie sich auch
in seinem charakterlichen Erscheinungsbilde durchzusetzen vermöchte.
Rückfall: 31. 8. 39 Betrug, Unterschlagung, unberufene Titelführung
6 Mon. Gef., 9. 11. 39 Unterschlagung, Urkundenfälschung im Amte. Für
beides zusammen 1 Jahr 3 Monate Zuchthaus.
Soziale Führung: trotz aller Bemühungen eines Parteigenossen wieder
straffällig. Am 4. 6. 40 Strafe verbüßt, Aufenthalt unbekannt.
D. W., Schmiedlehrling, geb. 18. 9. 17.
D. hat eine freudlo.se Jugend gehabt. Ein Jahr nach seiner Geburt starb
seine Mutter an einer ihm unbekannten Krankheit. Des Vaters, eines
Schriftsetzers, 2. Ehe wurde geschieden; aus dieser und einer 3. Ehe
stammt je eine Stiefschwester. 1930 hat sich der Vater mittels Gas¬
vergiftung das Leben genommen. Darauf kam der eitern- und heimatlose
Junge, der heute weder mit der Stiefmutter noch mit deren Kindern irgend¬
welche Verbindung mehr hat, zu den Eltern seines Vaters, die eine Kohlen¬
handlung in Berlin betrieben, nach beendeter Schulzeit durch Vermittlung
des Arbeitsamts als Schmiedlehrling zu einem Meister nach M.,
wo er bis Dez. 1935 in Lehre stand und seine Gesellenprüfung mit
„genügend“ ablegte.
Während der Lehrzeit beging der in keinem geordneten Familienleben
•wmrzelndc und in erzieherischer Hinsicht vernachlässigte Junge mit anderen
zusammen seine ersten Diebereien (Bestand- und Zubehörteile
von Fahrrädern) und wurde zu 3 Mon. Gef. verurteilt, deren Verbüßung
ihm mit 3jähriger Bewährungsfrist ausgesetzt wurde und die darum, wie
gewöhnlich, ohne Eindruck blieben. Im Sommer 1935 schloß sich eine
Reihe weiterer Diebereien an, wobei dem D. die Verführung
durch einen Älteren teilweise zugute zu halten ist. Es handelte sich um
einen Einbruchs- und mehrere Gelegenheitsdiebstähle, bei denen ihm
verhältnismäßig geringe Werte in die Hand fielen (Handtasche, Bade¬
anzüge u. ä.). Am schwersten v.üegt, daß er schließlich seinem
Meister als Ersatz für das ihm vorenthaltene Taschengeld allerlei
Arbeitsgegenstände und auch 4 Ztr. Kohlen entwendete.
Hierauf vom Meister entlassen, wandte er sich wieder nach Berlin, wo
aber der Großvater in seinem Kohlengeschäft keine Arbeit für ihn hatte
und das Arbeitsamt, weil Sperrgebiet, ihn gleichfalls abwies; auch der
Versuch, zur See zu kommen, scheiterte an dem starken Andrang zu diesem
Dienst. So begab er sich denn auf die Wanderschaft, sei dabei
überall von den Meistern seines Handw'erks abschlägig beschieden worden.
266
kam bis Württemberg, wo er in M. wegen Entwendung kleiner Gebrauchs¬
gegenstände (Rasierzeug, Schuhkreme) festgenommen wurde und 14 Tage
Gefängnisstrafe verbüßte.
In F. fand er zuletzt doch Arbeit beim Straßenbau, wurde aber wegen
der in M. begangenen Diebstähle erneut festgenommen und zu einer Gef.-
Strafe von 1 Jahr 3 Mon. verurteilt; auch die Strafaussetzung für
seine 1. Strafe von 3 Mon. wmrde widerrufen. — Ein Gnadenerweis gab ihm
mit unerwarteter Plötzlichkeit die Freiheit (23. 9. statt 6. 12. 37).
D. hat sich in der Strafanstalt als anständiger, ordnxmgs-
liebender, arbeitswilliger, wenn auch beruflich nicht sehr geförderter junger
Mann gezeigt, auf Ordnung und Reinlichkeit gehalten und sich keinerlei Haus¬
strafen zugezogen. Er ist ein nicht unbegabter, ruhiger und überlegsamer
Mensch, an dessen kriminellen Verirrungen neben dem Moment der
Verführung vor allem die verworrenen häuslichen Verhältnisse, der Aus¬
fall einer geordneten Erziehung, der frühe Verlust der Eltern und die
nachmalige Heimatlosigkeit, späterhin auch eine gewisse Verwahrlosung
durch die Wanderschaft erhebliche Mitschuld tragen. Er hat in seinem
Lebenslauf und auch in persönlicher Aussprache den Willen kundgegeben,
wieder ein geordnetes Leben zu führen und ehrlich und redlich sein Brot
zu verdienen. Führung und Gesamteindruck berechtigen zum Glauben
an die Aufrichtigkeit dieses Vorsatzes, wenngleich seine etwas verhaltene
Art ein letztes Fragezeichen hinsichtlich der Beständig¬
keit nicht ganz unterdrücken ließ. Durch Vermittlung der Anstaltsfür¬
sorge hat er hier in Heilbronn bei einer gut beschäftigten Autoreparatur¬
werkstätte Arbeit als Wagenwascher gefunden; die Bemühungen, ihn als
Schmied unterzubringen, scheiterten zunächst an den Bedenken wegen
seiner Strafen. Doch soll dieses Ziel im Auge behalten werden. Gelingt
es, ihm wieder die Rückkehr in seinen erlernten Beruf zu vermitteln, so
\vird man jedenfalls gute Hoffnung bezüglich seines ehrlichen Fort¬
kommens hegen dürfen, zumal er nicht nur an Jahren, sondern auch an
Reife und Ein.sicht zugenommen hat.
Soziale Führung: er war späterhin bis 20. 9. 39 bei Berliner
Firma als Schmied tätig, dann Wehrmacht. Dort am 23. 12. 39 straffällig,
Ungehorsam im Felde, Hausfriedensbruch und Sachbe.schädigung. 2 Jahre
Gefängnis, Strafvollstreckung bis Ende des Krieges ausgesetzt.
Eine zweifelhafte Prognose bei schlechtem Ausgang war
in 26 Fällen gegeben. Es ist dabei besonders bemerkenswert, daß die
Mehrzahl dieser zu günstig eingeschätzten Fälle der Gruppe der Haltlosen
angehört, welche ja naturgemäß einen weiteren Spielraum von Ent-
w'icklungsmöglichkeiten bieten als andere, charakterologisch schärfer
umrissene Formen von Psychopathen. Bei diesen 16 Fällen von Haltlosen
traten Vorstrafen qualitativ und quantitativ nicht derart in Erscheinung,
daß man ausgesprochene kriminelle Neigungen feststellen konnte; viel¬
mehr waren fast stets exogene Faktoren bei der Entwicklung der
Kriminalität beteiligt und auch Pubertät und Verwahrlosung spielten eine
Rolle. Das Charakterbild zeigte neben bedenklichen auch positiv zu
wertende Züge, deren Entfaltung zu Hoffnungen berechtigen konnte; und
in diesem Sinne ließ sich auch in den Fällen, bei denen dem Strafvollzug
ausreichender Spielraum geboten wurde, im Gefängnis eine Besserung
beobachten. Bei einem Bestraften, der aus dem Gefängnis in eineErziehungs-
anstalt kam, wurde ein Fortschritt von der Fürsorgeerziehung erwartet.
Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß 4 von diesen Fällen
im Kriegsdienst gescheitert sind und zwar durch Delikte, die im Rahmen
der psychopathischen Konstitution lagen. Der eine wurde wegen Feigheit
im Felde und Fahnenflucht zu mehreren Jahren Zuchthaus, 2 wegen
unerlaubter Entfernung mit Gefängnis, 1 wegen Plünderung zu 5 Jahren
Zuchthaus verurteilt.
267
Die prognostischen Überlegungen, zu denen die hier besprochenen
Fälle Anlaß geben, können aus den folgenden Darstellungen von zweien
ihrer Vertreter entnommen werden.
W. L., Drogist, geb. 15. 8. 14.
Der Vater war Schlosser und fiel 1915 im Weltkrieg. Bis zur
2. Verheiratung der Mutter mit einem Werkmeister, der jetzt im Ruhe¬
stand lebt und allerlei Ehrenämter bekleidet, wurde der Junge in den
ersten 10 Jahren seines Lebens von Mutter und Großeltern erzogen,
besuchte die Oberrealschule bis zur mittleren Reife (1931). Sowohl den
Eltern wie auch der Schule habe der schwererziehbare Bub viel Mühe
bereitet; einmal sei er vom Schulweg nicht nach Hause gekommen und
mehrere Tage ausgeblieben. Frühjahr 1931 trat er eine kaufmännische
Drogistenlehre an, besuchte die Drogistenfachschule, legte nach 3 Jahren
die Drogistenprüfung und die Kaufmannsprüfung angeblich (!) mit „sehr
gut“ ab, war sodann 6 Mon. in einer Drogerie, dann weitere 6 Mon. in
einem anderen Geschäft tätig, worauf er sich (Frühjahr 1935) zum freiw.
Arbeitsdienst begab. Von dort wurde er mit der Note „sehr gut“ als
Vormann entlassen und ihm bezeugt, daß er in der Abteilung einer der
besten Leute gewesen sei, ehrlich, korrekt, pflichtbe\vußt, zuverlässig bis
ins kleinste, stets ein Vorbild für alle Kameraden. — Kurz vor dem
Eintritt in den Arbeitsdienst hatte er sich der Veruntreuung von Toilette¬
artikeln in der Y-Drogerie schuldig gemacht und wurde darum wegen
Diebstahls zu einer Gesamtstrafe von 3 Woch. Gef. verurteilt, die
er in Untersuchung.shaft verbüßte. Anschließend gründete er mit einem
Teilhaber eine Fabrik photographischer Bedarfsartikel unter Einlage von
2000.— (-R'H,-, da keiner der beiden etwas von der Branche verstand, ging
das Unternehmen bald in die Brüche und W’s Geld war dahin
(Ostern 1936).
Als ihm nun ein Bekannter in Z. die Vermittlung einer Stellung in den
K.-Werken in Aussicht stellte, wandte er sich ohne hinreichende Barmittel
dorthin, erreichte indessen das erhoffte Ziel nicht, machte in einer Pension
Miet- und Verpflegungsschulden in Höhe von 181,50
Um kreditwürdig zu erscheinen, gebrauchte er allerlei Lügen und mi߬
brauchte vor allem die ))-Uniform, die zu tragen er seit seinem Ausschluß
aus der i) wegen Interesselosigkeit (1935) nicht mehr berechtigt war. In
seiner Notlage an den gutsituierten, aber respektvoll gescheuten Stief¬
vater sich zu wenden, verbot ihm falsches Ehrgefühl. Wegen Betrugs,
begangen unter Mißbrauch der H-Uniform, wurde er unter Anwendung des
Heimtückegesetzes zu 8 Mon. Gef. verurteilt.
Die Schuld an seinem Scheitern sieht W. selbst in der allzu nach¬
sichtigen Erziehung durch Großeltern und Mutter, welch letztere gegen
ihr einziges Kind viel zu nachgiebig gewesen sei und übertriebene
Vorstellungen von seinen Fähigkeiten und seinem Können in ihm genährt
habe, die dann in der Prüfung des nüchternen praktischen Lebens jämmer¬
lich zuschanden geworden seien.
\
Er will sich aus seinen Erfahrungen eine Lehre ziehen und auf dem
Boden der Selbsterkenntnis und Selbstbescheidung ein ehrliches Leben
beginnen. Seine wie im Arbeitsdienst so auch im Jugendgefängnis durch¬
aus lobenswerte Führung gibt der Hoffnung Raum, daß ihm dies gelingen
möge. Er findet, wie er sa^, bei einem Bekannten, der eine Wanzen¬
vertilgungsanstalt betreibe, in N. nach der Entlassung Beschäftigung.
Freilich geben die ohne jede Not begangenen Veruntreuungen, zumal schon
früher der Verdacht der Untreue und des Diebstahls auf ihn gefallen war
und ein Onkel ihm aus diesem Grund das Haus verboten hatte, Anlaß zu der
Besorgnis, daß eine gewisse, in seiner Anlage wurzelnde und durch die
zu weiche Erziehung noch geförderte Haltlosigkeit und Energieschwäche
in Verbindung mit dem von der Mutter in ihm geweckten Größen-
268
bewußtsein die tiefste Quelle seiner Entgleisungen sein könnte. Sein
ausgesprochen leptosomer Körperbau (schmächtig, ungewöhnlich hager,
langgliedrig) legt den Rückschluß auf eine entsprechende Artung der
seelischen Innenseite nahe.
Rückfall: 9. G. 37 Diebstahl, 3 Monate Gefängnis. 10.10.39 vom Feld¬
kriegsgericht verurteilt wegen Plünderung zu Todesstrafe, umgewandelt in
5 Jahre Zuchthaus, Ehrverlust und wehrunwürdig erklärt.
R. F., Fabrikaxbeiter, geb. 30. 10. 16.
Unter den 7 Kindern des Gipsers R. ist der Sträfling das zweite. Die
Eltern leben in dürftigen Verhältnissen. Zu einer beruflichen Ausbildung
der Söhne fehlte das Geld, zu geordneter Erziehung die Zeit und wohl auch
das Geschick. So mußte nach der Schulentlassung auch der Sträfling in
die Fabrik gehen. Er scheint in der Spinnerei, in der er 314 Jahre an der
Maschine stand, ein wegen seiner gleichmäßigen Zuverlässigkeit
geschätzter Arbeiter gewesen zu sein. Sein Privatleben bewegte sich in
den enggesteckten Schranken eines Textilarbeiterdaseins. Ausschweifungen
und Genüsse lagen fernab von seiner stillen, eingezogenen Art. Geistige
V/erte waren ihm durch die mäßige Höhenlage seiner Begabung und die
begrenzte Weite seines Horizonts verschlossen. Aus den Quellen der
Natur Freude in sein eintöniges Dasein hereinzunehmen, verwehrte ihm
die geringe Ansprechbarkeit seines Gemüts. So war es für ihn ein großes,
den engen Ring seines gewohnten Daseins sprengendes Erleben, als ihm
der ältere und geriebenere D. die Kunst des Autofahrens bei¬
brachte. Den tagsüber in den Maschinensaal gebannten jungen Arbeiter
ergriff der Rausch der Weite und des Tempos, und rasch verfiel er der
unter der Jugend mehr und mehr zunehmenden Krankheit unseres
motorisierten Zeitalters, der Benzinseuche. Als dann in K. parkende
Wagen in erheblicher Anzahl verschwanden und in der näheren oder
ferneren Umgebung herrenlos und meist weniger oder stärker beschädigt,
mit erbrochenen Wagentüren aufgefunden wurden, war es mit der kind¬
lichen Bewegungsfreude und -freiheit dahin. R. und sein Schwarzfahr¬
lehrer sowie eine Anzahl weiterer gelehriger Eleven — im ganzen standen
ihrer 15 vor den Schranken des Gerichts — landeten im Gefängnis. Ihm
seihst wurden 21 Fälle der Entwendung und unbefugten
Benützung von Kraftfahrzeugen nachgewüesen, zudem der
Diebstahl eines Mantels und eines Photoapparats aus einem der
ge.stohlenen Waagen. Schon einmal war er wegen eines Autodieb.stahls zu
1 Mon. Gef. verurteilt gewesen. Das diesmalige Urteil machte mit
2 Jahren 2 Mon. Gef. gründliche Arbeit.
Im Gefängnis fand R. wieder Anschluß an seine frühere
Lebensform und Wesensart. D. h.: er nahm die Verpflichtung zu ein¬
töniger Arbeit (Weberei) mit selbstverständlicher Bescheidung hin, ging
lautlos, ohne je aufzufallen, durch den Gleichlauf der Tage, lobte die
kräftige Anstaltsko.st im Gegensatz zur gewohnten Dürftigkeit daheim,
war immer höflich, anständig, dankbar für jede Teilnahme, die man ihm
erwies. Man hat sein Wesen als „zurückhaltend“ und „undurchsichtig“
bezeichnet, doch trifft diese Kennzeichnung wohl am wdrklichen Sachverhalt
vorbei. Er hat nichts in sich, was er zurückhalten und verschleiern
könnte, denn er ist arm an Geist, Gemüt und Willen, ein farbloser, kraft¬
loser und weithin lebloser Mensch von geringem Eigengepräge, körperbau¬
lich leptosom, seelisch mit einem psychasthenischen Einschlag behaftet.
Magenbeschwerden und später Sch\vindel- und Schwächezustände, von
gelegentlicher gedrückter Stimmungslage begleitet, erwiesen die geringe
Vitalität des hageren, hochaufgeschossenen, blassen Burschen. Er hat aber
gegen diese Symptome tapfer angestanden und es abgelehnt, sich ihrethalben
zum Arzt zu melden. Seine gute Führung und Haltung hat ihm die
Versetzung in die 2. Gefangenenstufe und die erfolgreiche Fürsprache für
sein Gnadengesuch eingetragen.
R. ist ein gutartiger, gutgewillter, aber mangelhaft erzogener Mensch,
leicht beeinflußbar und situativer Verführung enorm zugänglich. Er ist
26 Ö
jedoch auch merklich reifer geworden und hat sich bei dem Ikarusflug aus
der ihm gesetzten Lebensenge zu einem größeren Lebensstil hinauf so
die Flügel verbrannt, daß er wohl künftig am Boden bleiben, d. h. sein
Fabrikarbeiterleben in Ehren führen dürfte. Guter Wille dazu und
Einsicht sind da und die Strafe hat ihre abschreckende Wirkung nicht
verfehlt. — R. wurde, da seine frühere Firmg. ihn wegen Materialknappheit
nicht mehr einstellon kann, dem Arbeitsamt und der Entlassenenfürsorge
mit besonderem Nachdruck anempfohlen. Bekommt er Arbeit, so ist ein
R ü ck f a 11 in das frühere Treiben bei dem arbeitswilligen und brauch¬
baren Menschen wenig wahrscheinlich.
Rückfall: 4. 5. 38 Diebstahl, Fahren ohne Führerschein, 10 Monate
Gefängnis. 6. 7. 30 Diebstahl i. R., 1 Jahr 6 Monate Zuchthaus. Bei
Verbüßung dieser Strafe ist er ausgebrpchen und hat Kraftwagen
entwendet.
Den Fällen von Haltlosigkeit stehen 3 leicht hyperthyme und unreife
Jungen nahe, bei denen noch eine günstige Weiterentwicklung möglich
erschien.
Zweifelhaft war die Prognose bei drei Sittlichkeitsverbrechem, deren
einer ein Pubertätsfall war. In einem anderen Falle svurde der Zusammen¬
hang mit einem Alkoholexzeß erkannt; im 3. bestand leichter Schwachsimi,
seine Behütung schien zunächst durch ein hochstehendes Elternhaus sicher¬
gestellt. Der Rückfall erfolgte erst während des Kriegsdienstes. In
einem weiteren Fall leichter Debilität, welcher der Verwahrlosung verfallen
war, wurde das fernere Schicksal als Frage des künftigen Milieus erklärt.
Ein interessanter Fall unserer Gnippe verdient gesonderte Besprechung.
H. J., geb. 1. 1. IG, ist das jüngste unter den 8 Kindern des Sattlers
H. J. 6 der Geschwister sind verheiratet. Der Vater nahm sich im
Sommer 1931 in einem Anfall von Schwermut das Leben — dem Arzt
freilich gab der Sträfling als Todesursache „Blutvergiftung“ an —, scheint
auch Perioden übermäßigen Trinkens gehabt zu haben. Die Mutter schlägt
sich als Putzfrau und mit dem Ertrag ihrer bescheidenen Landwirtschaft
notdürftig durchs Leben.
Der Junge will nach der Schulzeit Tüncher werden, gehorcht aber dem
väterlichen Willen, der ihn sein eigenes, das Sattlergewerbe, entgegen
seiner Abneigung ergreifen hieß, das keiner der älteren Brüder erlernt
hatte. Er gab auch die Lehre nach 2 Jahren auf, war eine Zeitlang im
Elsaß als Fuhrknecht, zumeist aber in der häuslichen Landwirtschaft und mit
Waldarbeiten beschäftigt. Jedenfalls hatte er keine Arbeit, die seine junge
Kraft voll ausfüllte.
. So wairde er früh schon in einen Kreis von Wilderern hineingezogon.
Die ärmlichen Verhältnisse daheim und das Vorbild der älteren Brüder, die
beide gleichfalls wegen Wilddieberei bestraft sind, leisteten seinen ferneren
Entgleisungen Vorschub. So vmrde er schon im Juli 1933, 19jährig, mit
2 Mon. Gefängnis bestraft wegen schw. Jagdfrevels, zog sich im März 1936
eine weitere Strafe von 2 Mon. zu w'egen widernatürlicher Unzucht. Seine
jetzige Strafe von 1 Jahr 6 Mon. Gef. wegen f o r t g.
gewerbsmäß. Wilddieberei in der Gefolgschaft älterer und
erfahrener „Kollegen“ und wegen fortg. schw. Diebstahls
(Kartoffeln u. a.) verbüßte er vom Juni 1936 bis Aug. 1937 in unserer
Anstalt. Die letzten 3 Monate wurden ihm auf Grund eines Gnadengesuches
auf Wohlverhalten ausgesetzt. H. ist von ziemlich mäßiger Begabung.
Diese und die kümmerlichen Verhältnisse, vielleicht auch eine gewisse
erbliche Belastung von der Gemütsart des Vaters her gaben seinem Wesen
das Gepräge eines verschlossenen Charakters, über seine Taten sprach
er in seinen übrigens von großer Anhänglichkeit zeugenden Briefen an die
Mutter mehrfach tiefe Reue aus, die allerdings weniger den Taten selbst
als ihren einschneidenden Folgen für die eigene Person und für die
Angehörigen gegolten haben dürfte; im Lebenslauf bezeichnet er sie als
„Dummheiten“. Im Jugendgefängnis arbeitete er, wohin man ihn stellte
27Ö
(Mattengeschäft, Gärtnerei), mit gleichmäßigem und außergewöhnlichem
Fleiß, mit Willigkeit und Geschick, und zeigte sich dankbar dafür, daß er
arbeiten durfte. So wird man denn ein Großteil der Schuld an seinem
kriminellen Abgleiten der Tatsache zuschreiben dürfen, daß es ihm nicht
vergönnt war, einen ihm gelegenen Beruf zu erlernen und in geregelter und
befriedigender Arbeit zu stehen. Sein Benehmen gegen die Beamten, sein
Ordnungssinn und seine Einfügungsbereitschaft verdiente alles Lob, so daß
er auch nie eine Hausstrafe sich zuzog und in die 2. Gefangenenstufe
erhoben werden konnte. Der Riegel seines schwerflüssigen Innern hat sich
freilich nie ganz gelöst.
Er geht mit den besten Vorsätzen nach Hause in den landwirtschaft¬
lichen Betrieb der Mutter zurück. Ob aber diese guten Vorsätze und die
gute Haltung in der Anstalt die Probe der Rückkehr in das alte Wilderer¬
milieu und in die Luft des freien Waldes auf die Dauer bestehen werden,
läßt sich bei der bekannten Hartnäckigkeit des verbotenen Jägerdrangs
nicht Voraussagen. Gute Ansätze und guter Wille sind aber un¬
verkennbar vorhanden.
Rückfall; 8. 6. 38 Wilderei 1 Jahr Zuchthaus. Am 28. 2. 40 gestorben.
Exkurs:
Die Kriminalität der hundert Fälle mit ungünstiger Entwicklung nach
der Strafe
I. Das Vorleben (in Hinsicht der Kriminalität)
1. Die Vorstrafen hinsichtlich der Zahl (s.Tab.4)
Tabelle 4
Die Vorstrafen (Zahl) der hundert Fälle mit ungünstiger Entwicklung
(Zu I 1.)
Es sind:
von den
Eigentums
Bestr
elnf. 1
Dieb-; schw.
stahl Diebst.
wegen
j-Delikten
aften
Betrug 1
Urk.- 1 Zus.
Fälsch. 1
von den wegen Delikten
gegen die Person
Bestraften
1 vors. ^ '
situ. Körp.- Sonst. Summe
Vcrbr.| Verl, i I
von den
wegen
Ordnungs¬
delikten
Bestraften
Gesamtsumme
nicht
vorbestraft
5
i
2
4
11
6
j _
5
_
16
1 mal
vorbestraft
10
5
19
6
_
—
G
1
26
2—4 mal
1
1
1
1 1
vorbestraft
23
6
10 j
39
3
2
5
—
44
mehr als
1
4 mal
vorbestraft
4 i
1
4
9
3 1
1 1
—
4
1
14
42
13
23 1
78
17 1
3 1
— j
20
2
100
Von den 100 Gefangenen, deren Weiterentwicklung nach der im Jahr
1937 verbüßten Strafe ein ungünstiges Bild zeigt, sind:
a) nicht vorbestraft und haben also ihre kriminelle Lauf¬
bahn erst mit der 1937 verbüßten Straftat begonnen: 16
vorbestraft : . 84
b) Unter den 84 Vorbestraften hatten hier eine Strafe zu
verbüßen:
271
wegen eines Vermögensdelikts 67 (= 80 % der Vorbestraften)
wegen eines Delikts gegen die
Person . 15 (= 18 % „ „ )
wegen eines Ordnungsdelikts 2 (= 2 % „ „ )
c) Von den 78 unter den 100 unserer Gruppe, die hier wegen eines
Vermögensdelikts Strafe zu verbüßen hatten (s. Tab. 3),
sind vorbe.straft:
insgesamt: . 67 (=85,5 %)
darunter mehr als einmal: . 48 (=62,5 %)
Von den 20, die wegen eines Delikts gegen die Person hier
Strafe verbüßt hatten, sind vorbestraft:
insgesamt: . 15 (=75%)
darunter mehr als einmal: . 9 (=45%)
(Unter den 3 wegen Körperverletzung
Bestraften ist bezeichnenderweise überhaupt
keiner, der nicht mehr als 1 Vorstrafe hatte)
Die 2, die wegen Ordnungsdelikts hier Strafe verbüßten,
sind beide vorbestraft, 1 über 1 mal (sogar über 4 mal).
2. Die Vorstrafen hinsichtlich der Höhe
Die Gesamthöhe der Vorstrafen beläuft sich:
a) bis zu 4 Mon.
bei 11 der weg. Diebstahls
„ 9 „ „ Betrugs, Urk.-Fälsch.
„ 3 „ „ Sittl.-Verbr.
,, 1 „ „ Körperverletzung
„ 2 „ „ Ordnungsdelikten
b) zwischen 4—6 Mon.
bei 6 der weg. Diebstahls
„ 1 „ „ Körperverletzung
„ 0 „ „ Betrugs, Urk.-Fälsch.
„ 0 „ „ Sittl.-Verbr.
„ 0 „ „ Ordnungsdelikten
c) zwischen 6 Mon.—1 Jahr
bei 10 der weg. Diebstahls
„ 1 „ „ Betrugs, Urk.-Fälsch.
„ 0 „ „ sonstiger Delikte
d) zwischen 1—2 Jahre
bei 6 der weg. Diebstahls
„ 2 „ „ Urk.-Fälsch.
„ 0 „ „ sonstiger Delikte
e) zwischen 2—3 Jahre
bei 1 der weg. Körperverletzung
„ 0 „ „ sonstiger Delikte
f) zwischen 3—4 Jahre
bei 1 der weg. Diebstahls
„ 0 „ „ sonstiger Delikte
g) Keine Vorstrafen hatten aufzuweisen:
7 der weg. Diebstahls
4 „ „ Betrugs, Urk.-Fälsch.
5 „ „ Sittl.-Verbr.
0 „ „ sonstiger Delikte
Bestraften \ 20Vermög.-
„ ( delikte
„ \ 4 Person-
„ / delikte
Bestraften
ff
ff
ff
ff
Bestraften
ff
ff
Bestraften
ff
ff
Bestraften
ff
Bestraften
ff
Bestraften
ff
ff
272
h) Die übrigen 30 der Vorbestraften hatten Geld- und Haft- oder
anderweitige geringfügige Strafen, bzw. war, wie in einigen
Fällen, die Gesamthöhe der Vorstrafen nicht feststellbar.
Vergleichen wir die verschiedenen Deliktskategorien hinsichtlich des
Grades der Vorbestraftheit.
Relativ erheblich vorbestraft im Sinne der Zahl (mit mehr
als einer Vorstrafe) sind von den Vermögensverbrechern (d. h. denen, die
hier wegen eines Vermögensdelikts Strafe zu verbüßen hatten) 62,5 %,
von den Verbrechern gegen die Person 45 % (s. Tab. 4).
Mit insgesamt mehr als 6 Monaten, also relativ erheblich vorbestraft
im Sinne der Gesamt höhe der Vorstrafen sind von den Vermögens¬
verbrechern 21, also 27 % (der 78, die wegen Vermögensdelikten hier
Strafe verbüßten), hingegen nur 1 von 20, die wegen Vergehen gegen die
Person hier Strafe zu verbüßen hatten, also 5 %.
Dem Grade der Vorbestraftheit nach stehen also, auf die Zahl der
Vorstrafen gesehen,